Von der »Operation Enduring Freedom« zur »New Silk Road«: Eine Historisierung der US-Außenpolitik in »Greater Central Asia«
Nach 9/11 ist Zentralasien erneut in den Fokus von Washington gerückt. Noch seit den späten 1990er Jahren war das US-amerikanische Engagement in Zentralasien rückläufig, da Washington über die ausbleibende Transformation postsowjetischer Staaten zu liberalen Demokratien und Marktwirtschaften zunehmend frustriert war (Cooley 2012, S. 20). Die Anschläge in New York vom 11. September 2001 markierten auch für die außenpolitischen Prioritäten der Vereinigten Staaten in Zentralasien eine tiefgreifende Zäsur. Mit einem Schlag rückte die Region ins Zentrum der Aufmerksamkeit für den anrollenden »Global War on Terror«. Nachdem das Bündnis aus Nordallianz und internationaler Koalition das erste Taliban-Regime im Rahmen der »Operation Enduring Freedom« Ende 2001 gestürzt hat, stand das US-amerikanische Engagement in Zentralasien ganz im Zeichen der internationalen Bemühungen, Afghanistan und die neue Übergangsregierung des Landes zu stabilisieren. In diesem Zusammenhang bemühte sich Washington bei den zentralasiatischen Staaten schnell um Zugang zu Militärbasen und Infrastruktur zur Sicherstellung der eigenen Nachschubrouten. Die Beziehungen zwischen Zentralasien und Washington kühlten sich jedoch bereits 2005 wieder ab, da das US-amerikanische Engagement von den Regierungen in der Region zunehmend mit gesellschaftlicher Einflussnahme und politischer Destabilisierung assoziiert wurde (Cooley 2012, S. 49).
Gleichzeitig blieb die Einbindung Zentralasiens in den »Global War on Terror« unter der US-amerikanischen Expertengemeinschaft nicht unbeachtet, was zur Ausarbeitung neuer strategischer Konzepte führte. Zu dieser Zeit entwarf S. Frederick Starr, ein prominenter Historiker und außenpolitischer Berater in Washington für den postsowjetischen Raum, die Vision einer neuen Rolle für die Vereinigten Staaten in Zentralasien. In einem Policy Paper aus dem Jahr 2005 präsentierte Starr die Islamische Republik Afghanistan der Post-Taliban-Ära als Schlüsselland einer wirtschaftlichen Integration zwischen Zentral- und Südasien – ein konzeptueller Raum, den er »Greater Central Asia« nannte. Nach seiner Vorstellung sollte sich die US-Außenpolitik in diesem Raum auf die Förderung von grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen, Verkehrsverbindungen, Energieflüssen sowie der internationalen wirtschaftlichen Kooperation konzentrieren. Laut Starr könne Washington auf diese Weise langfristige Stabilität in Afghanistan und der gesamten Region herstellen – auch über einen späteren US-Truppenabzug hinaus. Zugleich würde dieser Ansatz gewährleisten, dass die zentralasiatischen Regierungen den Vereinigten Staaten gegenüber freundlich eingestellt bleiben und sich weiterhin im »War on Terror« engagieren.
Starrs Vision eines »Greater Central Asia« wurzelte in seiner langjährigen Arbeit an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politikberatung während des Kalten Krieges. 1974 war er einer der Mitbegründer des in Washington ansässigen Kennan Institute, das sich zu einer der einflussreichsten US-amerikanischen Denkfabriken zur Sowjetunion und später den postsowjetischen Staaten entwickelte. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie maßgeblich Starrs Konzept eines »Greater Central Asia« durch sein Verständnis von sowjetischer Geschichte und postsowjetischer Politik in Zentralasien geprägt wurde. So argumentierte Starr, dass die sowjetischen Grenzziehungen eine wirtschaftliche Integration zwischen Zentral- und Südasien behindert und Moskau die zentralasiatischen Sowjetrepubliken somit von sich abhängig gemacht hätte. Im Kontext dieses historischen Verständnisses warnte er in den 2000er Jahren auch vor einer erneuten russischen Einflussnahme in Zentralasien, sobald die Vereinigten Staaten aus Afghanistan abziehen würden. Aus seiner Sicht beinhaltete »Greater Central Asia« das Versprechen, diese postsowjetischen Abhängigkeiten zu überwinden und die Region dauerhaft aus dem russischen Einflussbereich herauszuführen.
