Einleitung
Der Zusammenbruch der Islamischen Republik Afghanistan und die erneute Machtergreifung der Taliban im August 2021 haben die regionale Situation in Zentralasien drastisch verändert. Trotz dieser Zäsur war schnell erkennbar, dass die Afghanistan-Politik der zentralasiatischen Staaten nach 2021 mehr von Kontinuität denn einer grundlegenden Neuausrichtung geprägt sein würde. Usbekistan und Turkmenistan haben bereits Jahre vor dem Fall von Kabul inoffizielle Beziehungen zu den Taliban aufgebaut, weshalb sie sich gegenüber dem »Islamischen Emirat« von Anfang an kooperationsoffen gezeigt haben, jedoch ohne dabei von ihrer offiziellen Politik der Nichtanerkennung abzurücken. Hinter der Kontinuität in der usbekischen und turkmenischen Afghanistan-Politik stehen langfristige wirtschaftliche und geoökonomische Interessen, die vor allem auf den Ausbau der regionalen Vernetzung mit Südasien und die Intensivierung von Handelsbeziehungen mit Afghanistan und Pakistan abzielen. Nur Tadschikistan hat nach dem Fall von Kabul 2021 eine feindselige Rhetorik gegenüber den Taliban angeschlagen. Doch auch Tadschikistan verfolgt wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen in Afghanistan, weshalb die feindselige Rhetorik langsam einem pragmatischen Ansatz weicht, der Kooperation und Dialog mit den Taliban ermöglicht, ohne diese offiziell anerkennen zu müssen.
Usbekistan: regionaler Vorreiter einer proaktiven Afghanistan-Politik
Der Amtsantritt von Präsident Schawkat Mirsijojew im Jahr 2016 hat eine Kehrtwende[1] in der usbekischen Afghanistan-Politik eingeläutet, die im Kontext der allgemeinen strategischen Neuausrichtung des Landes verstanden werden muss. Mirsijojew hat den Isolationismus seines Vorgängers Islam Karimow beendet und Usbekistan seitdem als wichtigen außenpolitischen Akteur in Zentralasien etabliert. So wurden nicht nur die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, der EU, Russland und China erneuert, sondern auch zu einer konstruktiven Interaktion mit den zentralasiatischen Nachbarn, einschließlich Afghanistan, zurückgekehrt. Zwischen 2016 und 2021 hat Mirsijojew die bilaterale Zusammenarbeit mit Afghanistan u. a. in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft sowie im humanitären Austausch, in der Kultur und in der Bildung intensiviert. Zwischen Kabul und Taschkent wurden wieder Direktflüge angeboten und die Zollabwicklung am Grenzübergang Termes-Hairaton vereinfacht, was sich unmittelbar positiv auf die grenzüberschreitende Mobilität ausgewirkt hat.
Mirsijojews Afghanistan-Politik hat von Beginn an das Ziel verfolgt, Usbekistan über afghanisches Territorium mit iranischen und pakistanischen Seehäfen am Indischen Ozean zu verbinden. Der russische Überfall auf die Ukraine 2022 hat die Notwendigkeit der geoökonomischen Diversifizierung von usbekischen Transport- und Transitrouten weiter verstärkt, weshalb sich Taschkent seitdem besonders intensiv um einen Ausbau der infrastrukturellen Vernetzung mit Südasien bemüht – trotz der nicht anerkannten De-facto-Regierung in Kabul. Das wichtigste Projekt umfasst den geplanten Bau einer 600 Kilometer langen transafghanischen Eisenbahnstrecke von Termes über Masar-i Scharif und Kabul nach Peschawar, der Hauptstadt der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Die Strecke wird die Transportdauer usbekischer Waren zu den Weltmeeren von 35 auf drei bis fünf Tage verkürzen und die Transportkosten pro Container nach Karatschi sollen um mindestens 50 Prozent geringer ausfallen als für den Transport nach Bandar Abbas im Iran. Erst im April hat Kasachstan zugesagt,[2] sich am Bau der Eisenbahnstrecke zu beteiligen, was die gesamtregionale Signifikanz des Projektes unterstreicht. Eine weitere Eisenbahnstrecke soll von Masar-i Scharif nach Herat in Westafghanistan führen und dort an das iranische Schienennetz angeschlossen werden. Das Projekt wurde bereits 2019 beschlossen, doch konnte aufgrund der intensiven Kämpfe in Afghanistan bis 2021 nicht begonnen werden.
