Das türkische Engagement in Afghanistan seit 2021: Humanitäre, wirtschaftliche und bildungspolitische Dimensionen

Von Zaur Gasimov (Türkisch-Deutsche Universität, Istanbul)

Zusammenfassung
Afghanistan steht angesichts der sich verschärfenden humanitären Krise vor großen Herausforderungen. Die Wirtschaft befindet sich weiterhin im freien Fall, Dreiviertel der Bevölkerung leidet unter Ernährungsunsicherheit, während der Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung und lebensnotwendigen Gütern weiter abnimmt. Das Land ist diplomatisch weiterhin isoliert und bisher hat nur Russland die Taliban als offizielle Regierung Afghanistans anerkannt. Dennoch kooperieren bereits mehrere Staaten, darunter die Türkei, unterhalb der Schwelle einer offiziellen Anerkennung mit dem islamistischen De-facto-Regime. Der Artikel beleuchtet die jüngsten Entwicklungen in den türkisch-afghanischen Beziehungen seit der Einnahme Kabuls durch die Taliban im Jahr 2021. Seitdem hat die Türkei zahlreiche Wirtschafts- und Bildungsprojekte in Afghanistan initiiert oder fortgeführt, was die Kontinuität des türkischen Engagements in Afghanistan verdeutlicht. Dennoch hat Ankara nur begrenzte Möglichkeiten, gesellschaftliche und humanitäre Entwicklungen in Afghanistan wesentlich zu beeinflussen. Die Gründe hierfür sind nicht nur die frauenfeindliche und rigide Bildungs- und Sozialpolitik der Taliban und deren andauernde Nichtanerkennung durch die internationale Gemeinschaft, sondern auch der Mangel an institutionalisierter Afghanistan-Expertise in der Türkei selbst. Vor diesem Hintergrund könnte das türkische Engagement in Afghanistan notwendigerweise genauso strategielos bleiben wie die Afghanistan-Politik von anderen NATO-Staaten, wie dem Vereinigten Königreich, Frankreich oder Deutschland, seit 2021.

Das türkische Engagement in den Bereichen Bildung und humanitäre Hilfe

Die bis heute in der Türkei herrschende »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) wurde im August 2001 gegründet, vier Monate bevor die Taliban mit Kandahar die letzte afghanische Großstadt unter ihrer Kontrolle verlieren sollten. Der Wahlerfolg der AKP im November 2002 fiel daher fast zeitgleich mit dem Ende des ersten Taliban-Regimes zusammen. Dieser Umstand hatte tiefgreifende Implikationen für die weitere Interaktion zwischen der Türkei und der späteren, 2004 gegründeten Islamischen Republik Afghanistan. Unter dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan hat Ankara nicht nur die Zusammenarbeit mit den NATO-Partnern auf eine neue Grundlage gestellt, sondern auch die Beziehungen zu den Nachbarländern verbessert, vor allem zu Russland sowie der weiteren MENA-Region, einschließlich den Ländern in Zentralasien. Nach der Bonner Vereinbarung sah Ankara im 2002 eingesetzten Übergangskabinett Karzai eine Chance, die bilaterale Zusammenarbeit mit Kabul zu reaktivieren und damit auch die historisch enge Bindung mit Afghanistan wiederzubeleben. Zur Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit haben beide Regierungen im Juli 2004 ein zwischenstaatliches Investitionsabkommen unterzeichnet, woraufhin türkische Unternehmen begannen, in Afghanistan aktiv zu werden. Unter anderem eröffnete der große türkische Elektrowarenhersteller Beko im Januar 2006 sein erstes Geschäft im Einkaufszentrum Kabul City Center. Türkische Bauunternehmen begannen schnell, den afghanischen Bausektor zu dominieren, und Turkish Airlines wurde einer der wichtigsten Anbieter von Flügen von und nach Afghanistan.