»Greater Central Asia« bildete schließlich auch das ideelle Rückgrat der »New Silk Road Initiative«, die 2011 von der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton in der südindischen Stadt Chennai angekündigt wurde. Die Initiative repräsentierte Washingtons De-facto-Regionalstrategie für Zentralasien nach dem zeitgleich von der Obama-Administration eingeleiteten Truppenabzug aus Afghanistan. Donald Trump hat sie während seiner ersten Amtszeit als US-Präsident zwischen 2017 und 2021 dann erneut aufgegriffen (PTI 2017). Wie das ihr zugrundeliegende Regionalkonzept zielte die Initiative darauf ab, durch eine wirtschaftliche Integration von Zentral- und Südasien und die Förderung von grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen US-amerikanische Interessen im postsowjetischen Raum zu verfolgen, vor allem hinsichtlich regionaler Stabilität, wirtschaftlicher Reformen und der Stärkung von Institutionen. Dieser neuen US-Strategie in Zentralasien ging eine interne Umstrukturierung des außenpolitischen Apparates voraus: bereits 2005 wurde das Office of Central Asian Affairs aus dem Bureau of European and Eurasian Affairs herausgelöst und mit dem Bureau of South Asian Affairs fusioniert. Der erfahrene Diplomat Richard A. Boucher wurde daraufhin der erste Assistant Secretary of State für das neue Bureau of South and Central Asian Affairs. In dieser Funktion wurde er auch ein früher Unterstützer der Idee eines »Greater Central Asia«. Auf der 2006 von Starr mitorganisierten »First Kabul Conference on Partnership, Trade, and Development in Greater Central Asia« nahm neben einer Reihe regionaler und internationaler Akteure auch Boucher teil. Er nutzte seine Ansprache dafür, die Verpflichtung seines Büros für die Förderung der wirtschaftlichen Konnektivität zwischen Zentral- und Südasien zum Ausdruck zu bringen.
Der Beitrag möchte zeigen, dass die »New Silk Road Initiative« nicht nur in Strukturen der US-amerikanischen Wissensproduktion über die ehemalige Sowjetunion eingebettet war, sondern maßgeblich auf transnationalen Verbindungen und Netzwerken aufbaute, die lange vor dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind. Am Beispiel der Konferenz in Kabul von 2006 soll verdeutlicht werden, wie zentralasiatische Spezialisten auf ihre historisch vermittelten Erfahrungen aus vorherigen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit zurückgriffen, durch die bereits der sowjetische Staat den grenzüberschreitenden Handel, die Bildungskooperation und den technologischen Austausch mit Afghanistan fördern wollte – Strukturen, die teilweise bis in die frühen 1960er Jahre zurückreichen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich die US-amerikanische »New Silk Road« zwar als historisch neuartige Initiative inszenierte, paradoxerweise jedoch auf genau jenem postsowjetischen Vermächtnis beruhte, das sie eigentlich überwinden wollte.
Eine »einmalige« historische Gelegenheit – oder lediglich konvergierende Interessen? Die »First Kabul Conference on Partnership, Trade, and Development in Greater Central Asia« von 2006
In seinem im März 2005 veröffentlichten Strategiepapier A ‘Greater Central Asia Partnership’ for Afghanistan and Its Neighbors skizziert S. Frederick Starr die Vision einer von den Vereinigten Staaten geförderten regionalen Integration, die sowohl einen makroökonomischen Gesamtraum zwischen Zentralasien und Afghanistan etabliert, als auch regionale Sicherheit für die Zeit nach der »Operation Enduring Freedom« gewährleisten soll (Starr 2005, S. 27). Dreizehn Monate später, im April 2006, war Starr einer der Mitorganisatoren der First Kabul Conference on Partnership, Trade, and Development in Greater Central Asia, um seine Konzepte in einem erweiterten Kreis regionaler und internationaler Akteure zu diskutieren. Insgesamt nahmen über 60 Teilnehmer aus 16 Ländern sowie von internationalen Organisationen, wie der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank, teil. Ausgerichtet wurde die Konferenz vom Central Asia-Caucasus Institute (CACI), einer 1996 von Starr gegründeten Denkfabrik in den Vereinigten Staaten, und dem 2003 in Kasachstan gegründeten Institute of World Economy and Policy (IWEP). Die Ergebnisse der Konferenz wurden 2007 im Sammelband The New Silk Roads. Transport and Trade in Greater Central Asia veröffentlicht (Starr 2007).