Ein weiteres zentrales Element der usbekischen Beziehungen mit Afghanistan ist der Stromexport, wobei Usbekistan der wichtigste Stromexporteur für Afghanistan ist (Afghanistan bezieht über 80 % der Stromenergie aus dem Ausland). 2018 wurde der Bau der Stromtrasse Surchan–Pul-i Chumri[3] beschlossen, konnte aufgrund der kritischen Sicherheitslage in Afghanistan bis 2021 jedoch nur auf usbekischer Seite vollendet (45 km) werden. Der Bau des 215 Kilometer langen Abschnitts in Nordafghanistan steht seitdem noch aus, allerdings wurden die Gespräche zur Realisierung des Vorhabens im Dezember 2021 wieder aufgenommen.[4] Die Trasse ist Teil des von der Asian Development Bank (ADB) finanzierten North-South Power Transmission Enhancement Project, das den Zusammenschluss der großen regionalen Stromversorgungsnetze zum Ziel hat.[5] So ist u. a. vorgesehen, die Lücke zwischen Baghlan und Kabul zu schließen und dadurch die nördlichen und südlichen Landesteile Afghanistans im Rahmen des TUTAP (Turkmenistan–Usbekistan–Tadschikistan–Afghanistan–Pakistan)-Netzes zu integrieren.[6] Parallel dazu soll im Rahmen des Central Asia-South Asia power project (CASA-1000)[7] eine inter-regionale Hochspannungstrasse gebaut werden, über die Strom von Kirgistan und Tadschikistan nach Afghanistan und Pakistan exportiert werden soll. Nachdem die Weltbank die Finanzierung von CASA-1000 im Kontext der Taliban-Machtergreifung ausgesetzt hatte, wurde im Januar 2024 die Wiederaufnahme des grenzüberschreitenden Projektes angekündigt.[8]
Besonders deutlich zeigt sich die auch nach 2021 anhaltende Kontinuität der usbekischen Afghanistan-Politik in der weiter zunehmenden Intensivierung von Handels- und Wirtschaftskontakten. Allein 2023 fanden mehr als 20 Treffen mit afghanischen Wirtschaftsvertretern statt, wobei sich u. a. auf usbekische Investitionen in Kohleabbau sowie den Bau von Kohlekraftwerken und Zementfabriken in Afghanistan geeinigt wurde. Im April 2024 wurden beim Besuch einer Delegation afghanischer Unternehmer in Taschkent Exportverträge über 44 Mio. US-Dollar abgeschlossen. Das usbekisch-afghanische Handelsvolumen betrug 2023 etwa 900 Mio. US-Dollar und soll bis 2025 auf 1,5 Mrd. US-Dollar ansteigen – wobei sich die usbekische Regierung und die Taliban bei dieser Zielmarke an einem bilateralen Abkommen mit der Islamischen Republik Afghanistan von 2017 orientieren. Der potenzielle Wert des afghanischen Absatzmarktes für usbekische Exporte – v. a. Landwirtschaftserzeugnisse, Textilien und Leder sowie Elektrobauteile und Baumaterialien – wird auf sieben Mrd. US-Dollar geschätzt. Ein Drittel aller afghanischen Importe gelangt über Usbekistan ins Land. Anfang Juli 2024 berichteten afghanische Medien über eine Einigung der autorisierten Vertreter Usbekistans und Afghanistans zur Einrichtung einer gemeinsamen Handelskammer.[9]