Neben der offiziellen Zusammenarbeit mit Kabul begann Ankara auch, die inoffiziellen Kontakte mit den turksprachigen Minderheiten Afghanistans auszubauen, darunter den Usbeken, Turkmenen und Tataren. Ankara unterhielt seit Beginn der 1990er Jahre gute Beziehungen mit dem einflussreichen usbekischen Milizenführer Abdul Raschid Dostum, der nach der Einnahme Nordafghanistans durch die Taliban 1997 ins türkische Exil geflohen ist. Bereits 1993 hat Dostum erwirkt, dass 500 afghanische Usbeken zum Studium in die Türkei gehen konnten. Bis heute unterhält die Türkei in den nordafghanischen Provinzen Balch und Dschuzdschan, in denen eine große usbekische Minderheit lebt, insgesamt sieben noch immer von den Taliban geduldete Bildungseinrichtungen, darunter auch zwei Gymnasien und eine Oberschule für Mädchen. Die wichtigsten Organisationen für die türkische Zusammenarbeit mit den afghanischen Minderheiten sind die 1992 gegründete Turkish Cooperation and Coordination Agency (TIKA), die 2005 gegründete Cansuyu Assistance and Cooperation Organization und das 2007 gegründete Yunus-Emre-Institut, dessen Auftrag mit dem deutschen Goethe-Institut verglichen werden kann. TIKA und das Yunus-Emre-Institut unterhalten weiterhin türkisches Lehrpersonal an afghanischen Hochschulen und stiften weiterhin Literatur für öffentliche Bibliotheken. Cansuyu ist vor allem im Bereich der humanitären Hilfe aktiv und hat u. a. im Jahr 2021 in den Provinzen Balch, Tachar und Badachschan 40 Tonnen feste Nahrungsmittel und weitere 2.700 Liter flüssige Nahrungsmittel an insgesamt 900 turkmenische Familien verteilt. Im Juni 2022 hat Cansuyu die gleiche Aktion für 300 weitere turkmenische Familien in den Provinzen Tachar und Faryab wiederholt.

Eine weitere einflussreiche türkische Organisation, die bis heute im afghanischen Bildungssektor aktiv ist, ist die regierungsnahe Maarif Foundation. Seit ihrer Gründung im Jahr 2016 verfolgt die Maarif Foundation das Ziel, alle türkischen Privatschulen, die bis dahin vom Gülen-Netzwerk im Ausland betrieben wurden, unter ihrem Dach zu vereinen. Bis zu ihrem Verbot durch die türkische Regierung im Jahr 2016 war die Gülen-Bewegung auch in Afghanistan stark vertreten. Am 26. Februar 2018 haben Ankara und Kabul eine Absichtserklärung unterzeichnet, durch die zwölf ehemalige Privatschulen der Gülen-Bewegung vom afghanischen Bildungsministerium an die Maarif Foundation übertragen wurden (dasselbe hat die kirgisische Regierung 2024 mit den in Kirgistan aktiven Sapat-Schulen des Gülen-Netzwerkes gemacht). Die Schulen werden seitdem als »Türkisch-Afghanische Maarif-Schulen« weiterbetrieben. Auch nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban im August 2021 hat die Maarif Foundation ihre Aktivitäten und ihre Präsenz in Afghanistan weiter ausgedehnt. Am 17. September 2024 hat die Stiftung bekanntgegeben, dass die 46. Maarif-Schule in Afghanistan durch das Maarif-Vorstandsmitglied Ahmed Türkben eröffnet wurde. In seiner Ansprache während der Zeremonie zur Eröffnung des Jungen-Gymnasiums in Dschalalabad hat Türkben angemerkt, dass die Stiftung weltweit 480 Bildungseinrichtungen in 54 Ländern betreibt. Damit befinden sich zehn Prozent aller Auslands-Maarif-Schulen in Afghanistan.

Wie bereits während ihrer ersten Herrschaft haben die Taliban nach ihrer Wiedermachtergreifung weitreichende Einschränkungen für die Ausbildung von Frauen und Mädchen erlassen, mit verheerenden gesellschaftlichen Folgen. Laut der UNESCO haben die erneuten Einschränkungen seit 2021 rund 1,5 Millionen Mädchen insgesamt drei Milliarden Stunden Unterricht gekostet, 30 Prozent der afghanischen Mädchen wurden seitdem nicht eingeschult und 100.000 Frauen wurden zum Abbruch ihres Hochschulstudiums gezwungen. Mädchen dürfen offiziell nur noch bis zur sechsten Klasse unterrichtet werden, weshalb sie darüber hinaus fast keine Chance mehr auf eine weiterführende Bildung haben. Eine der wenigen Chancen besteht in der Aufnahme in eines der landesweit sechs türkischen Mädchengymnasien, die offiziell bereits geschlossen sein sollten, jedoch bis heute von den Taliban geduldet werden. Die Zahl der ebenfalls landesweit verbreiteten Mädchengrundschulen ist deutlich höher. Allerdings kann sich heute sowieso kaum noch eine afghanische Familie die teuren Schulplätze an den Maarif-Schulen für ihre Kinder leisten. Laut der offiziellen Statistik werden an den Maarif-Schulen aktuell 7.400 afghanische Schüler und Schülerinnen von insgesamt 1.156 Lehrkräften ausgebildet. Neben Türkisch und Englisch werden an diesen Schulen auch die lokalen Sprachen Dari, Paschtu, Usbekisch und Turkmenisch unterrichtet. Die Maarif-Schulen sind die letzten verbliebenen internationalen Schulen in Afghanistan und damit auch die letzten Einrichtungen, deren Curriculum und Didaktik internationalen Bildungsstandards entsprechen.

Die Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich

Unmittelbar nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban im August 2021 hat Ankara signalisiert, die eigene wirtschaftliche Präsenz in Afghanistan erhalten und laufende Bauprojekte fortführen zu wollen. Bereits im Jahr 2018 hat die türkische Çalık Holding im turkmenischen Gebiet Mary nahe der afghanischen Grenze ein Kombikraftwerk mit einer Kapazität von 1.574 Megawatt fertiggestellt, das einmal die pakistanische Stadt Quetta über die seit 2015 geplante Turkmenistan–Afghanistan–Pakistan-Energietrasse (TAP-500) mit Strom versorgen soll. Die Çalık Holding hat im August 2021 den Bau des turkmenischen Abschnittes der Übertragungsleitung abgeschlossen. Seitdem gab es jedoch keine weiteren Baufortschritte und Turkmenistan exportiert bis heute noch keinen Strom nach Pakistan. Laut Plan sollte TAP-500 bereits 2024 in Betrieb gehen. Angesichts der massiven Verzögerung haben sich Vertreter der Taliban, der turkmenischen Regierung und der Çalık Holding im Januar 2025 in Kabul auf regelmäßige Treffen der technischen Komitees und des gemeinsamen TAP-500-Sekretariats geeinigt, um die Umsetzung des Projektes weiter voranzutreiben.

Nach 2021 gab es jedoch auch einen Rückschlag für die Türkei. Noch während des NATO-Truppenabzuges hat Ankara im Juni 2021 zugestimmt, von der NATO die Kontrolle über den Hamid Karzai International Airport in Kabul zu übernehmen, um dessen Betrieb und Sicherheit während und nach dem Abzug zu gewährleisten. Im Dezember 2021 haben die Türkei und Katar dann ein Abkommen über den gemeinsamen Betrieb der drei wichtigsten afghanischen Flughäfen in Kabul, Kandahar und Herat unterzeichnet, nachdem sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate gegenüber den Taliban als möglicher Flughafenbetreiber ins Spiel gebracht hatten. Allerdings konnten sich Ankara und Doha mit den Taliban nicht auf alle Modalitäten einigen, sodass im Mai 2022 schließlich die emiratische GAAC Solutions den Auftrag für den Betrieb der drei Flughäfen bekommen hat. Dafür konnte die Türkei immerhin ihre zentrale Stellung im afghanischen Luftverkehrsmarkt zurückgewinnen: im Mai 2024 hat Turkish Airlines bekannt gegeben, nach einer dreijährigen Unterbrechung die Flüge von und nach Afghanistan wiederaufzunehmen.

Neben dem Luftverkehr ist die Türkei auch noch in anderen Sektoren der afghanischen Wirtschaft aktiv. Im Oktober 2024 hat die türkische Baufirma 77 Insaat mit der afghanischen De-facto-Regierung ein Abkommen im Wert von 163 Millionen Dollar über den Bau einer Zementfabrik in der Provinz Dschuzdschan unterzeichnet. Die Anlage mit einer geplanten Produktionskapazität von 3.000 Tonnen Zement pro Tag soll innerhalb von drei Jahren fertiggestellt werden. Bereits 2022 übernahm 77 Insaat den Betrieb des zweiten Wasserkraftwerkes an der Kajakai-Talsperre in der Provinz Helmand sowie von einer Solaranlage mit einer Kapazität von 15 Megawatt in der Provinz Kandahar. Diese beiden Anlagen im Süden Afghanistans sollen den Strombedarf von mehr als einer Million Menschen decken. Für die Schaffung der dafür notwendigen Übertragungsinfrastruktur stellt 77 Insaat in Afghanistan auch Strommasten aus Stahlbeton her. Im Juni 2025 hat die Firma in der Provinz Herat mit dem Bau einer 200-Megawatt-Windkraftanlage im Wert von 65 Mio. US-Dollar begonnen. In der Provinz Kabul soll außerdem ein Wasserkraftwerk mit einer Kapazität von 150 Megawatt gebaut werden.

Das andauernde türkische Engagement in Afghanistan seit 2021 spiegelt sich schließlich auch im Außenhandel wider. Laut dem »Handels- und Industrieministerium« der Taliban ist das Handelsvolumen mit der Türkei zwischen 2023 und 2024 um 53 Prozent angestiegen. Die wichtigsten Waren, welche die Türkei nach Afghanistan exportiert, sind gewebte Teppiche und andere textile Bodenbeläge; isolierte Drähte, Kabel und andere elektrische Leiter; Auto- und Sattelanhänger sowie Hygieneartikel. Afghanistan exportiert vor allem Agrarprodukte wie Früchte und Nüsse in die Türkei, im Vergleich zu den Importen aus der Türkei jedoch auf einem deutlich niedrigeren quantitativen Niveau.

Afghanen in der Türkei

Die Türkei selbst ist eines der wichtigsten Aufnahme- und Transitländer für Geflüchtete und Migranten aus Afghanistan. Laut der türkischen Regierung lebten im Jahr 2021 mindestens 300.000 afghanische Staatsbürger in der Türkei, darunter sowohl registrierte als auch unregistrierte Personen. Der Großteil der afghanischen Geflüchteten in der Türkei gelangte über die iranisch-türkische Grenze in das Land. Die Einnahme Kabuls durch die Taliban im August 2021 hat eine erneute Fluchtbewegung von Afghanen in Richtung Türkei ausgelöst. Erdogan hat daraufhin angekündigt, keine weiteren Geflüchteten aus Afghanistan akzeptieren zu wollen, da die Aufnahmekapazitäten der Türkei erschöpft seien. Der türkische Grenzschutz hat jedoch schon vorher mit systematischen Pushbacks an der türkisch-iranischen Grenze begonnen. So wurden bei einer größeren Operation im Juli 2021 über 1.400 Afghanen im Grenzgebiet festgenommen und in den Iran zurück abgeschoben.

Wie in anderen europäischen Ländern hat sich in der Türkei seit 2016 eine migrationskritische Stimmung in der Öffentlichkeit verfestigt, wobei Migranten und Geflüchtete aus Afghanistan besonders stark im Fokus von öffentlichen Ressentiments stehen. Vor allem die rechtspopulistische »Partei des Sieges« (Zafer) und die kemalistische CHP nutzen die migrationskritische Stimmung, um sich in der Gesellschaft als vermeintliche Fundamentalopposition zu profilieren. So beschuldigen CHP-nahe Nachrichtenportale die Regierung immer wieder, angeblich die Kontrolle über die Migration verloren und die Entstehung von kriminalitätsbelasteten »No-go-Areas« zugelassen zu haben. Die öffentliche Debatte über die afghanische Diaspora in der Türkei ist zuletzt im Juli 2024 wiederaufgeflammt, nachdem der Handelsminister Ömer Bolat die aktuelle Stimmung gegenüber Migranten mit der Aussage kritisiert hat, dass wenn »25.000 afghanische Hirten gehen sollten, die türkische Viehzucht zusammenbrechen würde.« Tatsächlich mindern afghanische Unternehmer und Angestellte nicht nur den vorherrschenden Fach- und Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, sondern auch in anderen Branchen wie der exportorientierten Textilindustrie. Zudem studieren tausende junger Afghaninnen und Afghanen an türkischen Universitäten und bringen so ihr Bildungskapital in die Gesellschaft und für die Zukunft des Landes ein.

