Regimestützen. Turkmenistans Gewaltapparate

Von Grazvydas Jasutis (Geneva Centre for Security Sector Governance (DCAF)), Elizaveta Chmykh

Zusammenfassung
Die Gewaltapparate sind zentrale Stützen des autokratischen turkmenischen Regimes. Aufgaben und Methoden der Staatssicherheit wie der Polizei blieben nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 weitgehend unverändert. Nach dem Tod des ersten Präsidenten Nyýazow sorgte sein Nachfolger Gurbanguly Berdimuhamedow für eine personelle Säuberung der Institutionen. Doch sie blieben Repressionsapparate, in denen Korruption und Machtmissbrauch an der Tagesordnung sind. Dies ist auch unter seinem Sohn und Nachfolger Serdar Berdimuhamedow nicht anders. Deutlich weniger Aufmerksamkeit schenkt das Regime der Armee. Dies hängt mit der Staatsdoktrin der »ewigen Neutralität« zusammen.

Seit März 2022 amtiert in Turkmenistan der dritte Präsident des seit 1992 unabhängigen Landes. Serdar Berdimuhamedow trat die Nachfolge seines Vaters Gurbanguly Berdimuhamedow an, der das Land seit 2006 regiert hatte. Berdimuhamedow junior versprach vor allem Kontinuität, nicht zuletzt in der Außen- und Sicherheitspolitik. Um die Armee und die Organe der Staatssicherheit zu modernisieren, bedürfe es jedoch neuer Sieben-Jahres-Pläne für die Zeit 2022–2028.[1]

Die für äußere und innere Sicherheit des Staates zuständigen Organe unterstehen in Turkmenistan formal dem Staatlichen Sicherheitsrat, dem gemäß Art. 71 der turkmenischen Verfassung der Staatspräsident vorsitzt. Dieser ernennt und entlässt auch die Mitglieder des Rats. Die wichtigsten Organe des Sektors sind das Verteidigungsministerium, das Innenministerium und seine nachgeordneten Behörden, das Ministerium für Nationale Sicherheit, der Sicherheitsdienst des Präsidenten, der Grenzschutz, der Migrationsdienst und der Zoll. Als Staatschef und Oberkommandierender der Streitkräfte übt Berdimuhamedow eine engmaschige Kontrolle über diese Organe aus.[2] Er ernennt die Minister, die wichtigsten Behördenleiter und die Kommandeure der Streitkräfte. Ebenso erlangt die Militärdoktrin seines Landes mit seiner Unterschrift Gültigkeit. Die Befugnisse des Präsidenten ermächtigen ihn zu einer operativen Kontrolle in allen mit innerer und äußerer Sicherheit verbundenen Bereichen.[3]

Artikel 68 der Verfassung bezeichnet den Präsidenten als Garanten der staatlichen Souveränität und der ewigen Neutralität Turkmenistans. Die Legislative – der Mejlis – und die Judikative haben im vollständig auf den Präsidenten zugeschnittenen politischen System Turkmenistans wenig Einfluss auf die Sicherheitsorgane.[4]

Erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheitspolitik und die für diese zuständigen Organe hat zum einen die erwähnte Neutralitätsdoktrin. Turkmenistan ist weder Mitglied in der Organisation des Taschkenter Vertrags [Vorläufer der 2002 gegründeten Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit, Anm. d. Red.] noch in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Auch in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ist Turkmenistan nur beigeordnetes Mitglied. Hinzu kommt die geopolitische Lage in Zentralasien – Turkmenistan ist nördlicher Nachbarstaat von Iran und Afghanistan und liegt in einer Zone, in der Russland und China kooperieren, aber auch um Einfluss konkurrieren. Sehr große Bedeutung hat auch die Abhängigkeit der turkmenischen Volkswirtschaft vom Erdgasexport.[5] Um den Aufbau der Sicherheitsapparate und ihr Verhältnis zueinander zu verstehen, müssen aber auch die Beziehungen zwischen den turkmenischen Stämmen betrachtet werden. Eine erhebliche Rolle spielt schließlich das sowjetische Erbe. Dazu zählt die Militarisierung von Polizei und Justizvollzug sowie das weitgehende Fehlen einer gesellschaftlichen Kontrolle der Apparate.[6]