Schließlich verfolgt Usbekistan mit dem eigenen Engagement in Afghanistan auch nationale Sicherheitsinteressen und handelt dabei nach der Überzeugung, dass die regionale Stabilität eng mit der Sicherheitslage in Afghanistan verknüpft ist. So sprach Außenminister Bachtijar Saidow im Rahmen des vierten Außenministertreffens der Anrainer Afghanistans im April 2023 davon, dass die Hauptlast für die Rehabilitierung der afghanischen Wirtschaft und die Leistung humanitärer Unterstützung nolens volens bei Usbekistan läge.[10] Dies erklärt auch die usbekischen Bemühungen, das »Islamische Emirat Afghanistan« unterhalb einer diplomatischen Anerkennung in regionale Integrationsprozesse einzubinden. So hat Taschkent die mittlerweile regelmäßig stattfindenden Dialoge der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Afghanistan initiiert und spricht sich gegenüber der internationalen Gemeinschaft für die Forderung der Taliban aus, afghanisches Staatsvermögen freizugeben, das von den Vereinigten Staaten und der EU 2021 eingefroren wurde. Bei einem Besuch in Kabul im März 2023 äußerte sich Saidow afghanischen Nachrichtenagenturen zufolge anerkennend gegenüber den Bemühungen der Taliban-Regierung, Sicherheit zu gewährleisten und die Drogenwirtschaft zu bekämpfen.[11] Auch versicherte er den Taliban, Afghanistan »nie aufzugeben« und stattdessen die bilateralen Beziehungen zugunsten der regionalen Stabilität weiter ausbauen zu wollen; Das ökonomische Erstarken Afghanistans sei im Interesse aller. In dieser usbekischen Diplomatie gegenüber Kabul zeigt sich schließlich auch eine bewusste Zurückhaltung beim Ansprechen von Fragen mit offensichtlichem Konfliktpotenzial. Zum Beispiel verzichtet Taschkent bisher (noch) auf eine übermäßige Thematisierung des sich aktuell in Bau befindlichen Kusch-Tepa-Kanals in Nordafghanistan, der den usbekischen – und auch turkmenischen – Interessen hinsichtlich der Nutzung von regionalen Wasserressourcen eindeutig zuwiderläuft.[12]
Turkmenistan: Öffnung für außenwirtschaftliche Kooperation
Wie Usbekistan scheint auch die turkmenische Regierung das Konfliktpotenzial, das mit einer intensiveren Wassernutzung durch die afghanische Seite einhergeht, mittels Einbindung der Taliban in eigene Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte mindern zu wollen. Der seit 2022 amtierende Präsident Serdar Berdymuchamedow versucht, die seit drei Jahrzehnten praktizierte Selbstisolation Turkmenistans durch eine pragmatischere Außenpolitik zu ersetzen. Ein Merkmal dieser außenpolitischen Neuausrichtung ist ein gestärktes Interesse am Bau von neuer grenzüberschreitender Energieinfrastruktur, um die eigenen Erdgasabsatzmöglichkeiten zu diversifizieren und die hohe Exportabhängigkeit von China als mit Abstand wichtigstem Abnehmer zu verringern. Das in diesem Zusammenhang wichtigste Projekt ist die seit 1995 geplante Turkmenistan–Afghanistan–Pakistan–Indien-Erdgaspipeline (TAPI), für deren Verwirklichung Aschgabat und Kabul aktuell besonders eng zusammenarbeiten. Nachdem die Taliban ihr Gewaltmonopol in Afghanistan 2023 konsolidieren konnten,[13] haben sie im Februar 2024 den Baubeginn des afghanischen Abschnittes angekündigt. Im Mai haben sich Turkmenistan und Pakistan schließlich darauf geeinigt, das Projekt selber zu finanzieren, nachdem die ADB im März 2022 angekündigt hatte, ihre Unterstützung für das Projekt solange auszusetzen, bis die Taliban von der internationalen Gemeinschaft als Regierung Afghanistans offiziell anerkannt sind. Die aktuelle Übereinstimmung der turkmenischen, Taliban-afghanischen und pakistanischen Interessen hinsichtlich der TAPI verdeutlicht, dass keine der beteiligten Parteien länger gewillt ist, die Verwirklichung des Projekts von externen Faktoren abhängig zu machen.
