Einleitung: Die erneute Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 als Problemstellung für die russische Außenpolitik
Die erneute Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 hat Russland vor grundlegende außenpolitische Fragen gestellt. Seit 2017 hat die russische Regierung versucht, durch das »Moskau-Format« Einfluss auf den afghanischen Friedensprozess auszuüben. Dem Format gehören Russland, China, Pakistan, Iran, Indien, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan an. Taliban-Vertreter haben zwar bereits an früheren Treffen des Formates teilgenommen, offiziell sind sie ihm jedoch erst 2025 beigetreten. Auch haben Taliban-Delegationen bereits zuvor an wirtschaftlichen und kulturdiplomatischen Veranstaltungen in Russland teilgenommen, u. a. am Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg 2024 und am »Kasan-Forum: Russland – Islamische Welt«, ebenfalls 2024. Dennoch waren die Taliban bis vor kurzem in Russland offiziell als Terrororganisation verboten. Das Verbot wurde erst im April 2025 auf Gesuch von Außen- und Justizministerium vom Obersten Gericht aufgehoben. In den letzten vier Jahren wurde also noch versucht, eine Balance zwischen dem rechtlichen Verbot und einem pragmatischen Dialog zu finden; im Jahr 2025 hat sich Moskau jedoch innerhalb weniger Monate scheinbar klar auf eine offizielle Anerkennung der Taliban festgelegt.
Tatsächlich sind diesem außenpolitischen Kurswechsel jedoch intensive Kontroversen zwischen Außenministerium und Sicherheitsapparat vorausgegangen, wobei sich das Außenministerium am Ende durchsetzen konnte. Aus der Sicht des Außenministeriums stellt die russische Anerkennung der Taliban einen weiteren Schritt in Richtung einer multipolaren Weltordnung mit einem starken Bündnis antiwestlicher Staaten dar. Im Gegensatz dazu sehen die Sicherheitsbehörden und vor allem das Verteidigungsministerium in den Taliban weiterhin eine islamistische Terrororganisation, die zusammen mit anderen dschihadistischen Gruppen wie dem Islamischen Staat Khorasan-Provinz (ISKP) oder der mit den Taliban verbündeten Jamaat Ansarullah eine Gefahr für die Sicherheit in Russland und Zentralasien darstellt. In Gesprächen, die der Autor des Beitrags mit russischen Beamten und Sicherheitsexperten bis 2022 in Russland geführt hat, wurde eine allgemeine Skepsis gegenüber den Taliban deutlich, die sowohl die Haltung der liberalen und prowestlichen als auch der konservativen und nationalistischen Teile der politischen Elite prägte. Dieses breite Misstrauen war der Grund dafür, weshalb sich der Prozess der Entkriminalisierung, der einer offiziellen Anerkennung der Taliban zwingend vorausgehen musste, über Jahre gestreckt hat.
Antiwestliche Ideologie und geopolitische Symbolik
Die offizielle Anerkennung der Taliban ist Teil der ideologischen Bestrebung Moskaus, die Führung einer »alternativen Weltordnung« zu übernehmen, die nicht mehr von den Vereinigten Staaten, der NATO oder liberalen Normen internationaler Beziehungen geprägt ist. Mit diesem Schritt signalisiert der Kreml die Bereitschaft, sich über den internationalen Konsens, die Taliban aufgrund ihrer systematischen Menschenrechtsverletzungen zu ächten, hinwegzusetzen. Zugleich setzt der Vorgang einen Präzedenzfall, der Implikationen für andere internationale Kontexte hat, etwa mit Hinblick auf Russlands andauernden Krieg gegen die Ukraine. So könnte Moskau die Begründung, die Taliban aufgrund ihrer faktischen Herrschaft über Afghanistan anerkannt zu haben, später als vermeintliches Argument dafür anführen, »legitime« Kontrolle über die vier (teilweise) von der russischen Armee besetzten ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson auszuüben. Diese Gebiete hat die Russische Föderation 2022 einseitig annektiert, wobei die dafür in den besetzten Gebieten durchgeführten Scheinreferenden international nur von Nordkorea anerkannt wurden. Mit der offiziellen Anerkennung der Taliban versucht Moskau also auch, die normative Kraft des Völkerrechts zu unterminieren und stattdessen die faktische Kontrolle über Territorium als normative Quelle vermeintlich legitimer Herrschaft zu etablieren, im Sinne einer nicht von Recht, sondern von Macht strukturierten internationalen Ordnung.