Die Staatssicherheit

Das sowjetische Komitee für Staatssicherheit (KGB) heißt in Turkmenistan seit September 1991 Komitee für Nationale Sicherheit (KNB). Der Aufbau und die Aufgaben des Apparats blieben nahezu unverändert. Das Gesetz »Über die Organe der Nationalen Sicherheit« vom April 1993 ähnelt wie entsprechende Gesetze in vielen anderen Nachfolgestaaten der UdSSR frappierend dem sowjetischen Gesetz, an dessen Stelle es getreten ist.[7] Auch personell war die Kontinuität groß. Entsprechend änderte sich auch nichts an den Methoden der politischen Polizei. Knapp ein Jahrzehnt später blickte der erste Präsident des unabhängigen Turkmenistan Saparmyrat Nyýazow – der bereits seit 1985 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetrepublik Turkmenistan fungiert hatte – im Januar 2001 auf ein »erfolgreich« abgeschlossenes Vorjahr zurück. In den vorhergehenden 12 Monaten seien »10 000 ausländische Staatsbürger verhaftet und ausgewiesen sowie 350 000 Bücher und 80 000 Kassetten mit religiösen Inhalten, die nicht mit unserem Glauben vereinbar sind, beschlagnahmt worden.«[8] Gleichzeitig kündigte Nyýazow eine Aufstockung des Personals der politischen Polizei von 1500 auf 2500 Mann an. Ein Jahr später wurde im März 2002 der langjährige stellvertretende und seit 1996 erste Vorsitzende des KNB Muhammet Nazarow verhaftet und kurz darauf zu 20 Jahren Haft verurteilt. Drei Dutzend weitere hochrangige Mitarbeiter des KNB sowie verschiedener weiterer Sicherheitsapparate wurden ebenfalls entlassen. Der Innenminister, der Generalstaatsanwalt und der Vorsitzende des Obersten Gerichts sprachen von Machtmissbrauch des KNB und Kompetenzüberschreitung.[9]

In öffentlichen Äußerungen ließ Nyýazow den Eindruck entstehen, eine umfassende Neuorganisation des KNB und eine Beschränkung seiner Machtfülle sei geplant. Am 15. März versammelte er Parlamentsabgeordnete, Minister sowie Leiter von Regionalverwaltungen und Sicherheitsbehörden und erklärte, der KNB würde »nicht mehr das Recht haben, sich in das Privatleben der Bürger oder die Tätigkeit von kommerziellen Unternehmen einzumischen«.[10] Der gesamte Apparat des KNB werde umgebaut, 80 Prozent der höheren Angestellten seien bereits entlassen. Der Dienst werde sich nur noch mit dem Schutz der nationalen Sicherheit befassen, die Kompetenzen in Kriminalitätsfeldern wie Betrug, Diebstahl oder Drogenhandel würden an das Innenministerium übertragen. Tatsächlich wurde mit dem vormaligen Innenminister Poran Berdiev ein Mann an die Spitze des KNB gesetzt, der nicht aus dessen Apparat kam. Symbolisch wurde der Umbau mit der Umbenennung in Ministerium für Nationale Sicherheit (MNB) vollendet.[11]

Das geänderte Gesetz über »Die Organe der nationalen Sicherheit« weist dem Ministerium in Artikel 14 jedoch erneut eine Vielzahl von Kompetenzen zu, darunter nachrichtendienstliche Aufgaben, Spionageabwehr, operative Ermittlungen, Voruntersuchungen, Kampf gegen Organisierte Kriminalität sowie Korruption und Drogenhandel, vorbeugende Maßnahmen gegen und Unterdrückung von Unruhen oder ethnischen Konflikten, Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz von Staatsgeheimnissen, Durchsetzung von Grenz- und Zollbestimmungen.[12] Damit blieb der nun als Ministerium für Nationale Sicherheit fungierende Inlandsgeheimdienst ein Schlüsselakteur der turkmenischen Politik. Insbesondere nach einem angeblichen Attentatsversuch auf Nyýazow im November 2002 wuchs die Bedeutung des MNB. In Aşgabat sei aus einem Lastwagen der Autokonvoi Nyýazows beschossen worden. Der Präsident machte den vormaligen Außenminister (1995–2000) Boris Şyhmyradow verantwortlich, dieser wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und gilt seitdem als verschwunden.