Im August 2023 hat Aschgabat ein trilaterales Gipfeltreffen der zentralasiatischen Staats- und Regierungschefs der Nachbarländer Afghanistans ausgerichtet, um gemeinsame Interessen zu identifizieren und Möglichkeiten der Zusammenarbeit gegenüber und mit Afghanistan zu eruieren. Im März 2024 folgte eine umfangreiche Handelsmesse unter großer Teilnahme afghanischer Unternehmen. Das bilaterale Handelsvolumen wächst stetig und betrug im Jahr 2023 457 Mio. US-Dollar. Im Januar 2024 lag der Handel bereits bei 46 Mio. US-Dollar und damit zehn Prozent über dem Vergleichswert vom Januar 2023. Die turkmenischen Hauptexportprodukte nach Afghanistan sind neben Flüssiggas und Erdöl (die per Tanklastwagen exportiert werden) vor allem Elektrizität und Textilien. Am Grenzübergang Torghundi soll ein gemeinsames Logistikzentrum entstehen und in der westafghanischen Stadt Herat wollen Afghanistan, Turkmenistan und Kasachstan ein gemeinsames Logistikzentrum bauen, über das u. a. russisches Öl nach Südasien transportiert werden soll. Im Mai konnten sich turkmenische Baufirmen bei Gesprächen mit afghanischen Partnern in Herat Aufträge im Gesamtwert von 200 Mio. US-Dollar sichern, u. a. für den Bau eines Umspannwerkes und die Renovierung historischer Denkmäler in Herat.
Tadschikistan: von offener Feindseligkeit zu differenziertem Pragmatismus
Alle drei zentralasiatischen Nachbarn Afghanistans sehen sich durch militanten Islamismus und das Eindringen terroristischer Gruppen aus Afghanistan bedroht. In Afghanistan aktive und mit den Taliban verbündete Terrorgruppen wie die Islamische Bewegung Usbekistan oder die von ethnischen Tadschiken dominierte Jamaat Ansarullah erklären offen, die Regierungen in Taschkent und Duschanbe stürzen und durch ein Kalifat bzw. Emirat ersetzen zu wollen. Während Usbekistan und Turkmenistan dieser Gefahr bislang durch eine Mischung aus Engagement und Eindämmung begegnen, ist die Politik Tadschikistans deutlich defensiver und war den Taliban gegenüber bis 2023 gar offen feindselig. Der tadschikische Präsident Emomali Rahmon hat die Taliban im Gegensatz zu seinen zentralasiatischen Amtskollegen seit 2021 lautstark kritisiert und als illegitime Machthaber bezeichnet, da deren Regierung fast vollständig paschtunisch dominiert ist und selbst der großen tadschikischen Minderheit Afghanistans so gut wie keine Beteiligung einräumt.
Traditionell sieht sich Tadschikistan als Fürsprecher und Unterstützer der tadschikischen Bevölkerung Afghanistans. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat Tadschikistan den vom tadschikischen Kommandeur Ahmad Schah Massoud angeführten Aufstand gegen das erste Emirat der Taliban unterstützt, dessen Sohn Ahmad Massoud heute der Anführer der National Resistance Front ist. Aus dieser historischen Konstellation leitet Rahmon gemeinhin eine Tradition der Feindschaft zwischen Tadschiken und Taliban ab, wodurch sowohl die Abgrenzung von den Taliban erklärt als auch der eigene Patronstatus gegenüber den afghanischen Tadschiken legitimiert werden soll. Die Unterstützung für die afghanischen Tadschiken beschränkt sich in der Regel jedoch auf symbolische Fürsprache, was vor allem daran liegt, dass Rahmon im Gegensatz zu Usbekistan und Turkmenistan gegenüber Afghanistan deutlich stärker auf Eindämmung als auf Engagement setzt. So wurde die Grenze mit Afghanistan seit 2021 massiv weiter befestigt, während im Rahmen der russisch dominierten Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) eine ganze Reihe demonstrativer Militärmanöver abgehalten wurde, um Jamaat Ansarullah und den Islamischen Staat Khorasan-Provinz (ISKP) von militärischen Übergriffen auf tadschikisches Territorium abzuschrecken. 2023 ist es zu einem Vorfall gekommen, bei dem eine kleine Gruppe von Kämpfern der Jamaat Ansarullah versucht haben soll, den Grenzfluss Pandsch in das Autonome Gebiet Berg-Badachschan (GBAO) zu überqueren, doch von tadschikischen Grenzsoldaten in die Flucht geschlagen bzw. festgenommen werden konnte.[14] Manche Beobachter sind jedoch von einer Inszenierung ausgegangen, mit der die Versicherheitlichung der Grenze und die anhaltende Repression der als »extremistisch« deklarierten Opposition weiter legitimiert werden sollte.