Ein weiterer Beweggrund seitens der russischen Führung liegt im Ziel, einen »autoritären Block« eurasischer Mächte zu etablieren. In diesem hypothetischen Zusammenschluss autokratischer Regime unter russischer Führung sollen neben Iran, China, Pakistan und gegebenenfalls Indien nun auch die Taliban Platz finden. Die konzeptuellen Umrisse eines solchen Zusammenschlusses erschienen bereits in der 2015 von Wladimir Putin vorgestellten Initiative einer »Großeurasischen Partnerschaft« (Li 2018), die aufgrund divergierender Interessen und geopolitischer Rivalitäten jedoch nie zustande gekommen ist. So konkurrieren Iran und Pakistan um Einfluss in Afghanistan und unterstützen dabei unterschiedliche politische, ethnische und religiöse Gruppen. Darüber hinaus kam es, wie zuletzt im Januar 2024, zu wiederkehrenden Konflikten im Zusammenhang mit der Sicherheit der gemeinsamen Grenze zwischen der pakistanischen Provinz Belutschistan und der iranischen Provinz Sistan und Belutschistan. Währenddessen bleiben Indien und Pakistan erbitterte Erzfeinde und haben erst im Mai 2025 einen weiteren bewaffneten Konflikt ausgetragen, der durch einen Terroranschlag auf Touristen im indischen Unionsterritorium Jammu und Kashmir im April ausgelöst wurde. Ebenso bleiben Indien und China, trotz jüngster Wiederannäherungen, internationale Rivalen um die Führung innerhalb der Gruppe postkolonialer Staaten und haben darüber hinaus wiederkehrende Konflikte entlang umstrittener Grenzgebiete im Himalaya, wie zuletzt 2020 und 2021. China ist im Gegensatz zu Russland gegenüber den Taliban diplomatisch zurückhaltend, da Peking befürchtet, dass die neuen Machthaber in Kabul weiterhin dschihadistische Gruppen aus dem Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang unterstützen oder ihnen Unterschlupf in Afghanistan gewähren. Erste Anzeichen sprechen dafür, dass sich Chinas zögerliche Haltung gegenüber Afghanistan negativ auf die wirtschaftlichen Beziehungen auszuwirken beginnt, die Peking unterhalb der Schwelle einer offiziellen Anerkennung mit den Taliban unterhält. So haben die Taliban im Juni einen 2023 unterzeichneten Vertrag im Wert von 540 Millionen US-Dollar mit der Xinjiang Central Asia Petroleum and Gas Company aufgekündigt, da die Firma ihrer Investitionsverpflichtung zur Entwicklung der Ölfelder im nordafghanischen Amu-Darja-Becken bisher nicht nachgekommen sei.
Vor diesem internationalen Gesamthintergrund wird deutlich, dass Russlands offizielle Anerkennung der Taliban kein strategischer Schritt im Rahmen einer engen Koordination mit eurasischen Partnern war, sondern es sich vor allem um einen ideologischen Akt mit Symbolkraft gehandelt hat. Moskau möchte damit vor allem seine Unabhängigkeit von westlichen Normen unterstreichen, aber auch einen neuen Verbündeten in Zentralasien gewinnen, um die Südflanke des postsowjetischen Raumes zu stärken. Nachdem US-Präsident Donald Trump mehrfach angekündigt hat, die 2021 von der US-Armee aufgegebene Bagram Air Base nördlich von Kabul von den Taliban zurückfordern zu wollen, kann der Schritt auch als Versuch Moskaus gewertet werden, US-amerikanischen Interessen in Afghanistan zuvorzukommen. Das ist vor allem mit Hinblick auf Moskaus Bestrebungen relevant, Afghanistan als Transitraum für den russischen Energiehandel mit Südasien zu erschließen. So haben sich Putin und der pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif erst im September auf eine Ausweitung der Zusammenarbeit im Energiebereich verständigt, wobei Islamabad den Import von russischem Öl und Gas massiv erhöhen möchte. Dafür muss jedoch zuerst die trans-afghanische Exportroute ausgebaut und konsolidiert werden. Die offizielle Anerkennung der Taliban ist somit auch Teil der russischen geoökonomischen Agenda zur Diversifizierung von Absatzmärkten und Exportrouten. Jedoch bindet sich der Kreml damit auch an ein volatiles und unberechenbares Regime, das nur leidlich als verlässlicher Partner für regionale Stabilität und Sicherheit gelten kann. So unterhalten die Taliban nicht nur weiterhin enge Kontakte mit ihrem pakistanischen Ableger, der Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP), sondern unterstützen diese aktiv in ihrem Aufstand gegen den pakistanischen Staat, um die Föderalregierung in Islamabad zu schwächen und unter der paschtunischen Bevölkerung in der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa an Einfluss zu gewinnen. Wie vorherige afghanische Regierungen bestreiten die Taliban die Rechtmäßigkeit der 1893 etablierten Durand-Linie, die heute als internationale Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan fungiert, und stellen damit indirekt Pakistans territoriale Integrität infrage.
