Der »Islamische Staat – Khorasan-Provinz«. Vom regionalen IS-Ableger in Zentralasien zur globalen Terrororganisation

Von Arian Sharifi (Princeton University)

Der zentralasiatische Ableger des sogenannten Islamischen Staates (IS), der »Islamische Staat – Khorasan-Provinz« (ISKP), wurde vor zehn Jahren in Südafghanistan gegründet. Dort hat Mullah Abdul Rauf Khadim,[1] ein mit seiner Gruppe unzufriedener Taliban-Kommandeur, dem IS Ende 2014 die Treue geschworen. Parallel dazu bekannten sich in Ostafghanistan sechs ehemalige Kommandeure des pakistanischen Taliban-Ablegers Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) unter der Führung von Hafiz Sayed Khan durch das Hissen der schwarzen Flagge zum IS.[2] Direkt nach seiner Gründung geriet der ISKP unter starken militärischen Druck, einerseits durch die afghanische Armee und die mit ihr verbündeten Kräfte der internationalen Koalition, andererseits durch die Taliban. Militärisch im Nachteil, wurden in den folgenden Jahren tausende IS-Kämpfer in Afghanistan getötet und gefangengenommen, darunter auch sechs Emire der Gruppe.[3] Den militärischen Nachteil konnte der ISKP durch eine bemerkenswerte Resilienz kompensieren und die hohen Verluste kontinuierlich mit neuen Rekruten ausgleichen. Gleichzeitig hat der ISKP die Anzahl, Intensität und geografische Reichweite seiner Operationen in Afghanistan und Zentralasien kontinuierlich erhöht. Im Vergleich zu anderen militanten islamistischen Gruppen zeichnet sich der ISKP durch die Kombination aus ultra-salafistischer Ideologie, kompromissloser dschihadistischer Praxis und einer transnationalen Rekrutierung von Kämpfern aus. Mit dieser strategischen Ausrichtung konnte sich die Gruppe wirksam als Anlaufstelle und Sammelbecken für unzufriedene Kämpfer aus anderen Terrororganisationen in Zentral- und Südasien etablieren.

Mit der Wiedermachtergreifung der Taliban im August 2021 begann sich der ISKP grundlegend von einer lokalen islamistischen Aufstandsarmee zu einer ausgewachsenen transnationalen Terrororganisation zu transformieren. Für diese Transformation waren drei Faktoren entscheidend:

Der erste Faktor war die fast vollständige Vernichtung des »Zentral-IS« in Irak und Syrien. Die militärische Niederlage des IS in der Levante hat den anderen regionalen IS-Ablegern die Nachteile der Organisationsweise des Zentral-IS verdeutlicht. Dazu zählen die Anfälligkeit einer Aufstandsarmee für großangelegte Gegenoffensiven und die ressourcenintensive Ausweitung und Verteidigung von Territorium, das durch vertikale Kommandostrukturen und eine bürokratische Verwaltung kontrolliert werden muss. Um dem Schicksal des Zentral-IS zu entgehen hat der ISKP daher seine seit längerem kontrollierten Territorien in mehreren ostafghanischen Bezirken aufgegeben, darunter Atschin, Kot und Nazian, und eigene Stellungen u. a. in den nördlichen Provinzen Baghlan, Sar-e-Pul, Farjab und Badachschan geräumt.[4] Damit vollzog der ISKP einen strategischen Wandel, der darin bestand, keinen Aufstand gegen das neue Taliban-Regime zu führen, sondern sich auf Terrorismus als neuem Modus Operandi zu konzentrieren. Terroristische Aktionen richteten sich fortan sowohl gegen zivile Ziele – hauptsächlich schiitische Minderheiten wie die Hazara – als auch hochrangiges Personal und wichtige Einrichtungen der Taliban.[5]

Der zweite Faktor waren die anhaltenden Operationen der Taliban gegen den ISKP, die der Gruppe erhebliche Verluste zufügten und dadurch zwangen, noch weiter in den Untergrund zu gehen. Nachdem die Taliban im August 2021 Kabul eingenommen hatten, öffneten sie die Tore aller Gefängnisse im Land. Dadurch kamen auch etwa 3.000 ISKP-Anhänger frei, von denen sich viele wieder der Terrorgruppe angeschlossen haben, weshalb ihre Reihen schlagartig angeschwollen sind.[6] Die anschließenden Operationen der Taliban gegen die Gruppe haben diesen Zuwachs an Kampfkraft allerdings schnell wieder zunichtegemacht. Laut eigenen Angaben haben die Taliban während der letzten drei Jahre ihrer faktischen Herrschaft in Afghanistan mehr als 500 ISKP-Kommandeure und -Kämpfer getötet und über 2.000 weitere festgenommen.[7] Zu den prominentesten Verlusten des ISKP während der letzten drei Jahre gehören unter anderem:

  • Qari Fateh Kotri, stellvertretender Emir des ISKP;
  • Ingenieur Omar Haider, zuständig für die »Zentralzone«, die Nordafghanistan und südliche Teile des postsowjetischen Zentralasiens umfasst;
  • Maulvi Ziauddin, Leiter der Justiz;
  • Abdullah al-Kabuli, verantwortlich für die Flüchtlings­verwaltung;
  • Abdullah Saeed, zuständig für Auslandsoperationen;
  • Yahya Tajik und Youssef Tajik, verantwortlich für die Rekrutierung in Zentralasien, insbesondere Tadschikistan;
  • Dr. Hussain, zuständig für »Spezialoperationen« und die »Westzone«, die Gebiete in Westafghanistan und Ostiran umfasst;
  • Ahmed Zahor, Drahtzieher der Terroranschläge auf den Flughafen Kabul im August 2021, das chinesische Kabul Longan Hotel im Dezember 2022 und das Taliban-Außenministerium im Januar 2023;
  • Ain al-Din, Planer der Angriffe auf den Taliban-Gouverneur von Balkh, Muzamil Akhund, im März 2023 und das Tabiyaan-Zentrum, eine vom Iran finanzierte Kulturorganisation in Kabul, im Dezember 2017;
  • Tamim, ein tadschikischer Staatsbürger und Planer des Anschlags auf die pakistanische Botschaft in Kabul im Dezember 2022;
  • Qais Laghmani, Planer des Anschlags auf das Taliban-Innenministerium im Oktober 2022,
  • Maulvi Tarab, verantwortlich für die Provinz Laghman;
  • Haji Bashir und dessen Gefolgschaft, verantwortlich für die Anschläge in Logar und auf den islamischen Gelehrten Sheikh Rahimullah Haqqani in Kabul im August 2022;
  • die Planer und Täter des Anschlags auf die Kaaj-Schule im Gebiet Daschte Bartschi in Kabul im September 2022;
  • die Planer und Täter des Anschlags auf die Mitarbeiter des Taliban-Verteidigungsministeriums in Herat im Oktober 2022; sowie
  • Die Planer und Täter des Anschlags auf die Wazir Akbar Khan-Moschee in Kabul im September 2022.

Die maßgebliche Schwächung durch die Taliban hat den ISKP schließlich zur inneren Reorganisation gezwungen. Infolgedessen wurde die vertikale Organisationsstruktur aufgegeben und durch eine horizontale Organisation von landesweit verteilten Untergrundzellen ersetzt.[8] Die Kommandobasis der ISKP-Führung wurde in die pakistanische Provinz Belutschistan verlegt.[9]

Der dritte und letzte Faktor, der für die Transformation der Gruppe zu einer global agierenden Terrororganisation entscheidend war, war der Aufstieg von Sanaullah Ghaffari, auch bekannt als Shab al-Muhajir, zum neuen Emir des ISKP im Jahr 2020. Ghaffari ist mit der ehrgeizigen Vision angetreten, der Gruppe ein neues, transnationales Profil zu geben.[10] Die nahezu vollständige Niederlage des Zentral-IS in Irak und Syrien hat Ghaffari schließlich die Chance geboten, sich innerhalb des Islamischen Staates zu profilieren und den ISKP möglicherweise als neuen Zentral-IS zu etablieren. Dafür war es allerdings notwendig, die finanziellen Kapazitäten der Gruppe zu steigern und ihren Aktionsradius weit über Afghanistan und Pakistan hinaus auszuweiten.