Aller Versicherheitlichung zum Trotz verfolgt allerdings auch Tadschikistan weiterhin eigene wirtschaftliche und infrastrukturelle Interessen in Afghanistan, wie CASA-1000. Schließlich konnte Rahmon während der letzten zwei Jahre auch die Vorteile des pragmatischen Ansatzes von Usbekistan und Turkmenistan beobachten, weshalb er seine Afghanistan-Politik mittlerweile stärker an der seiner zentralasiatischen Amtskollegen orientiert. Seit 2023 ist die offene Feindseligkeit einem differenzierten Pragmatismus gewichen, der informelle Beziehungen mit den Taliban ermöglicht, ohne deren offizielle Anerkennung zu implizieren. Auch erlaubt dieser Ansatz, weiterhin die selbsternannte Exilregierung der Islamischen Republik Afghanistan im Land zu behalten. Noch während des Falls von Kabul im August 2021 sind Teile der afghanischen Armee und Regierung, darunter Vizepräsident Amrullah Saleh, nach Tadschikistan geflohen. Saleh beansprucht seitdem die Rolle des afghanischen Exil-Interimspräsidenten und der afghanische Botschafter in Duschanbe, Mohammad Zahir Aghbar, die seines Stellvertreters. Auch hat Saleh die bewaffnete National Resistance Front mitgegründet, deren in Afghanistan verbliebene Kämpfer er zusammen mit Ahmad Massoud aus dem tadschikischen Exil in ihren Einsätzen gegen die Taliban kommandiert. Rahmons differenzierter Pragmatismus ist offensichtlich opportunistisch motiviert und geht mittlerweile so weit, in Duschanbe weiterhin Salehs Exilregierung zu beherbergen, während das afghanische Konsulat in Khorugh, der Hauptstadt von GBAO, im März 2023 unter die Kontrolle der Taliban gestellt wurde.[15] Rahmon scheint sich damit für die Zukunft alle Optionen offenhalten zu wollen, auch wenn die tadschikische Afghanistan-Politik dadurch zunehmend inkohärent ist.
In wirtschaftlicher Hinsicht hat Tadschikistan jedoch seit Beginn der erneuten Taliban-Herrschaft einen klar pragmatischen Kurs verfolgt. Dieser Umstand ist hauptsächlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Duschanbe Afghanistan als wichtigen Absatzmarkt für Stromenergie erhalten und die damit zusammenhängenden Erlöse nicht verlieren möchte. Tadschikistan ist nicht zuletzt aufgrund seiner relativen geographischen Isolation das wirtschaftlich schwächste Land in Zentralasien. Vor diesem Hintergrund ist auch ein von den Taliban beherrschtes Afghanistan ein unverzichtbares Element für die weitere Erschließung von neuen Transitrouten für den Export von Strom und anderen Gütern nach Südasien. Ende Juli dieses Jahres wurde das mehr als zehn Jahre alte, bislang nur in Teilen außerhalb von Tadschikistan realisierte Projektvorhaben der Turkmenistan–Afghanistan–Tadschikistan (TAT)-Eisenbahnverbindung mit der Beauftragung einer Machbarkeitsstudie durch die tadschikische Seite wiederbelebt.[16] Von Südkorea finanziert wird die Verlängerung der Bahnlinie von Jaloliddin Balchi über Pandschi Pojon nach Kundus geprüft. Die Diversifizierung von Handelsoptionen via Afghanistan ist nach dem von tadschikischen Staatsbürgern auf die Crocus City Hall bei Moskau verübten Anschlag noch dringlicher geworden; laut der Weltbank[17] haben Rücküberweisungen im Jahr 2022 knapp 50 % des BIP von Tadschikistan ausgemacht, wovon 85 % von in Russland tätigen Arbeitsmigranten erwirtschaftet wurde.