Auch nach dem Tod Nyýazows im Dezember 2006 und der Machtübernahme durch Gurbanguly Berdimuhamedow, der seit 2001 stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats gewesen war und das mit der Beerdigung von Nyýazow beauftragte Komitee geleitet hatte,[13] behielt der MNB seine zentrale Rolle. An den Methoden des MNB änderte sich unter den mittlerweile sieben Vorsitzenden des Ministeriums, die Gurbanguly Berdimuhamedow und sein seit 2022 regierender Sohn in den vergangenen 17 Jahren ernannt haben, praktisch nichts. Auch der seit 2023 amtierende Minister Nazar Atagaraev führt die Repressionspolitik unvermindert fort.[14]

Berdimuhamedow senior wies im Jahr 2018 am »Tag der Mitarbeiter der Sicherheitsdienste« den MNB an, sich in Zukunft auf globale Bedrohungen wie internationalen Terrorismus, Extremismus oder Drogenschmuggel zu konzentrieren und enger mit den Justizbehörden des Landes zusammenzuarbeiten. Doch Strukturreformen, die aus der überkommenen politischen Geheimpolizei einen modernen Nachrichtendienst gemacht hätten, blieben aus. Seit 2021 gelten Beschränkungen für die Verwendung »nichtlizensierter« Verschlüsselungssoftware. Verboten sind »illegale Dienstleistungen in Zusammenhang mit technischen Programmen«. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu sieben Jahren. Zugleich verschärfte der Staat die Internetkontrolle und geht nun gegen die Verwendung von VPN und anderen Programmen zur Umgehung von Internetsperren vor. Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren der Zugang zum Internet für eine gewisse Zeit vollständig blockiert.[15] Im Januar 2022 wurden nach den Protesten in Kasachstan im großen Stil Smartphones von Studenten überprüft, um Nutzer sozialer Medien und blockierter Internetseiten aufzuspüren. Die Mitglieder lokaler Ältestenräte fordern bei »Informationsveranstaltungen« an Schulen und Universitäten die Schüler und Studenten dazu auf, sich im Internet von regierungskritischen Seiten fernzuhalten und Kommilitonen, die diesen Ratschlag nicht beachten, bei den Behörden zu melden. Diese drohen mit einer Relegation bzw. Exmatrikulierung. Familienangehörige von Personen, die nach Kritik an dem turkmenischen Regime aus dem Land fliehen mussten, werden immer wieder von den Behörden unter Druck gesetzt, um die Verwandten im Ausland zum Schweigen zu bringen.[16]

Die Polizei und die Truppen des Inneren

Neben dem Geheimdienst ist die dem Innenministerium unterstellte Polizei eine zentrale Machtstütze des turkmenischen Regimes. In den 1990er Jahren knüpfte die Miliz nahtlos an die sowjetische Vorgängerinstitution an. Dies galt für das Personal, die Struktur, die Aufgaben und die Methoden. Auch nachdem sie 1998 in Nationale Polizei Turkmenistans umbenannt worden war, änderte sich wenig.[17] Gleiches gilt für eine weitere Gewaltinstitution, die Truppen des Inneren, eine paramilitärische Einheit mit rund 25 000 Mann, die formal der Armee zugeordnet ist, aber in der Befehlshierarchie dem Innenminister untersteht.