Zwar sollte laut Ankündigung Afghanistan im Mittelpunkt der Konferenz stehen, Eröffnungsreden wurden jedoch nur von offiziellen Vertretern der Vereinigten Staaten und von Kasachstan gehalten, wodurch diese Akteure für sich eine gewisse Vorrangstellung bei der regionalen Politikgestaltung signalisierten. Kasachstans damaliger Außenminister (und heutiger Präsident) Kassym-Dschomart Tokajew präsentierte Afghanistan als »Vereiniger« einer einst kohärenten Region, die durch externe Eingriffe zersplittert worden sei, und sicherte Kasachstans Unterstützung für regionale Integrationsprojekte in den Bereichen Energie, Handel und Infrastruktur zu (Norling 2006, S. 8). An Tokajew anschließend betonte Richard A. Boucher, der damalige Assistant Secretary of State for South and Central Asian Affairs, Washingtons Unterstützung für die regionale Integration zwischen Zentralasien und Afghanistan durch die Schaffung neuer Handels- und Transportnetzwerke, wobei er die Frage nach institutionellen Kapazitäten, Investitionsklima und Transparenz mit US-amerikanischen Prioritäten in den Bereichen Sicherheit, Reformen und Rechtsstaatlichkeit verknüpfte.
Im impliziten Widerspruch zur Binnenlogik der Konferenz, regionale Integration durch grenzüberschreitende Netzwerke fördern zu wollen, haben sowohl Boucher als auch Starr eine starke Betonung auf die nationale Souveränität der postsowjetischen Staaten Zentralasien gelegt, um sie als eigenständige Akteure jenseits ihrer sowjetischen Vergangenheit zu präsentieren. So hat Boucher auch die interne Umstrukturierung des US-Außenministeriums und die Schaffung des Bureau of South and Central Asian Affairs mit der Anerkennung postsowjetischer Eigenständigkeit durch die US-amerikanische Seite erklärt. Angesichts der vielfältigen Konferenzteilnehmer hat Starr wiederum den übermäßig strategischen Ton seines vorherigen Policy Papers in einem neuen Narrativ aufgelöst, das globale ökonomische Prozesse als Ergebnis vermeintlich »natürlicher« bzw. historisch notwendiger Kräfte darstellt. Diese Uneindeutigkeit hinsichtlich seiner eigenen strategischen Konzepte hat schließlich auch seine akademische Herkunft sowie seine ambivalente Stellung innerhalb der US-amerikanischen »Sowjetologie« während der Hochphase des Kalten Krieges widergespiegelt.
In den späten 1970er Jahren kam es zu einer tiefgreifenden Krise der bis dahin verfolgten Entspannungspolitik im Kalten Krieg, woraufhin sich die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion drastisch verschlechterten. Im Gegensatz zu anderen einflussreichen »Sowjetologen« trat Starr für die Fortführung wissenschaftlicher Kontakte und den weiteren akademischen Austausch mit der Sowjetunion ein – eine Haltung, die er später überdenken würde. In einem Webinar vom November 2024 hat Starr die damalige wissenschaftliche Vernachlässigung des sowjetischen Zentralasiens an US-Universitäten beklagt und Bedauern darüber geäußert, damals nicht enger mit Kollegen wie Richard Pipes, Paul Henze und Alexandre Bennigsen zusammengearbeitet zu haben (Woodrow Wilson Center 2024). Bei diesen handelt es sich um eine damalige Gruppe von überzeugten antisowjetischen Wissenschaftlern, die für eine aggressive politische Schwächung der Sowjetunion eintraten, die ihrer Meinung nach mittels aktiver Förderung des politischen Islam im sowjetischen Zentralasien erreicht werden könne (zum tatsächlichen Einfluss von akademischen »Kalten Kriegern« wie Pipes, Henze und Bennigsen auf die damalige US-Regierung siehe Kalinovsky 2015; zur diskreditierten Stellung der »Bennigsen-Schule« in der heutigen Zentralasien-Forschung siehe Khalid 2021). Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion verlagerte Starr seinen Fokus von Russland auf postsowjetische »Peripherien« wie Zentralasien, wobei er sein umfangreiches persönliches Netzwerk weiterhin für den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Politik nutzte.
Mit seinem Konzept eines Greater Central Asia wollte Starr das Erbe der sowjetischen Grenzziehungen, komplexe regionale Abhängigkeiten von Moskau sowie intraregionale Hierarchien überwinden. Aus seiner Sicht bot Afghanistan nach dem Sturz der Taliban 2001 eine »einmalige historische Gelegenheit«, seine Vision praktisch umzusetzen. Durch die Betonung von überwiegend wirtschaftlichen Argumenten für die regionale Integration wurde Demokratieförderung zur Nebensache, stattdessen lag der Fokus auf Zolleinnahmen, Transitgebühren und Exporterlösen. Seiner Ansicht nach erforderte ein regionales Umfeld, das »freien Handel« und »freie Märkte« begünstigt, jedoch weitreichende staatliche Maßnahmen, wie etwa bereits beim Beitritt Kirgistans zur Welthandelsorganisation 1998. Nach seiner Auffassung würden sich die Schaffung günstiger Bedingungen für den regionalen Handel und die Stabilisierung Afghanistans am Ende gegenseitig verstärken.
Die verflochtene Geschichte zwischen dem sowjetischen Zentralasien und Afghanistan: Der blinde Fleck der »New Silk Road«
Starrs Behauptung, die Sowjetunion habe Zentralasien von seinen Nachbarregionen isoliert, steht in deutlichem Kontrast zu den Biografien zahlreicher zentralasiatischer Entwicklungsspezialisten, die an der Kabul-Konferenz 2006 teilgenommen haben. Ein exemplarisches Beispiel ist der tadschikische Ökonom Chodschimuhammad Umarow, der zu jener Zeit die Abteilung für makroökonomische Studien am Forschungsinstitut des tadschikischen Handels- und Wirtschaftsministeriums geleitet hat. Sein Werdegang verdeutlicht, wie Verbindungen zwischen Zentral- und Südasien bereits durch den sowjetischen Staat gefördert wurden und dass derartige Konzepte zur Zeit der Kabul-Konferenz 2006 keineswegs neu waren.
Umarows Karriere war seit den 1980er Jahren stark von sowjetischen Strukturen akademischer Mobilität und transnationalen Austauschs geprägt. Nach der Erlangung seines Doktortitels in ländlicher Entwicklung im Jahr 1987 nahm er an zahlreichen wissenschaftlichen Konferenzen innerhalb und außerhalb der Sowjetunion teil, wo er in einen intensiven Austausch mit internationalen Kollegen trat. Besonders prägend waren Begegnungen mit indischen Ökonomen in den 1980er-Jahren, die das Denken des tadschikischen Experten nachhaltig beeinflussten (Kalinovsky 2018, S. 213). Gleichzeitig etablierte sich Umarow in der späten Tadschikischen SSR als eine der öffentlichen Stimmen, welche die sowjetische Wirtschaftspolitik in Zentralasien kritisierten. Mit Ausbruch des Bürgerkrieges in Tadschikistan Anfang der 1990er Jahre zog Umarow nach Russland, wo er für eine Frachtfluggesellschaft tätig war, die Waren nach Indien transportierte – eine Anstellung, die er dank seiner Englischkenntnisse und der Unterstützung eines ehemaligen Kommilitonen erhielt (Kurbanova 2015). Nach seiner Rückkehr nach Tadschikistan wurde er Teil eines lokalen Expertennetzwerkes, das internationale Organisationen bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beriet. Beispielsweise war er 2005, ein Jahr vor der Kabul-Konferenz, Mitglied einer Gruppe, die das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) für die Erstellung des Central Asia Human Development Report zur Situation des regionalen Handels beraten hat. Insgesamt bietet Umarows Lebensweg, wenngleich ein herausragendes Beispiel, wertvolle Einblicke in die sowjetischen und postsowjetischen Strukturen der Konnektivität zwischen Zentral- und Südasien.