[18] Aufgrund der Sanktionen gegen Russland sind Rücküberweisungen 2023 deutlich auf einen Anteil von 38,4 % des BIP gesunken und dürften 2024 weiter zurückgehen, nachdem tadschikische Arbeitsmigranten zum Ziel rassistischer Kollektivbestrafung[19] für den Anschlag geworden sind und seitdem in größerer Zahl das Land verlassen. Die wirtschaftliche Belastung durch einen möglichen Rückgang der Rücküberweisungen machen die weitere Stärkung der Zusammenarbeit mit Afghanistan noch relevanter. Bereits im ersten Jahr nach der Machtübernahme der Taliban ist das Handelsvolumen zwischen Tadschikistan und Afghanistan um 38 Prozent gewachsen, allerdings im Jahr 2023 von 110 Mio. US-Dollar auf etwa 97 Mio. US-Dollar gefallen und damit um fast 12 % geschrumpft.[20] Um den wirtschaftlichen Austausch anzukurbeln wurden die seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Februar 2020 geschlossenen Grenzmärkte in GBAO im Herbst 2023 wiedereröffnet.[21] Das Groß des bilateralen Waren- und Transithandels wird jedoch sowieso nicht in GBAO, sondern über die Freundschaftsbrücke bei Scherchan-Bandar im Gebiet Chatlon (Provinz Kundus auf afghanischer Seite) abgewickelt.
Fazit: Zusammenarbeit mit Afghanistan als außenpolitische Lösung für innenpolitische Probleme?
Die jeweiligen bilateralen Beziehungen von Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan mit Afghanistan definieren sich durch geteilte Interessen in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Handel. Im Zentrum dieser Zusammenarbeit steht das Streben nach Zusammenarbeit. Im Zentrum steht das Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung und regionaler Stabilität mittels infrastrukturgestützter Etablierung von neuen Handels- und Verkehrsrouten zwischen Zentral- und Südasien. Schließlich hat die Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 das Ende von über 40 Jahren Krieg in Afghanistan markiert und damit zum ersten Mal seit Jahrzehnten der Instabilität und Unsicherheit eine präzedenzlose Möglichkeit zur Verwirklichung von lange geplanten grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekten geschaffen. Den drei zentralasiatischen Nachbarn ist dabei, zu einem unterschiedlichen Grad, die Vorstellung gemein, dass wirtschaftliche Integration und Sicherheit einander wechselseitig bedingen. So sieht Usbekistan in der Stärkung der afghanischen Wirtschaft eine grundlegende Voraussetzung für nachhaltige Stabilität in Afghanistan. Die Verbesserung der Lebensumstände für die breite Bevölkerung und die Schaffung von sozioökonomischen Perspektiven soll terroristischen Gruppen die Rekrutierungsgrundlage entziehen und somit die regionale Sicherheit erhöhen. Allerdings stärkt Usbekistan mit dieser Politik auch indirekt die Taliban, deren Regierung aufgrund der eklatanten und strukturellen Verstöße gegen die Grund- und Menschenrechte von vor allem Frauen und Mädchen international weiterhin nicht anerkannt wird.