Fazit

Die Türkei ist das einzige NATO-Land, das seine Präsenz in Afghanistan nach dem Fall Kabuls im Jahr 2021 nicht nur beibehalten, sondern sogar ausgebaut hat. Dabei profitiert Ankara von einer besonderen Ausgangslage: Aufgrund ihrer militärischen Zurückhaltung während des NATO-Einsatzes zwischen 2003 und 2021 genießt die Türkei im Unterschied zu vielen westlichen Akteuren weiterhin einen vergleichsweise positiven Ruf innerhalb der afghanischen Bevölkerung. Diese Reputation bildet bis heute die Grundlage für die zahlreichen türkischen Bildungs-, Hilfs- und Infrastrukturprojekte im Land.

Im Zentrum des türkischen Engagements in Afghanistan steht die Bildungszusammenarbeit, wobei die Maarif Foundation und das Yunus-Emre-Institut eine Schlüsselrolle spielen. Diese Organisationen sind vor allem auch in den von Minderheiten bewohnten nordafghanischen Provinzen wie Balch, Dschuzdschan oder Faryab aktiv, also den Regionen, die von den paschtunisch dominierten Taliban eher vernachlässigt werden. Die Maarif-Schulen sind dabei die letzten in Afghanistan verbliebenen Bildungseinrichtungen mit internationalen Standards und Curricula. Sie sind für viele Mädchen auch die letzte verbliebene Chance auf eine weiterführende Bildung. Dennoch bleibt das türkische Bildungsengagement strukturell eng begrenzt. Aufgrund der landesweit geringen Anzahl türkischer Schulen und der hohen Gebühren haben nur sehr wenige afghanische Familien die Möglichkeit, diese Angebote in Anspruch zu nehmen. Damit leisten die Institutionen zwar punktuell wichtige Beiträge zur Bildungslandschaft, vermögen es jedoch nicht, etwas an der tiefgreifenden Bildungs- und humanitären Krise im Land zu ändern – eine Krise, die schon vor der Wiedermachtübernahme der Taliban bestand und sich seither massiv verschärft hat.

Im wirtschaftlichen Bereich verfolgen türkische Unternehmen, wie 77 Insaat und Çalık Holding, einen pragmatischen und gewinnorientierten Kurs. Sie sind vor allem in den Bereichen Energie und Infrastruktur aktiv, etwa beim Bau von Kraftwerken, Wind- und Solaranlagen oder der Herstellung von Strommasten. Zwar verfolgt Ankara mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch humanitäre Ziele, allerdings liegt diesem Engagement keine Strategie und damit auch keine politische Kohärenz zugrunde. Die Gründe hierfür sind strukturell: für die politische Beratung relevante Regionalstudien mit Zentralasien- und Afghanistan-Schwerpunkt sind an türkischen Universitäten bislang kaum etabliert. Auch wenn mit der Gründung des Center for Iranian Studies (IRAM) in Ankara im Jahr 2016 ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung unternommen wurde, gibt es in der Türkei bis heute keine institutionalisierten Afghanistan-Studien. Der Aufbau von entsprechender Fachexpertise wird noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen, vorausgesetzt, dass jetzt tatsächlich einmal damit begonnen wird. Immerhin kann gehofft werden, dass die große afghanische Diaspora die Wirksamkeit des türkischen Engagements in Afghanistan langfristig positiv zu beeinflussen vermag. Bis dahin bleibt die strategische Dimension der türkischen Afghanistan-Politik diffus, und dass obwohl gerade der Türkei eine Schlüsselposition für die Entwicklung neuer außenpolitischer Ansätze gegenüber den Taliban zukommen könnte. Das setzt jedoch Ankaras Bereitschaft voraus, mit dem systematischen Aufbau von Afghanistan-Expertise zu beginnen und im Rahmen der NATO strategische Verantwortung für die eigene Präsenz in Afghanistan zu übernehmen.

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