Seit den frühen Tagen der Oktoberrevolution hat die sowjetische Führung die Region Zentralasien durch das Prisma ihrer vielfältigen kulturellen, linguistischen und historischen Verbindungen mit dem Mittleren Osten und Südasien betrachtet. In diesem Zusammenhang diente sowjetische Außenpolitik nicht nur der Förderung des staatssozialistischen Gesellschaftsmodells im Ausland, sondern auch der Projektion von sowjetischem Einfluss in benachbarte asiatische Regionen (Kirasirova 2024). Der Internationalismus des sowjetischen Zentralasiens wurde zwar primär durch staatliche Institutionen sowie offizielle Handels- und Kooperationsabkommen vermittelt, umfasste jedoch auch bedeutende persönliche Kontakte und Interaktionen im kulturellen Bereich, wie die Freundschaft zwischen tadschikischen und pakistanischen Schriftstellern (O’Connor 2025). Während des Kalten Krieges vertieften sich insbesondere die sowjetisch-afghanischen Beziehungen, etwa durch die Ausbildung afghanischer Studenten an Hochschulen in der Tadschikischen SSR und anderen Sowjetrepubliken (Emadi 1998, S. 115). Sowjetische Entwicklungsprogramme und großangelegte Infrastrukturprojekte in Zentralasien wurden häufig mit Blick auf die Stärkung der grenzüberschreitenden Entwicklungszusammenarbeit konzipiert. Ein Beispiel ist der Bau des Nurek-Staudamms in der Tadschikischen SSR ab 1961, der nicht nur die aufkommende tadschikische Industriebranche mit Strom versorgen, sondern auch als technologisches Vorbild für sowjetische Staudammprojekte in Afghanistan dienen sollte (Kalinovsky 2018, S. 86; Ohlendorf 2023, S. 78). Die sowjetische Intervention in Afghanistan zwischen 1979 und 1989 hat diese Verflechtungen weiter intensiviert: Nordafghanistan wurde durch den Bau neuer Übertragungsleitungen bis 1985 an das zentralasiatische Stromnetz angeschlossen, während grenzüberschreitende Eisenbahnstrecken, Straßen und Brücken über den Amu-Darja über die gesamte Zeit des Krieges hinweg die Grundlage der sowjetischen Logistik bildeten.
Umarows Vorschläge auf der Kabul-Konferenz von 2006 reflektieren dieses historische Vermächtnis. So plädierte er etwa für gemeinsame Staudammprojekte und Stromhandel zwischen Afghanistan und Tadschikistan, die Ausbildung afghanischer Fachkräfte an tadschikischen Hochschulen sowie die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone im Autonomen Gebiet Berg-Badachschan, um den grenzüberschreitenden Handel mit der afghanischen Provinz Badachschan zu fördern. Dafür betonte er, wie geografische Nähe und historische Verbindungen sowie gemeinsame Sprachen und Kulturen den grenzüberschreitenden Austausch und die regionale Stabilität fördern können. In diesen Vorstellungen drücken sich schließlich frühere Konzepte der sowjetischen Entwicklungszusammenarbeit aus, jedoch in einer neu gerahmten Weise, um dem neoliberalen Diskurs der 2000er Jahre über wirtschaftliche und finanzielle Deregulierung, freie Märkte und offene Grenzen für den ungehinderten Austausch von Waren und Kapital zu entsprechen. Umarows Fall zeigt eindrücklich, wie sowohl sowjetische als auch postsowjetische Entwicklungsexpertise nach 1991 durch lokale Spezialisten vermittelt wurde und wie weit diese davon entfernt waren, lediglich passive Empfänger externer Entwicklungspraktiken zu sein. Stattdessen nutzten zentralasiatische Experten ihre Netzwerke, ihr technisches Wissen und ihr historisches Verständnis, um die postsowjetische regionale Integration entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen zu gestalten. Folglich musste keiner der zentralasiatischen Teilnehmer der Kabul-Konferenz von den Vorteilen regionaler Integration und grenzüberschreitenden Handels überzeugt werden. Vielmehr nutzten lokale Akteure die Konferenz, um zu erörtern, wie regionale Integration umgesetzt werden könnte. Dabei griffen sie auf teilweise lebenslange Arbeitserfahrung und jahrzehntelange Verbindungen zwischen Zentral- und Südasien zurück, die bereits vom sowjetischen Staat gefördert worden waren.
Fazit
In seinem 2016 veröffentlichten Artikel »Actually existing silk roads« kritisiert der Sozialanthropologe Magnus Marsden, dass zeitgenössische Konnektivitätsinitiativen wie die US-amerikanische »New Silk Road« bestehende Handelsnetzwerke missachten und infrastrukturelle Großprojekte gegenüber tatsächlichen Mobilitäten priorisieren. Die »First Kabul Conference on Partnership, Trade, and Development in Greater Central Asia« von 2006 zeigt jedoch, dass internationale und staatliche Initiativen keineswegs blind für bestehende Netzwerke waren oder gänzlich losgelöst von gelebten Realitäten operierten. Im Gegenteil: Frühere Mobilitäten und Austauschprozesse haben maßgeblich die Art und Weise geprägt, wie die Konferenzteilnehmer regionale Integration konzipierten. So erkannten beispielsweise Vertreter der Weltbank – eine der für regionale Konnektivitätsprojekte verantwortlichen Organisationen – explizit bestehende informelle Handelsnetzwerke an und sahen in diesen eine Ressource für die regionale Integration. Gleichzeitig waren sie der Meinung, dass diese Netzwerke unzureichend seien, um nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum zu generieren, und aufgrund ihrer Informalität mit potenziellen Sicherheitsrisiken einhergehen. Die Schaffung von »Greater Central Asia« umfasste somit auch den Versuch, bestehende Mobilitäten und Verbindungen entsprechend zu transformieren.
Die maßgebliche Rolle von zentralasiatischen Experten wie Chodschimuhammad Umarow auf der Konferenz verdeutlicht, dass »Greater Central Asia« weder ein rein von den Vereinigten Staaten initiiertes, noch ein regional gänzlich neuartiges Vorhaben war. Vielmehr haben die Teilnehmer regionale Integration im Kontext von historisch vermittelten Arbeitserfahrungen und Entwicklungspraktiken diskutiert. Im Ergebnis wurde eine zeitgenössische Entwicklungsagenda auf bereits bestehende Infrastrukturen, Netzwerke und Wissensbestände geschichtet, die zusammen das greifbare Vermächtnis der sowjetischen Regionenbildung zwischen Zentralasien und Afghanistan während des Kalten Krieges darstellen. S. Frederick Starrs ursprüngliche Darstellung von »Greater Central Asia« als einer historisch einzigartigen Chance für regionale Integration musste diese tiefen historischen Kontinuitäten außer Acht lassen, während seine Strategie doch auf ihnen aufbaute. Die mangelnde Berücksichtigung der strukturellen Kraft von regionaler Geschichte ist einer der Gründe, warum sich die »New Silk Road« letztlich nicht materialisiert hat – neben geopolitischen Faktoren, Unterfinanzierung und dem Krieg in Afghanistan selbst (Stronski 2017; Hunt 2025). Hierbei wird deutlich, dass diese Kontinuitäten berücksichtigt werden müssen, wenn man die komplexe Art und Weise verstehen will, wie historische Strukturen und zukunftsorientierte Entwicklungsvisionen weiterhin die fortdauernde Regionenbildung zwischen Zentralasien und dem seit 2021 wieder von den Taliban regierten Afghanistan prägen (vgl. Mielke 2024).
Aus dem Englischen von Rostam Onsori
Der Beitrag basiert auf dem Kapitel »Old Routes, New Rhetoric: Soviet Legacies in Central Asian Regional Integration« im »Yearbook for the History of Global Development. Volume 4: Development and Transition: International Organizations and Post-Socialist Eurasia«, herausgegeben von Artemy M. Kalinovsky und Eva Rogaar, erscheinend. Die Forschung für den Artikel und das Kapitel wurde im Rahmen des ERC-finanzierten Projekts »Building a Better Tomorrow: Development Knowledge and Practice in Central Asia and Beyond, 1970-2017« (Nr. 865898), das an der University of Amsterdam angesiedelt ist, durchgeführt.