Einleitung: Die Bedeutung Bulgariens für das neue Gefüge eurasischer Konnektivität
Der russische Einmarsch in die Ukraine 2022 hat die Transportgeographie Eurasiens grundlegend verändert. Die nördliche Eurasische Landbrücke, die bis dahin der wichtigste Eisenbahnkorridor zwischen China und der EU war, ist seitdem durch Sanktionen und damit einhergehende Risiken und Komplikationen bei der Frachtversicherung stark eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund hat die Transkaspische Internationale Transportroute – weithin bekannt als Mittelkorridor – rasch an strategischer Bedeutung gewonnen, als einzige landgestützte Alternative, die China über Kasachstan, das Kaspische Meer, Aserbaidschan, Georgien, die Türkei und das Schwarze Meer mit Europa verbindet. Angesichts verschärfter geopolitischer Spannungen gilt er als eine der politisch tragfähigsten und wirtschaftlich effizientesten Alternativen zur Nordroute. Die Transitzeiten von China nach Europa lassen sich auf fünfzehn bis achtzehn Tage verkürzen – erheblich kürzer als bei herkömmlichen Seerouten – und tragen damit zu den Bemühungen Europas bei, effizientere und nachhaltigere Lieferketten aufzubauen. Der Mittelkorridor gewinnt zudem an Bedeutung für die Sicherung kritischer Rohstoffe und Energielieferungen aus der Region Zentralasien, deren strategische Relevanz für Europa seit 2022 enorm gestiegen ist.
In dieser neuen geopolitischen Konstellation hat Bulgarien rasch eine zentrale Rolle mit wachsender Bedeutung übernommen. Als EU-Mitglied mit Schwarzmeerküste, das zugleich NATO-Mitglied ist und direkt an die Türkei grenzt, besitzt das Land eine einzigartige strategische Lage an der Ostflanke der Europäischen Union. Burgas und Warna, die wichtigsten Schwarzmeerhäfen Bulgariens, sind das erste Tor zur EU für Güter, die aus den georgischen Häfen Poti und Batumi kommen. In Verbindung mit Bulgariens Integration in das Transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-T) durch bestehende Straßen- und Schieneninfrastruktur sowie das Donau-System ist das Land ein maritimer Logistikknotenpunkt zwischen Kaspischem Raum und europäischem Binnenmarkt. Die stabile Verankerung in euroatlantischen Strukturen und die, im Vergleich zu Rumänien, relative geographische Distanz zum Kriegsgeschehen in der Ukraine verstärken die Bedeutung seiner geographischen Lage als zunehmend unverzichtbares Warentor für den Mittelkorridor. In diesem Zusammenhang ist es für Bulgarien von höchster Bedeutung, seine infrastrukturellen Kapazitäten weiterzuentwickeln, um sein Transitpotenzial in dieser Situation voll ausschöpfen zu können. Nur so kann sich das Land als wichtigster europäischer Knotenpunkt des Mittelkorridors behaupten und sowohl die nationale Wettbewerbsfähigkeit als auch die breitere EU-Agenda zu Diversifizierung von verlässlichen Lieferketten stärken – insbesondere im Rahmen der jüngsten strategischen Annäherung an Zentralasien.
Bulgariens strategische Lage am Schwarzen Meer und in Eurasien: Logistik, Sicherheit und Geoökonomie
Bulgarien liegt an einem Zusammenfluss mehrerer makroregionaler Handels- und Transportachsen, die seit 2022 massiv an Bedeutung gewonnen haben. Mit seiner Lage zwischen Balkan und Schwarzem Meer ist das Land sowohl maritimer Knotenpunkt als auch Landbrücke zum restlichen Südosteuropa. Durch die räumliche Nähe und direkte infrastrukturelle Anbindung an die Türkei fungiert das Land auch als entscheidendes Verbindungsglied zwischen der EU und dem weiteren eurasischen Festland, insbesondere dem Südkaukasus und Zentralasien. Der nordwestliche Zugang zur Donau verknüpft das Land zusätzlich mit den mitteleuropäischen Flussverkehrsnetzen und vergrößert seinen logistischen Fußabdruck damit weit über die Schwarzmeerregion hinaus.
Diese besondere geoökonomische Ausgangsposition spiegelt sich auch in mehreren strategischen Dokumenten der Europäischen Union wider. Sowohl die Schwarzmeersynergie von 2007 als auch die neue EU-Strategie für das Schwarze Meer von 2025 heben Bulgarien als zentralen Knotenpunkt für die Verbesserung regionaler Konnektivität, den Ausbau von Hafeninfrastruktur, die Förderung digitaler und grüner Verkehrslösungen sowie die Vertiefung der Energie- und maritimen Kooperation hervor. In diesen Kontext wird Bulgarien durchgängig als verlässlicher und strategisch günstig positionierter Partner dargestellt, der in der Lage ist, EU-Interessen in einer zunehmend geopolitisch volatilen Region voranzutreiben. Angesichts der Militarisierung des Schwarzen Meeres durch Russland und deren destabilisierenden Auswirkungen auf den Seehandel gewinnt die sicherheitspolitische Ausrichtung Bulgariens zusätzlich an Bedeutung für die östliche Nachbarschaftspolitik der EU. Als NATO-Mitglied mit aktiver Beteiligung an Sicherheitsinitiativen im Schwarzen Meer trägt das Land zudem zur maritimen Lageerfassung in einem zunehmend umkämpften Gewässer bei.
Die Häfen Burgas und Warna stellen die entscheidende maritime Verbindung zwischen den europäischen Märkten und dem Südkaukasus dar. Fracht aus den georgischen Schwarzmeerhäfen kann in Bulgarien umgeschlagen und von dort über etablierte TEN-T-Korridore nach Mittel- und Westeuropa weitertransportiert werden. Die Route über das Schwarze Meer ist nicht nur kürzer und schneller als die Seetransporte über den Suezkanal oder um das Kap der Guten Hoffnung; sie unterliegt auch nicht den politischen und sanktionsbedingten Komplikationen wie die Nordroute durch Russland. Derzeit kann Fracht aus Zentralasien Bulgarien in zwölf bis fünfzehn Tagen erreichen – ein Grund für die wachsende Attraktivität des Landes bei Logistikunternehmen, die verlässliche und politisch unbedenkliche Transitoptionen suchen.
Neben den logistischen Vorteilen spielt Bulgarien auch im weiteren geoökonomischen und sicherheitspolitischen Kontext des Mittelkorridors eine wichtige Rolle. Als Eintrittspunkt für Energie- und Rohstofflieferungen in die Europäische Union trägt es zur langfristigen Strategie der EU bei, die Abhängigkeit von russischen Routen und Rohstoffen zu verringern. Über die Anbindung an den südlichen Gaskorridor und insbesondere den 2022 eröffneten Gas-Interkonnektor mit Griechenland kann Bulgarien zudem die Diversifizierung der Gasversorgung für weite Teile Europas unterstützen. Im Oktober 2025 hat die EU schließlich beschlossen, bis 2028 sämtliche Gasimporte aus Russland einzustellen. Dann wird Bulgarien als zentraler Knotenpunkt eine Schlüsselrolle dafür spielen, Gas aus dem südlichen Gaskorridor über die bestehende Transbalkan-Pipeline nach Rumänien, in die Ukraine und nach Moldau sowie über die geplante EASTRING-Pipeline und eine Erweiterung der BRUA-Pipeline in Rumänien in die Slowakei sowie nach Ungarn und Österreich weiterzuleiten.
Trotz dieser Vorteile sieht sich Bulgarien mit einer Reihe struktureller Herausforderungen konfrontiert, die es daran hindern, sein Potenzial als südosteuropäischer Knotenpunkt des Mittelkorridors voll auszuschöpfen. Die interne Konnektivität – insbesondere das Eisenbahnnetz – leidet unter Engpässen und unzureichenden Kapazitäten. Auch die Verbindungen zu benachbarten EU-Staaten sind weiterhin mangelhaft. Wichtige grenzüberschreitende Projekte wie der Korridor VIII, der Bulgarien über Nordmazedonien und Albanien mit der Adria verbindet, machen nur langsame Fortschritte, obwohl jüngst ein Abkommen zur Wiederherstellung der Eisenbahnverbindung Sofia–Skopje unterzeichnet wurde. Darüber hinaus bleibt das staatlich- institutionelle Gefüge Bulgariens fragmentiert; Akteure der Verkehrs-, Wirtschafts- und Außenpolitik agieren häufig ohne ausreichende strategische Abstimmung untereinander. Das Fehlen eines vollständig ausgearbeiteten nationalen Rahmens für die Integration in den Mittelkorridor schränkt weiterhin Sofias Fähigkeit ein, internationalen Zuwendungsgebern eine kohärente geoökonomische Vision zu präsentieren und größere Investitionen anzuziehen.
Eine neue interregionale Partnerschaft: Bulgariens diplomatische Annäherung an Kasachstan und Usbekistan
Vor dem Hintergrund des steigenden Konnektivitätspotenzials hat Bulgarien sein diplomatisches Engagement gegenüber Kasachstan und Usbekistan – den beiden zentralasiatischen Staaten, die am stärksten in die Entwicklung des Mittelkorridors involviert sind – zuletzt deutlich intensiviert. Der Besuch des bulgarischen Präsidenten Rumen Radew in Kasachstan im Juni 2025 markierte einen Meilenstein für die Vertiefung der bilateralen Zusammenarbeit in den Bereichen Transport und Logistik. Während des Besuches unterzeichneten Radew und Kasachstans Präsident Kassym-Dschomart Tokajew eine Absichtserklärung zur gemeinsamen Entwicklung des Mittelkorridors und vereinbarten die Gründung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe für Transport- und Logistikfragen unter der Schirmherrschaft der kasachstanisch-bulgarischen Zwischenregierungskommission. In diesem Zusammenhang wurde auch noch einmal die Rolle der Häfen von Burgas und Warna als strategische Knotenpunkte des Mittelkorridors formell bestätigt und das gemeinsame Ziel formuliert, Bulgarien als maritimes Tor für zentralasiatische Exporte in die EU zu etablieren. Kasachstans eigene Ambitionen sind beträchtlich: Das Land hat das Frachtvolumen auf dem Mittelkorridor von 1,5 Millionen Tonnen im Jahr 2022 auf bereits 4,5 Millionen Tonnen im Jahr 2024 gesteigert und erwartet bis 2028 ein Volumen von zehn Millionen Tonnen. In diesem Zusammenhang sind die bulgarischen Schwarzmeerhäfen schon jetzt unverzichtbar für Kasachstans Bestrebungen, die eigene Transportabhängigkeit von Russland zu verringern und Transitrouten über russisches Territorium wo möglich zu umgehen.