Die Taliban-Kontroverse innerhalb des russischen Staatsapparats
Wie bereits angemerkt, war die Entscheidung Moskaus, die Taliban im Juli 2025 offiziell anzuerkennen, das Ergebnis eines komplexen Kompromisses zwischen rivalisierenden Machtzentren innerhalb des russischen politischen Systems. Die Bruchlinie verläuft dabei weniger entlang von Parteizugehörigkeiten als eher zwischen staatlichen Institutionen als solchen. Von Beginn an standen sich die Positionen wichtiger Machtakteure des russischen Staatsapparates diametral gegenüber. So hat das Außenministerium seit der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 auf einen Ausbau der Kontakte und eine formelle Anerkennung gedrängt, um die anti-westliche »multipolare Front« sowie den russischen Einfluss in Zentral- und Südasien zu stärken. Im Gegensatz dazu warnten die Sicherheitsbehörden eindringlich vor den Gefahren, die von in Afghanistan aktiven Terrorgruppen ausgingen – insbesondere vor dem ISKP und der Jamaat Ansarullah, die sich beide zu einem großen Teil auf ethnisch tadschikische Kämpfer aus Afghanistan und Tadschikistan stützen. Aufgrund der gut dokumentierten Zusammenarbeit zwischen den Taliban und der Jamaat Ansarullah herrscht im russischen Sicherheitsapparat ein tiefes Misstrauen gegenüber den Taliban, die dort nicht als Partner, sondern als Problem im Anti-Terror-Kampf gesehen werden. Vor allem das russische Verteidigungsministerium hat seit 2021 entsprechende Bedenken geäußert und regelmäßig gegenüber den Mitgliedern der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) kommuniziert.
Die Risikoeinschätzung des russischen Verteidigungsministeriums zu den Taliban wurde insbesondere von Tadschikistan geteilt, das als einziges OVKS-Mitglied direkt an Afghanistan grenzt und vor allem in der in Nordafghanistan aktiven Jamaat Ansarullah eine Bedrohung sieht. Die Jamaat Ansarullah wurde 2006 von dem tadschikischen Staatsbürger Amriddin Tobarow gegründet; Tobarow war während des tadschikischen Bürgerkriegs ein Kommandant der Vereinigten Tadschikischen Opposition. Er gehörte zu einer Gruppe von Kämpfern, die das tadschikische Friedensabkommen von 1997 nicht akzeptierten und sich stattdessen nach Afghanistan abgesetzt haben, um einer Entwaffnung durch die tadschikische Regierung zu entgehen. Seitdem ist es erklärtes Ziel der Jamaat Ansarullah, die Republik Tadschikistan zu stürzen und an deren Stelle ein Islamisches Emirat zu errichten. Aus diesem Grund stand Duschanbe jeglicher Kooperation mit den Taliban extrem ablehnend gegenüber und hat stattdessen seit 2021 eine Reihe demonstrativer OVKS-Militärmanöver an der Grenze abgehalten, um Gruppen wie die Jamaat Ansarullah von Übergriffen auf tadschikisches Territorium abzuschrecken. Seit 2023 kooperiert Duschanbe allerdings zunehmend pragmatisch mit den Taliban, was vor allem daran liegt, dass auch Tadschikistan wirtschaftliche und infrastrukturelle Interessen in Afghanistan verfolgt (Mielke 2024). Der Wandel der tadschikischen Afghanistan-Politik seit 2023 hat indirekt auch das russische Außenministerium in seiner Position gestärkt, dass es sich bei den Taliban um einen pragmatischen Akteur handelt, mit dem Russland kooperieren könne und solle.