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Nach seiner Machtübernahme im Jahr 2006 entließ der neue Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow im April 2007 den Minister Akmämmet Rahmanow und andere hochrangige Beamte, verteilte Aufgaben um und richtete eine Beschwerdekommission ein. Neuer Innenminister wurde Hojamyrat Annagurbanow. Der Wachschutz für militärische und zivile Gebäude wurde der Polizei entzogen, die Verkehrspolizei hingegen erneut dem Innenministerium unterstellt. Bereits im Oktober wurde Annagurbanow bereits wieder entlassen, ebenso zwei seiner Stellvertreter. Nachdem der Präsident diese auf einer Sitzung scharf angegriffen hatte, verlas der Generalstaatsanwalt eine lange Liste von Verbrechen, die sich Annagurbanow habe zuschulden kommen lassen, von Vorteilsnahme über die Fabrizierung von Beweisen für Straftaten bis zur Verhinderung einer Untersuchung, die sich gegen seinen Neffen hätte richten sollen. Es handelte sich um eine Säuberung des Apparats von altem Personal, während die Institution ihren repressiven Charakter behielt.[18]

Ansätze für Reformen gab es allenfalls in Zusammenhang mit der Zentralasienstrategie der Europäischen Union. Die EU wollte erreichen, dass Turkmenistan die Inspizierung von Gefängnissen durch das Internationale Rote Kreuz zulässt und sich am Aktionsprogramm Drogenpolitik der EU (Central Asia Drug Action Programm, CADAP) beteiligt, das unter vielem anderem Schulungen zum Umgang mit inhaftierten Drogenabhängigen vorsah.[19] Doch die Beharrungskräfte überstiegen bei weitem den Reformwillen. Amtsmissbrauch ist im Innenministerium auf allen Ebenen weiter gang und gäbe – und kann jederzeit für Säuberungen genutzt werden, ohne dass sich unter den Nachfolgern entlassener Funktionäre etwas an dem Prinzip ändern würde.

Im Oktober 2019 wurde Innenminister Isgender Mülikow entlassen, nachdem Generalstaatsanwalt Batyr Atdajew den Präsidenten auf einer Sitzung des Sicherheitsrats über Korruptionsermittlungen gegen ihn »unterrichtet« hatte. Kurz darauf wurde er in Handschellen im Staatsfernsehen vorgeführt, wo er schwere Verbrechen eingestand. Sein Nachfolger hielt sich neun Monate im Amt, dessen Nachfolger wurde ebenfalls nach neun Monaten entlassen. Die EU ist im Rahmen ihres Programms Border Management in Central Asia (BOMCA) darum bemüht, die endemische Korruption einzudämmen, indem sie der turkmenischen Führung zu Lohnerhöhungen, besseren Arbeitsbedingungen und einer besseren sozialen Absicherung von Polizisten rät. Doch sie dringt damit nicht durch. Berichten zufolge quittieren Polizisten in großer Zahl den Dienst und verlassen auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit das Land.[20]

Die Streitkräfte

Den Kern der turkmenischen Armee bildet das 33 000 Soldaten umfassende Heer.[21] Es ist in fünf Militärbezirken stationiert. Die wesentlichen Einheiten sind ein Panzerregiment, vier motorisierte Schützenbrigaden, eine Sondereinsatzgruppe sowie unterstützende Artillerie- und Luftverteidigungsbrigaden.[22] Im Jahr 2023 belief sich der offizielle Verteidigungshaushalt des Landes auf 800 Millionen US-Dollar.[23] Neben dem Heer verfügt die Armee über Luftstreitkräfte und eine Marine. Bei den Luftstreitkräften dienen rund 3000 Soldaten, die über gut fünfzig Kampfflugzeuge – 24 Jagdflugzeuge und 28 Erdkampfflugzeuge, von denen jedoch jeweils nur die Hälfte einsatzfähig ist – und drei Transportmaschinen verfügen. Daneben besitzen sie 25 Helikopter, von denen zehn Kampfhubschrauber sind.[24] Während in das Heer durchaus relevante Gelder geflossen sind, wurde die Luftwaffe in den vergangenen 30 Jahren kaum modernisiert.[25] Dies spiegelt die Prioritäten des Regimes in Aşgabat: Sicherung der Südgrenze gegen Angriffe von Aufständischen und Stärkung des Sicherheitsapparats. Aber auch die Marine, in der 500–700 Matrosen dienen, hat Mitte der 2010er Jahre signifikante Gelder erhalten.[26]