Ebenso bedeutsam ist der Ausbau der bilateralen Zusammenarbeit mit Usbekistan. Während Radews Besuch in Taschkent im Juni 2025 unterzeichneten er und Usbekistans Präsident Schawkat Mirsijojew sowohl eine strategische Erklärung als auch ein Kooperationsprogramm für den Zeitraum 2026 bis 2027. Diese Dokumente stellen einen verstärkten politischen Dialog und den Ausbau der Verkehrskonnektivität ins Zentrum der bilateralen Beziehungen – neben der Kooperation in den Bereichen Digitalisierung, Zollharmonisierung sowie Energie, Pharmazie, Landwirtschaft und Tourismus. Schließlich betrachtet auch Usbekistan Bulgarien als verlässlichen Partner für die Logistik des Mittelkorridors in Südosteuropa und als Tor zum europäischen Binnenmarkt. Das bilaterale Momentum wurde weiter gestärkt durch den Besuch einer hochrangigen usbekischen Delegation in Sofia im Juli 2025, bei dem ein Migrations- und Mobilitätsabkommen vorbereitet und eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehr und Energie erörtert wurde. Für 2026 ist ein großes bilaterales Wirtschaftsforum in Sofia in Vorbereitung, das wirtschaftliche Partnerschaften in den Bereichen Logistik, Infrastruktur und Digitalisierung stärken soll. Insgesamt verdeutlichen diese diplomatischen Initiativen Sofias Bestrebung, die strategische Annäherung mit den zentralasiatischen Staaten voranzutreiben und als Vermittler der wachsenden interregionalen Zusammenarbeit zwischen der EU und Zentralasien zu fungieren.
Fazit
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 und der anschließenden Rekonfiguration eurasischer Transportnetzwerke hat die geoökonomische Relevanz Bulgariens erheblich zugenommen. Der strategische Wandel des Mittelkorridors von einer sekundären Transitroute zu einer eurasischen Hauptverkehrsachse eröffnet dem Land ein einzigartiges Möglichkeitsfenster. Das jüngste diplomatische Engagement gegenüber Kasachstan und Usbekistan zeigt Bulgariens wachsende Ambition, sich als transregionaler Vermittler zwischen der EU und dem Kaspischen Raum bzw. Zentralasien zu positionieren. Gleichzeitig behindern strukturelle Probleme – insbesondere bei der nationalen Eisenbahninfrastruktur, der grenzüberschreitenden Konnektivität und der interinstitutionellen Koordination – eine volle Entfaltung der Transport- und Transitpotenziale des Landes.
Die Ausarbeitung einer kohärenten nationalen Strategie für eine sektorenübergreifende Integration in den Mittelkorridor und eine bessere Koordination der Wirtschafts-, Verkehrs- und Außenpolitik würden Bulgariens gegenwärtige Rolle erheblich festigen. Mehr Tempo bei den Investitionen in Hafenanlagen und Schieneninfrastruktur, insbesondere entlang der Achse Burgas–Sofia–Donau, würde notwendige logistische Kapazitäten erweitern. Eine engere Zusammenarbeit mit kasachstanischen, usbekischen und aserbaidschanischen Logistikunternehmen könnte die internationale Wertschöpfung in bulgarischen Industriezonen fördern. Auf europäischer Ebene könnte Bulgarien eine stärkere Abstimmung mit der Global-Gateway-Initiative der EU anstreben, um seine zentrale Stellung in Konnektivitätsprojekten mit hoher Priorität zu betonen. Schließlich könnte das aktive Bewerben Bulgariens als »Tor nach Zentralasien« dem Land helfen, Investitionen anzuziehen, sein diplomatisches Gewicht gegenüber den zentralasiatischen Partnern zu erhöhen und eine prominentere Rolle in der strategischen Politikgestaltung innerhalb der EU einzunehmen. Dadurch könnte Bulgarien sein geographisches Potenzial in dauerhafte geoökonomische Relevanz umwandeln, zum zentralen europäischen Knotenpunkt des Mittelkorridors aufsteigen und die strategische Autonomie der EU nachhaltig stärken.
Aus dem Englischen von Rostam Onsori
Teile des Beitrags wurden beim Workshop »Connectivity 2025 – Transformation through connectivity« im Rahmen des Burgas Connectivity Forum 2025, das vom Auslandsbüro Bulgarien der Konrad-Adenauer-Stiftung organisiert wurde, präsentiert und diskutiert.