Wie stark sich das russische Außenministerium seitdem mit seiner politisch-ideologischen Rhetorik gegenüber den konkreten Bedenken der Sicherheitsbehörden durchsetzen konnte, zeigt auch die offizielle Reaktion nach dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall im März 2024. Während westliche Nachrichtendienste und unabhängige Beobachter schnell auf eine Verbindung der Täter zum ISKP in Afghanistan hinwiesen, wurde in der offiziellen russischen Darstellung die ukrainische Regierung verantwortlich gemacht. Auf diese Weise hat der Kreml den Anschlag nicht nur für seine hybride Kriegsführung gegen die Ukraine instrumentalisiert, sondern konnte so auch von unangenehmen sicherheitspolitischen Implikationen hinsichtlich der russischen Zusammenarbeit mit den Taliban und der Situation in Afghanistan ablenken. Im Kontrast dazu haben russische Analysten wie Andrei Serenko wiederholt vor der engen Verflechtung zwischen dem ISKP und dem Haqqani-Netzwerk, einem semi-autonomen Ableger der Taliban, gewarnt. Serenkos Einschätzung zufolge sind die Taliban nicht nur nicht in der Lage, den transnationalen Dschihadismus in Afghanistan zu bekämpfen, sondern pflegen in vielen Fällen sogar selbst operative Kontakte zu entsprechenden Gruppen. Dadurch setzt sich Russland mit einer Annäherung an die Taliban selbst einem Sicherheitsrisiko aus (News.ru 2024; Serenko 2024; Serenko 2025). Trotz solcher fundierter Analysen seitens russischer Sicherheitsexperten konnte sich das Außenministerium mit seiner ideologisch motivierten Linie am Ende durchsetzen, was auf eine fortdauernde Fragmentierung zentraler Entscheidungsprozesse im russischen Staatsapparat hindeutet.
Sicherheitsimplikationen der offiziellen Anerkennung für Zentralasien
Zum Schluss bleibt die Frage, ob die offizielle russische Anerkennung der Taliban tatsächlich mit Sicherheitsrisiken für die postsowjetischen Staaten in Zentralasien einhergeht. In vertraulichen Gesprächen haben sowohl russische als auch zentralasiatische Experten gegenüber dem Autor immer wieder die Sorge geäußert, dass Moskaus Anerkennung der Taliban die Gefahr von Terrorismus und Instabilität in der Region eher verstärkt als verringert. Trotz der wiederholten Beteuerungen der Taliban, im Einklang mit dem Doha-Abkommen von 2020 keine transnationalen Terrorgruppen auf afghanischem Territorium zu dulden, bestehen weiterhin enge und dauerhafte Verbindungen zu radikalen Gruppen wie al-Qaida, der TTP, Jamaat Ansarullah, den Überresten der Islamischen Bewegung Usbekistans (IMU) sowie dem russischen »Kaukasus-Emirat« (Imarat Kavkaz). Afghanistan dient diesen Gruppierungen weiterhin als Rückzugsraum und als Territorium für die Rekrutierung und Ausbildung von Kämpfern sowie für die Vorbereitung von Anschlägen. Dieses Risiko besteht auch weiterhin für die zentralasiatischen Nachbarstaaten, für Russlands südliche und zentrale Regionen und perspektivisch auch für Europa.
Entgegen der russischen Begründung, die Taliban aufgrund ihrer faktischen Herrschaft anzuerkennen, kontrollieren die Taliban nicht ganz Afghanistan. Vor allem die andauernden, wenn auch mittlerweile nur noch im Untergrund organisierten Aktivitäten des ISKP belegen, dass die Taliban bisher nicht in der Lage waren, ihre Herrschaft flächendeckend durchzusetzen. Trotz entsprechender Erklärungen ist es den Taliban noch nicht gelungen, den ISKP zu zerschlagen. Diese anhaltende Unsicherheit ist nicht nur ein Hindernis für wirtschaftliche Projekte und die Anziehung von Investitionen, sondern lässt auch Zweifel an der Verlässlichkeit Afghanistans als Transitzone für den russischen Gütertransport zwischen Zentral- und Südasien aufkommen.
Ein weiterer Punkt betrifft Russlands Selbstanspruch, der primäre Sicherheitsgarant in Zentralasien zu sein. Schon lange vor 2022 begannen die zentralasiatischen Staaten, ihre militärische Abhängigkeit von Russland mittels Diversifizierung ihrer internationalen Sicherheits- und Rüstungspartnerschaften zu verringern. Spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine 2022 wird Russland in Zentralasien nunmehr selbst als erhebliches Sicherheitsrisiko und potenzielle Gefahr für die regionale Stabilität wahrgenommen, gegenüber der man sich so weit wie möglich absichern will. Die offizielle Anerkennung der Taliban versetzt der russischen Glaubwürdigkeit in Zentralasien einen weiteren Schlag, nachdem sich Moskau jahrzehntelang als Partner im Kampf gegen den militanten Islamismus inszeniert hatte (vgl. Klimentov 2022). Schließlich erzeugt dieser abrupte Kurswechsel einen ideologischen Widerspruch zwischen Moskaus neuer offizieller Partnerschaft mit der islamistischen Regierung in Kabul und dem langjährigen sicherheitspolitischen Engagement im Rahmen der OVKS zur Stärkung der postsowjetischen Südflanke in Zentralasien. Aus Sicht der zentralasiatischen Staaten wirkt Russlands Entscheidung daher wie eine Bestätigung ihrer bereits verfolgten Strategie, sich durch die multivektorale Diversifizierung internationaler Partnerschaften gegenüber Russland abzusichern und den eigenen außenpolitischen Handlungsspielraum so weit wie möglich zu erweitern. In diesem Zusammenhang werden Staaten wie China und die Türkei, aber auch westliche Länder für Zentralasien wichtige Partner bleiben, um den andauernden russischen Einfluss in der Region auszubalancieren. Währenddessen werden die zentralasiatischen Regierungen ihre eigene wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Taliban fortsetzen, sich dabei jedoch weiterhin so gut wie möglich gegen Sicherheitsrisiken aus Afghanistan absichern.
Fazit
Die offizielle Anerkennung der Taliban durch Russland lässt sich kaum als strategischer Erfolg deuten, auch wenn strategische Motive eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu diesen Motiven gehören die geopolitische Rivalität mit den Vereinigten Staaten, die Aussicht auf eine neue trans-afghanische Transitroute für den Energiehandel mit Pakistan sowie die Suche nach neuen Verbündeten, nachdem sich die zentralasiatischen Staaten seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 gegenüber Russland abzusichern versuchen. Zumindest im russischen Sicherheitsapparat herrscht hingegen weiterhin die Meinung vor, dass diese Motive angesichts der konkreten Sicherheitsrisiken keine offizielle diplomatische Zusammenarbeit mit den Taliban rechtfertigen. In diesem Zusammenhang offenbart der Vorgang die zunehmende Dysfunktionalität der russischen Außen- und Sicherheitspolitik und die Fragmentierung staatlicher Entscheidungsprozesse entlang divergierender Ziele und Prioritäten von Außenministerium und Sicherheitsbehörden. Schließlich ist die offizielle Anerkennung auch ein Ausdruck der Art und Weise, wie sich alle strategischen und sicherheitspolitischen Interessen der anti-westlichen Ideologie unterzuordnen haben, die mittlerweile alle Bereiche des russischen Staatsapparates durchdringt. Für jene Teile der russischen Regierung, die sich mit der offiziellen Anerkennung durchsetzen konnten, demonstriert dieser Schritt Russlands Unabhängigkeit von westlichen Normen auf dem Weg zu einer »multipolaren Welt«. Abseits dieser hochideologischen Logik wird jedoch schnell deutlich, dass Moskau derzeit keine belastbare Regionalstrategie für Zentralasien vorweisen kann und große Probleme damit hat, einen wirksamen Umgang mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen an der Südflanke des postsowjetischen Raums zu finden.
Für Zentralasien sind die Folgen nicht minder ambivalent. Moskau hat eine lange Tradition, sich mit Hinblick auf den »Afghanistan-Faktor« als verlässlicher Sicherheitspartner für die zentralasiatischen Staaten darzustellen. Mit der offiziellen Anerkennung eines islamistischen Regimes wird diese russische Selbstdarstellung weiter infrage gestellt. Unterdessen setzen die zentralasiatischen Staaten ihre Suche nach verlässlichen internationalen Partnerschaften fort, wobei zuletzt auch die intraregionale Zusammenarbeit zum Zweck der gegenseitigen Förderung von Stabilität intensiviert wurde. Anstatt die klaffende Diskrepanz zwischen Russlands ideologischen Gesten und strategischen Erwägungen einfach hinzunehmen, fangen die zentralasiatischen Staaten lieber an, sich selbst um ihre Sicherheit zu kümmern. Mit dem sinkenden Vertrauen der zentralasiatischen Staaten gegenüber Moskau nimmt auch der russische Einfluss in Zentralasien weiter ab, während die Region fortwährend ihre strategische Autonomie festigt.
Aus dem Englischen von Rostam Onsori