In der Vergangenheit hat sich die Gruppe hauptsächlich durch lokal generierte Einnahmen finanziert, vor allem Lösegelderpressung und den illegalen Abbau und Verkauf von Afghanistans Bodenschätzen. Ghaffari hat die wirtschaftlichen Aktivitäten des ISKP auf den Drogenhandel ausgeweitet, insbesondere mit der in Afghanistan neuen und hochprofitablen Droge Methamphetamin, wodurch er die finanziellen Gewinne der Gruppe erheblich steigern konnte.[11] Auch hat er die Autorität des für Zentral-, Süd- und Südostasien verantwortlichen Al-Seddiq-Büros vom Zentral-IS gestärkt, um die Koordinierung der verschiedenen Einnahmequellen aus den illegalen Geschäften in Afghanistan und Pakistan zu optimieren.[12] Gleichzeitig ist es ihm gelungen, mit Hilfe des Al-Karrar-Büros in Somalia, das zunehmend als Finanzdrehscheibe zwischen den regionalen IS-Ablegern fungiert, den Anteil des ISKP an den globalen Einnahmen des IS massiv zu erhöhen.[13]

Währenddessen konnte Ghaffari Anhänger für Terroranschläge weit außerhalb des traditionellen Operationsgebietes der Gruppe rekrutieren, einschließlich der weiteren Region von Zentralasien, dem Mittleren Osten und Europa. Einzelne Versuche haben sogar auf Nordamerika abgezielt.[14] Der Doppelselbstmordanschlag im Januar 2024 auf eine große Trauerzeremonie in Kerman, Iran, der grausame Anschlag im März 2024 auf ein Konzert in der Crocus City Hall bei Moskau und eine Reihe vereitelter Anschläge auf Ziele in mehreren europäischen Städten verdeutlichen, dass der ISKP nicht länger eine lokale Gruppe in Afghanistan ist, sondern mittlerweile einen prominenten Platz unter den globalen Terrororganisationen eingenommen hat.[15]

Zentralasien ist für den ISKP in doppelter Hinsicht von Interesse: als Operationsgebiet für Anschläge und zur Rekrutierung von Anhängern für Anschläge außerhalb der Region. Die meisten Personen, die bisher im Namen des ISKP Anschläge verübt haben, sowie diejenigen, die vor der Ausführung von solchen in Europa und Amerika festgenommen werden konnten, stammten aus Zentralasien und überwiegend aus Tadschikistan. Den größten Anklang findet die Organisation jedoch nicht in Zentralasien selbst, sondern insbesondere unter den zentralasiatischen Diasporagemeinden im Ausland,[16] unter denen tadschikische Migranten besonders marginalisiert sind. Auch wenn der ISKP in Zentralasien bislang nur wenig aktiv war, stellt die Rekrutierung von militanten Anhängern unter zentralasiatischen Diasporagruppen eine reale Bedrohung für die Region dar. Wenn sich das Problem nicht verschärfen soll, müssen bessere Gegenmaßnahmen als die bisherigen gefunden werden.

Der erfolgreiche Wechsel auf eine zellenbasierte Untergrundstruktur, die Erhöhung der Einnahmen aus illegalen Geschäften und die Ausweitung von Aktivitäten auf die globale Ebene zeugen von der Resilienz des ISKP und dem begrenzten Erfolg der Taliban, die Organisation in operativer Hinsicht wirksam zu schwächen. Ohne eine nachhaltige und umfassende Anti-Terror-Strategie im internationalen Maßstab wird der aktuell aktivste Ableger des Islamischen Staates nicht nur überleben, sondern weiter expandieren können.

Aus dem Englischen von Richard Schmidt

.

Verweise

[1] Dan Lamothe, “Meet the shadowy figure recruiting for the Islamic State in Afghanistan”, The Washington Post, 13. Januar 2015: https://www.washingtonpost.com/news/checkpoint/wp/2015/01/13/meet-the-shadowy-figure-recruiting-for-the-islamic-state-in-afghanistan/, aufgerufen am 13. September 2024.

[2] “Six Pakistani Taliban Leaders Swear Allegiance to ISIS”, NBC News, 14. Oktober 2014: https://www.nbcnews.com/storyline/isis-terror/six-pakistan-taliban-leaders-swear-allegiance-isis-spokesman-n225386, aufgerufen am 13. September 2024.

[3] Amira Jadoon und Andrew Mines, “Broken but Not Defeated: An Examination of State-led Operations Against Islamic State Khorasan in Afghanistan and Pakistan (2015-2020)”, Combating Terrorism Center, 23. März 2020: https://ctc.westpoint.edu/broken-not-defeated-examination-state-led-operations-islamic-state-khorasan-afghanistan-pakistan-2015-2018/, aufgerufen am 13. September 2024.