Nach dem Ende der Sowjetunion baute Turkmenistan nur zögerlich eine eigene Armee auf. Eine multilaterale Sicherheitskooperation verweigerte Präsident Nyýazow mit dem Hinweis auf die zur Staatsdoktrin erhobene Neutralitätspolitik, die korrekter als Politik der Selbstisolation beschrieben ist. Entsprechend blieb Turkmenistan dem im Mai 1992 in Taschkent von Russland, den anderen vier zentralasiatischen Staaten, Belarus und den drei südkaukasischen Staaten unterzeichneten Vertrag über kollektive Sicherheit fern. Einen Monat später schloss Turkmenistan jedoch einen bilateralen Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit Russland, der mehrere Zusatzabkommen über militärische Zusammenarbeit enthält, darunter einen Vertrag über die Stationierung von Einheiten der russländischen Luft- und Luftverteidigungsstreitkräfte sowie einen über den Dienst russländischer Staatsbürger in der turkmenischen Armee.

Die Abkommen waren die Grundlage für den Aufbau turkmenischer Streitkräfte auf der Basis der einstigen 52. sowjetischen Armee. Von den 300 Einheiten dieser Armee wurden 200 turkmenischem Kommando unterstellt, 70 blieben unter Moskauer Kommando, 30 wurden entweder abgezogen oder aufgelöst.[27] Die Streitkräfte blieben unter gemeinsamem Kommando, um erst im Verlaufe von zehn Jahren vollständig unter turkmenische Kontrolle gestellt zu werden. Bei dieser »Turkmenisierung« der Armee handelte es sich um einen weitgehenden Neuaufbau der Führungsstruktur, denn Anfang 1993 waren 95 Prozent aller Offiziere Staatsbürger Russlands, der Ukraine, von Belarus und einiger anderer Nachfolgestaaten der UdSSR. Die Mannschaften bestanden hingegen zu 95 Prozent aus Turkmenen.[28] Im Laufe der 1990er Jahre wurden nahezu alle Offiziersposten mit Turkmenen besetzt. 1999 verließen auch die russländischen Grenzschutztruppen Turkmenistan. Sie hinterließen eine heruntergewirtschaftete Armee, der die politische Führung in Aşgabat kaum Aufmerksamkeit schenkte. Dies änderte sich auch dann nicht, als die USA nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 begannen, militärisch gegen das Taliban-Regime in Afghanistan vorzugehen. Die Neutralitätspolitik blieb oberstes Prinzip. Auf der einen Seite gestattete Nyýazow den USA die Nutzung eines turkmenischen Militärflugplatzes für die Versorgung der US-Truppen in Afghanistan, auf der anderen Seite arbeitete die turkmenische Diplomatie hart daran, die Kontakte zu den Taliban nicht abbrechen zu lassen. 1999 hatte Turkmenistan im afghanischen Bürgerkrieg Gespräche zwischen den Kräften von Ahmad Schah Massoud und den Taliban vermittelt.

Eine geringfügige Korrektur der Neutralitäts- bzw. Selbstisolationspolitik nahm erst nach Nyýazows Tod sein Nachfolger Gurbanguly Berdimuhamedow ab 2006 vor.[29] Vor allem aber schenkte er der Armee mehr Aufmerksamkeit, was sich in der im Jahr 2009 verabschiedeten neuen Militärdoktrin äußerte. Diese nahm zwar weiter auf das Prinzip der »ewigen Neutralität« Bezug, das u. a. in der ersten turkmenischen Militärdoktrin von 1994 verankert und von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1995 in Beschluss A/RES/50/80 bestätigt und begrüßt worden war.[30] Berdimuhamedow wollte nun aber eine Modernisierung der Armee vorantreiben und dabei insbesondere auch die Versorgung der Militärangehörigen verbessern.[31] War die Neutralität unter Nyýazow ein Vorwand gewesen, Ausgaben für die Streitkräfte zu vermeiden, so änderte sich dies nun. Beobachter brachten dies mit der instabilen Lage in Afghanistan in Verbindung oder verwiesen auf Konflikte mit Usbekistan.[32]

Allerdings flossen die meisten Mittel in die Marine. Turkmenistan erwarb in der Türkei und Russland mehrere Korvetten und Patrouillenboote für seine kaspische Flotte.[33] Insgesamt wuchs der Verteidigungshaushalt von 165 Mio. US-Dollar im Jahr 2004 auf 210 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 – und dies bei einer Reduzierung des Personals von 200 000 auf 50 000 Mann.[34] Der Trend zu kleineren, aber professionelleren Armeen war auch in Turkmenistan angekommen. Gleichwohl blieb die Einsatzbereitschaft und die Fähigkeit zum gemeinsamen Vorgehen verschiedener Waffengattungen gering, denn die Armeeführung ließ nur selten Übungen und Manöver abhalten.

Vom weiterhin schlechten Zustand gerade auch veralteter Waffenlager zeugte etwa eine Explosion in der südturkmenischen Mittelstadt Abadan. Die Regierung gab den Tod von zwei Soldaten und 13 Zivilisten bekannt, Oppositionsmedien im Exil sprachen von über 1000 Toten.[35] Ob aus dem Unglück andere Konsequenzen als die Degradierung des Verteidigungsministers gezogen wurden, ist nicht bekannt.

Im Jahr 2016 verabschiedete Turkmenistan jedoch eine neue Militärdoktrin.[36] Dies war zweifellos eine Reaktion auf die instabile Lage in Afghanistan, die sich durch die Reduzierung des Kontingents internationaler Truppen ab 2015 weiter verschlechterte. Eine offene Konfrontation mit den erstarkenden Taliban war jedoch nicht zu erwarten, hatte Turkmenistan doch stets die diplomatischen Beziehungen zu diesen gepflegt, Flüchtlinge aufgenommen, Strom exportiert und humanitäre Güter geliefert.

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Berdimuhamedow, der von 2011–2020 als Sekretär des Sicherheitsrats und von 2015–2018 auch als Verteidigungsminister amtierende Ýaýlym Berdiýew sowie Begenç Gündogdyýew, der dieses Amt von 2011–2015 und seit 2018 wieder innehat, werden nicht müde, den defensiven Charakter der Doktrin zu betonen. Auf dem offiziellen Portal Türkmenistan – Altyn asyr (Turkmenistan – Goldenes Zeitalter) heißt es etwa in Zusammenhang mit einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats und der dort gehaltenen Rede »des Präsidenten von Turkmenistan, des Oberkommandierenden der Streitkräfte, Armeegeneral Serdar Berdimuhamedow« vom Januar 2024: »Gegenwärtig werden im Einklang mit der Militärdoktrin des unabhängigen, ewig neutralen Turkmenistan, die einen zutiefst defensiven Charakter trägt, konzeptionelle Arbeiten zum Zwecke einer weiteren Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit unseres Staates, zur Modernisierung der nationalen Armee durchgeführt.«[37] Bei einem Manöver Ende Mai 2024 hätten »die verschiedenen Truppengattungen unter Anwendung neuer, fortgeschrittenster Methoden, Führungsansätze und Kampftaktiken koordinierte Aufgaben zu Lande, zur See und in der Luft erfüllt.« Es seien »in großem Umfang digitale Systeme, darunter Drohnen mit digitaler Steuerung, Radarerkennungssysteme und andere hochmoderne Waffen« eingesetzt worden.[38] Dieses offizielle Bild steht in starkem Kontrast zu Berichten, die von einem Niedergang der Armee und grassierender Korruption sprechen. Dies gehe so weit, dass Wehrpflichtige nach Ablauf des Wehrdiensts von der eigenen Armee als Geiseln gehalten und erst nach Zahlung eines Lösegelds durch ihre Eltern freikommen würden.[39]

Aus dem Englischen von Volker Weichsel, Berlin

Der Text beruht auf der gemeinsam mit Richard Steyne verfassten Studie der Autoren: Mapping Study on the Security Sector of Turkmenistan. Geneva Centre for Security Sector Governance (DCAF). Genf 2020.

Der Originaltext erschien in der Osteuropa 8-10/2024: https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2024/8-10/regimestuetzen/

Die im Originaltext verwendete Schreibweise von Eigennamen folgt der aktuellen turkmenischen Lateinschrift und wurde unverändert übernommen, ohne Anpassung an die in den Zentralasien-Analysen übliche Transkription aus dem Russischen.


Verweise

[1] Turkmenistan podgotovit semiletnij plan razvitija vooružennych sil i pravoochranitel’nych organov – genprokuratura otčitalas’ o slučajach korrupcii v sfere torgovli. News Central Asia. 6.5.2022.

[2] The Constitution of Turkmenistan, Article 68, www.legislationline.org/download/id/6502/file/ Turkmenistan_Constitution_am2016_eng.pdf.

[3] The Constitution of Turkmenistan [Fn. 2], Article 71.

[4] Vladimir Kudinov: Osobennosti konstitucionno-pravovogo regulirovanija polnomočij glavy gosudarstva, organov zakonodatel’noj i ispolnitel’noj vlasti v respublike Turkmenistan v sfere zaščity i ochrany gosudarstvennoj granicy. Južnyj universitet (IUBiP). Rostov-na-Donu 2016. – Grazvydas Jasutis, Richard Steyne: Parliamentary Oversight of the Security Sector: Turkmenistan, in Parliamentary Oversight of the Security Sector: Case Studies from Central Asia. Geneva Centre for Security Sector Governance (DCAF) 2020.

[5] Merijn Hartog (Hg.): Security Sector Reform in Central Asia: Exploring Needs and Possibilities. Groningen, The Centre of European Security Studies, 2010, S. 48. – www.files.ethz.ch/isn/119141/SSR_full-text.pdf. – Michael Denison: Security Sector Reform in Central Asia: Exploring Needs and Possibilities. Groningen 2010, S. 49. – Jean-Baptiste Jeangene Vilmer: Turkmenistan. Paris 2010. – Mit Schwerpunkt auf der Polizei: David Lewis: Reassessing the Role of OSCE Police Assistance Programing in Central Asia. Open Society Foundations, Occasional Paper Series, 4/2011.

[6] Robert Timm: The Security Forces, in: Daniel Burghart, Theresa Sabonis-Helf (Hg.): Central Asia in the Era of Sovereignty: The Return of Tamerlane? Lanham, Maryland, 2018, S. 367–390, hier S. 380.

[7] V.M. Redkous: Istoriko-pravovye aspekty formirovanija sovremennogo administrativnogo zakonodatel’stva v oblasti obespečenija nacional’noj bezopasnosti (opyt Rossii i stran – učastnic SNG). Vestnik Moskovskogo universiteta MVD Rossii 3/2010.

[8] Turkmenistan: vlasti strojat «železnyj zanaves» po receptam stalinskoj diktatury, https://memohrc.org/ru/news/turkmenistan-vlasti-stroyat-zheleznyy-zanaves-po-receptam-stalinskoy-diktatury#sdfootnote1sym.

[9] Prezident Turkmenistana priznal neudovletvoritel’noj rabotu rukovodstva KNB. turkmenistan.ru, 4.3.2002.

[10] Saparmurat Nijazov ob”javil o rezkom sokraščenii polnomočij komiteta nacional’noj bezopasnosti. turkmenistan.ru, 15.3.2002.

[11] Komitet nacional’noj bezopasnosti Turkmenii po rešeniju prezidenta strany pereimenovan v ministerstvo. Ria Novosti, 11.9.2022.

[12] The Law “On Organs of National Security of Turkmenistan” (No. 4, art. 32, with amendments from 1997, 1998 and 2003).

[13] Zum Interimspräsident ernannte ihn der Sicherheitsrat, im Februar 2007 wurde er bei einer Akklamation von 87 Prozent der Stimmberechtigten im Amt bestätigt. Gegen den Vorsitzenden des Mejlis, der nach der Verfassung Interimspräsident hätte werden müssen, wurde im Dezember 2006 rasch ein Strafverfahren eröffnet.

[14] Prezident Turkmenii snjal s postov ministra nacbezopasnosti i predsedatelja Verchovnogo suda. tass.ru, 3.2.2023.

[15] Prezident Berdymuchamedov rasporjadilsja užestočit’ ograničenija na informaciju v Internete. Radio Azatlyk (Radio Liberty; www.azathabar.com), 13.1.2022.

[16] Turkmenskie starejšiny prizyvajut molodež’ ne čitat’ antipravitel’stvennye posty i donosit’ drug na druga. Radio Azatlyk (Radio Liberty; www.azathabar.com), 29.1.2022.

[17] David Lewis: Security Sector Reform in authoritarian regimes: The OSCE experience of police assistance programming in Central Asia, in: Security and Human Rights, 2/2011, S. 103–117, hier S. 103.

[18] Turkmen Police Reforms Insufficient. Institute for War and Peace Reporting, 8.11.2007.

[19] Denison, Security Sector Reform [Fn. 5], S. 49.

[20] V pravoochranitel’nych organach Turkmenistana sotrudniki uvol’njajutsja, čtoby uechat’ za granicu na zarabotki. Radio Azatlyk (Radio Liberty; www.azathabar.com), 8.1.2024.

[21] The Military Balance, 2019. Published by IISS. Chapter 5: Russia and Eurasia, S. 166–221, hier S. 185.

[22] Timm, The Security Forces [Fn. 6], S. 380.

[23] Turkmenistan perestal byt’ voennym autsajderom. Nezavisimaja gazeta, 16.4.2023.

[24] Turkmenistan Military Strength 2024, www.globalfirepower.com.

[25] Timm, The Security Forces [Fn. 6], S. 380.

[26] Ebd.

[27] Oleg Belosludtsev, Alexander Gribovsky: Russia’s Military-Political Relations with Kyrgyzstan, Tajikistan and Turkmenistan, in: Moscow Defense Brief, 1/2018, S. 2002.

[28] Valentin Shishlevskiy: The Evolution of Turkmenistan’s Armed Forces, in: Asian Defence Journal, 7/1994.

[29] Vitaly Gelfgat: Central Asian States: Matching Military Means to Strategic Ends, in: Connections, 3/2014, S. 1–20.

[30] Maintenance of international security, U.N. Doc. A/RES/50/80, http://hrlibrary.umn.edu/resolutions/50/80GA1995.html.

[31] Siehe das im August 2009 verabschiedete Gesetz «O statuse i social’noj zaščite voennoslužaščich i členov ich semej», https://natlex.ilo.org/dyn/natlex2/r/natlex/fe/details?p3_isn=84133.

[32] Turkmenistan Prinjal Novuju Voennuju Doktrinu. rus.delfi.lv, 23.1.2009.

[33] Gelfgat, Central Asian States [Fn. 25].

[34] D. Kočojan: Izoljacija Ot Vnešnego Mira – Ne Izoljacija Ot Vnešnich Ugroz. Vooružennye Sily Turkmenistana V Cifrach 2015, https://iarex.ru/articles/51975.html.

[35] Turkmenistan: Human Rights Activists Say Death Toll Climbing from Explosion. Eurasianet, 13.7.2011.

[36] Voennaja doktrina nezavisimogo, postojanno nejtral’nogo gosudarstva, https://milligosun.gov.tm/storage/file/01-voennaya-doktrina-knHvBHXnbT.pdf.

[37] Rasširennoe vyezdnoe zasedanie Gosudarstvennogo soveta bezopasnosti Turkmenistana. turkmenistan.gov.tm, 16.1.2024.

[38] V Balkanskom velajate Turkmenistana prošli voennye učenija s zadejstvovaniem širokogo arsenala dronov. newscentralasia.net, 30.5.2024.

[39] Turkmenistan: v vojskovych častjach uderživajut soldat poka za nich ne zaplatjat roditeli. acca.media, 26.7.2023.

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