Im Gegensatz zu Usbekistan stehen im Fall von Turkmenistan und Tadschikistan Fragen der Regimesicherheit stärker im Fokus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Afghanistan, wobei dschihadistische Gruppierungen wie Jamaat Ansarullah und ISKP nicht nur als allgemeiner regionaler Unsicherheitsfaktor gelten, sondern als direkte potenzielle Gefahr für den eigenen Machterhalt. Diese Gefahrenwahrnehmung hat selbst Tadschikistan dazu bewegt, die Notwendigkeit eines begrenzten diplomatischen Dialogs mit den Taliban anzuerkennen, wie die Übergabe des afghanischen Konsulates in Khorugh an die Taliban belegt. Duschanbe scheint sich mehr und mehr bewusst zu sein, dass die Ausbreitung des militanten Islamismus nicht allein durch Grenzverstärkungen oder die Isolation der Taliban aufgehalten werden kann, was auch durch den von tadschikischen Staatsangehörigen verübten Terroranschlag auf die Crocus City Hall verdeutlicht wurde. Diese offensichtliche Änderung in der Einschätzung der Situation resultiert jedoch nicht in einer Abmilderung der offiziellen Rhetorik gegenüber den Taliban oder dschihadistischen Gruppen im Allgemeinen. Dafür eignet sich die überzogene Rhetorik einer vom islamistischen Extremismus ausgehenden Gefahr viel zu gut als diskursive Ressource, um die anhaltende Repression der inländischen Opposition in Tadschikistan zu rechtfertigen und jegliche Abweichung von der offiziellen Regierungslinie zu unterdrücken. So ist die vom ISKP ausgehende Anziehungskraft für junge Tadschiken nicht auf eine generelle Neigung zu extremistischer Ideologie zurückzuführen, sondern auf ihre Desillusionierung mit der eigenen Regierung und einem der repressivsten Regime der Welt. Dieser Zusammenhang verdeutlicht, dass die Ursachen von Instabilität in Zentralasien nicht in Afghanistan liegen, sondern im Wechselspiel von wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit, sozialer Ungleichheit, korrupter Regierungspraxis und neopatrimonialem Autoritarismus. Jede Analyse zum islamistischen Extremismus in und aus Zentralasien muss unweigerlich berücksichtigen, dass die zentralasiatischen Regime zu einem unterschiedlichen Grad selbst integraler Bestandteil des ›Problems‹ sind, und das unabhängig davon, wer gerade in Kabul an der Macht ist.
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Verweise
[1] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/133/usbekistans-politik-gegenueber-afghanistan-ein-neuer-ansatz-fuer-ein-altes-problem/
[2] https://astanatimes.com/2024/04/kazakhstan-to-take-part-in-construction-of-trans-afghan-railways/
[3] https://tolonews.com/business/adb-pledges-70m-fund-surkhan-pul-e-khumri-power-line
[4] https://www.tashkenttimes.uz/economy/8093-uzbekistan-afghanistan-resume-talks-on-surkhan-puli-khumri-transmission-line-project
[5] https://www.adb.org/projects/46392-001/main
[6] https://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/News/6_Asian_Development_Bank.pdf
[7] https://www.worldbank.org/en/news/statement/2024/02/23/casa1000resumptionafghanistan
[8] https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2024/02/15/world-bank-group-announces-next-phase-of-support-for-people-of-afghanistan
[9] https://www.khaama.com/afghanistan-and-uzbekistan-agree-to-establish-a-joint-trade-chamber/
[10] https://www.gazeta.uz/en/2023/04/13/afghanistan/
[11] https://www.ariananews.af/interior-minister-meets-with-uzbekistans-foreign-minister/
[12] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/162/kusch-tepa-kanal-afghanistan-taliban/
[13] https://www.fdd.org/analysis/2023/08/15/two-years-after-u-s-withdrawal-the-taliban-enjoys-an-iron-fisted-grip-on-afghanistan/
[14] https://thediplomat.com/2023/12/tajikistan-and-the-taliban-a-lone-voice-in-central-asia/
[15] https://eurasianet.org/tajikistan-taliban-take-control-of-consulate
[16] https://asiaplustj.info/en/news/tajikistan/economic/20240802/tajikistan-begins-designing-railway-to-afghan-border
[17] https://data.worldbank.org/indicator/BX.TRF.PWKR.DT.GD.ZS?locations=TJ
[18] https://documents1.worldbank.org/curated/en/099062723061541337/pdf/P1796530c969b005c0b9f80aaf2ece82ff0.pdf
[19] https://laender-analysen.de/zentralasien-analysen/164/terroranschlag-crocus-city-hall-zentralasien-arbeitsmigranten-russland/
[20] https://daryo.uz/en/2024/01/30/exports-of-goods-from-tajikistan-to-afghanistan-exceeds-90mn-for-2023
[21] https://rus.ozodi.org/a/32575770.html