[4] Virtuelles Interview mit einem ehemaligen Direktor der Nationalen Sicherheitsdirektion der Islamischen Republik Afghanistan, 25. August 2023.

[5] Virtuelles Interview mit einem ehemaligen Direktor der Nationalen Sicherheitsdirektion der Islamischen Republik Afghanistan, 25. August 2023.

[6] Virtuelles Interview mit General Helaluddeen Helal, ehemaliger stellvertretender Innenminister und ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister der Islamischen Republik Afghanistan, 24. August 2022.

[7] Gespräch mit hochrangigem Taliban-Beamten im Sicherheitssektor, Mai 2024.

[8] Fokusgruppe mit 12 hochrangigen ehemaligen Beamten der Nationalen Sicherheitsdirektion der Islamischen Republik Afghanistan, September 2023.

[9] Gespräch mit hochrangigem Taliban-Beamten im Sicherheitssektor, Mai 2024.

[10] Virtuelles Gespräch mit General Mohammad Yasin Zia, ehemaliger Chef des Generalstabs der Armee der Islamischen Republik Afghanistan, August, September und Oktober 2022.

[11] Fokusgruppe mit 12 hochrangigen ehemaligen Beamten der Nationalen Sicherheitsdirektion der Islamischen Republik Afghanistan, September 2023.

[12] Fokusgruppe mit 12 hochrangigen ehemaligen Beamten der Nationalen Sicherheitsdirektion der Islamischen Republik Afghanistan, September 2023.

[13] “Thirty-fourth Report of the Analytical Support and Sanctions Monitoring Team”, UN, Juli 22, 2024: https://documents.un.org/doc/undoc/gen/n24/191/91/pdf/n2419191.pdf, S. 16.

[14] Peter Smith, Levent Kemal und Lucas Webber, “Islamic State Khorasan’s Westward Network Expansion Into Iran, Turkey, and Europe”, The Diplomat, 30. April 2024: https://thediplomat.com/2024/04/islamic-state-khorasans-westward-network-expansion-into-iran-turkey-and-europe/, aufgerufen am 20. September 2024.

[15] Amira Jadoon, Abdul Sayed, Lucas Webber und Reccardo Valle, “From Tajikistan to Moscow and Iran: Mapping the Local and Transnational Threat of Islamic State Khorasan”, CTC, Mai 2024: https://ctc.westpoint.edu/from-tajikistan-to-moscow-and-iran-mapping-the-local-and-transnational-threat-of-islamic-state-khorasan/, aufgerufen am 20. September 2024.

[16] Janatan Sayeh, “Islamic State operatives arrested after illegally crossing the US border”, The Long War Journal, 12. Juni 2024: https://www.longwarjournal.org/archives/2024/06/islamic-state-operatives-arrested-after-illegally-crossing-the-us-border.php, aufgerufen am 20. September 2024.

Zum Weiterlesen

Analyse

Soldaten und ihr Kalifat. Kasachstan im Visier von Dschihadisten

Von Michail Logvinov
Der religiöse Extremismus und Terrorismus in Zentralasien sind nicht neu. Doch nur wenige Regionalexperten hätten erwartet, dass der bewaffnete Dschihad das ressourcenreiche und im regionalen Vergleich stabile Kasachstan erschüttern würde. Hartnäckig weigerten sich die kasachstanischen Spitzenrepräsentanten, besorgniserregende Entwicklungen des Jahres 2011 in Verbindung mit der islamistischen Ideologie zu bringen. Dabei sind sie gut beraten, die Augen vor den Entwicklungen in der Region nicht zu verschließen. Denn der Islamismus ist in Zentralasien auf dem Vormarsch. (…)
Zum Artikel
Analyse

Säkularer Staat und Islamismus in Tadschikistan

Von Musaffar Olimow, Saodat Olimowa
Über die Gefährdung der zentralasiatischen Staaten durch islamistische Strömungen bestehen ganz unterschiedliche Einschätzungen, die u. a. auf unterschiedlichen Definitionen und politischen Positionen beruhen. Für ein begründetes Urteil ist genaueres Wissen über die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber dem Islam und seine Rolle im politischen Leben in den einzelnen Staaten nötig. Daher wird im folgenden Text eine bestimmte Ausprägung des Säkularismus in Zentralasien am Beispiel Tadschikistans untersucht. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS