Der Mittelkorridor und die neue Zentralität Eurasiens

Von Murad Nasibov (Technische Universität Dresden)

Zusammenfassung
Der Mittelkorridor verbindet China und Europa über Zentralasien, den Südkaukasus, das Schwarze Meer und die Türkei. Ursprünglich als Infrastrukturkonzept in den 2000er Jahren entwickelt, hat er sich inzwischen zu einem geopolitischen Projekt zur Umgestaltung der regionalen Ordnung in Eurasien gewandelt. Diese Entwicklung wird vor allem durch den Niedergang der russischen Hegemonie im postsowjetischen Raum und durch die wachsende regionale Diplomatie geprägt. Länder wie Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan nutzen diese Dynamik, um ihren außenpolitischen Handlungsspielraum und ihre strategische Autonomie auszubauen. Der Mittelkorridor symbolisiert damit den Übergang von einer hierarchischen postsowjetischen Integration zu einer vernetzten und pluralistischen Ordnung regionaler Staaten. Trotz des Einflussstrebens externer Akteure wie der Türkei, Chinas und der EU bleibt diese neue Ordnung innerregional zentriert und verankert. Europa kann die Transformation und die zunehmende Offenheit Eurasiens durch interregionale Konnektivität und insbesondere solche Partnerschaften unterstützen, die nicht von der Logik der geopolitischen Rivalität mit anderen externen Akteuren geprägt sind.

Der Aufstieg des Mittelkorridors als Ergebnis historischer Kräfte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 und der Suche nach alternativen transkontinentalen Handels- und Transportrouten, die Russland umgehen, hat der Mittelkorridor in Europa deutlich an politischer und öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen. Die Idee eines multimodalen Transitsystems, das China und Europa über Zentralasien, den Südkaukasus, das Schwarze Meer und die Türkei verbindet, geht jedoch bereits auf das Jahr 2007 zurück. Damals einigten sich Aserbaidschan, Georgien und die Türkei auf den Bau der Eisenbahnstrecke Baku–Tbilisi–Kars (BTK). Schon damals wurde die strategische Bedeutung des Projektes betont, eine direkte Verbindung zwischen China und Europa zu erschließen – oder Peking und London, wie es damals offiziell hieß.

Zu diesem Zeitpunkt lagen jedoch sowohl der Kaukasuskrieg von 2008 als auch die drastische Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland noch in der Zukunft. Auch gab es noch keine ausgeprägte Rivalität zwischen Washington und Peking, da die weitere wirtschaftliche Entwicklung Chinas zwar bereits absehbar war, das Land jedoch erst 2010 zur zweitgrößten Volkswirtschaft aufsteigen sollte. Zudem hatte die von Russland initiierte wirtschaftliche Integration mit seinen Nachbarstaaten gerade erst begonnen. Die Zollunion der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) würde erst 2010 starten. In Zentralasien war unterdessen an innerregionale Integration nicht zu denken, nachdem sich Usbekistan unter dem damaligen Präsidenten Islam Karimow infolge der gewaltsamen Niederschlagung der Unruhen in Andischan 2005 erneut politisch und wirtschaftlich zu isolieren begann. Kasachstan und Kirgistan haben sich schließlich der Eurasischen Wirtschaftsunion angeschlossen, die 2015 aus der EAWG hervorgegangen ist. Die wirtschaftliche Integration in Zentralasien war somit maßgeblich von den externen Interessen Russlands geprägt.

20 Jahre später hat sich der internationale Kontext massiv gewandelt, womit auch ein schrittweiser Wandel der geopolitischen Rahmenbedingungen zugunsten des Mittelkorridors einherging. Seitdem befinden sich der Westen und Russland in einer intensiven Konfrontation über Russlands Krieg in der Ukraine. Gleichzeitig wird das globale Umfeld zunehmend von Chinas wachsender wirtschaftlicher und politischer Gestaltungsmacht sowie dem Aufstieg neuer regionaler Mittelmächte wie der Türkei geprägt. Die neue internationale Konstellation, die sich aufgrund unterschiedlicher Machtverschiebungen herausgebildet hat, macht eine volle Realisierung des Mittelkorridors nicht nur möglich, sondern auch so notwendig wie nie zuvor. Zu dieser Konstellation gehören 1) der russische Überfall auf die Ukraine 2022 und die anschließenden Sanktionen gegen Russland, welche die nördliche Transportroute über russisches Territorium seitdem praktisch blockieren und zu einer Umleitung von Lieferketten unter Umgehung Russlands geführt haben. 2) sind die Spannungen zwischen dem Iran und dem Westen wiederaufgeflammt, nachdem Donald Trump während seiner ersten Amtszeit als US-Präsident 2018 einseitig aus dem Wiener Abkommen über das iranische Atomprogramm (JCPOA) ausgestiegen ist. Im Rahmen der anschließend verfolgten Politik des »maximalen Drucks« wurden die zuvor durch das JCPOA aufgehobenen US-Sanktionen gegen den Iran wiedereingeführt, was die südliche Route für den Gütertransport zwischen Asien und Europa über den Iran weitgehend kompromittiert hat. 3) konnte Aserbaidschan seine regionale Stellung während des zweiten Karabach-Krieges 2020 und der anschließenden Offensive in Berg-Karabach 2023 massiv stärken. Im Gegenzug wurde der russische Einfluss im Südkaukasus geschwächt, was das von den Vereinigten Staaten vermittelte Friedensabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan vom August 2025 maßgeblich ermöglicht hat. Das Abkommen sieht die Einrichtung der »Trump Route for International Peace and Prosperity« (TRIPP) vor, die Westaserbaidschan über die südarmenische Provinz Sjunik mit der Autonomen Republik Nachitschewan und der Osttürkei verbinden soll.

Die wichtigste internationale Entwicklung, die eine volle Realisierung des Mittelkorridors heute maßgeblich begünstigt, hat jedoch in Zentralasien stattgefunden. Ende 2016 ist in Usbekistan Schawkat Mirsijojew an die Macht gekommen, der die Isolationspolitik seines Vorgängers Islam Karimow aufgegeben hat und seitdem einen Kurs der außenpolitischen Öffnung verfolgt, woraufhin sich die Beziehungen mit den zentralasiatischen Nachbarn, allen voran Kasachstan, massiv verbessert haben. Mirsijojew und sein kasachstanischer Amtskollege Kassym-Dschomart Tokajew haben im Dezember 2022 ihre Beziehungen formell auf das Niveau von Bündnispartnern gehoben. Seitdem stärken Taschkent und Astana durch gemeinsame wirtschaftliche Projekte die regionale Zusammenarbeit und somit auch ihre strategische Autonomie gegenüber Russland. In der Vergangenheit hat Russland seinen eigenen Einfluss in Zentralasien immer wieder dafür genutzt, die Länder der Region unter Druck zu setzen, z. B. indem gegen in Russland tätige Arbeitsmigranten aus Zentralasien vorgegangen wird, oder russischsprachige Teile der zentralasiatischen Medienlandschaft durch Falschinformationen gezielt manipuliert werden. Durch den Ausbau der strategischen Autonomie soll der außenpolitische Handlungsspielraum soweit vergrößert werden, dass zentralasiatische Interessen gegenüber russischen Erpressungsversuchen möglichst immun sind. Aus diesem Grund haben Kasachstan und Usbekistan, zusammen mit der Türkei und Aserbaidschan, in den letzten Jahren auch ihre wirtschaftliche Integration innerhalb der Organisation der Turkstaaten (OTS) vorangetrieben, die von ihren Mitgliedern wiederum als wichtiges Mittel zur Realisierung des Mittelkorridors genutzt wird. Es ist daher kein Zufall, dass die Arbeitsgruppe zum Mittelkorridor unter der Schirmherrschaft der OTS gegründet wurde.

In der Zwischenzeit haben Aserbaidschan und Kasachstan seit 2022 kontinuierlich in den Ausbau und die Modernisierung ihrer Logistikinfrastruktur, wie der BTK, sowie ihrer Hafenanlagen am Kaspischen Meer investiert, was notwendig war, um den Mittelkorridor tatsächlich als verlässliche Alternativroute für den innereurasischen Überlandhandel zu etablieren. Unterdessen hat Usbekistan zusammen mit China und Kirgistan 2025 mit dem Bau einer neuen gemeinsamen Eisenbahnstrecke begonnen, durch die eine weitere Transitarterie für den Mittelkorridor erschlossen werden soll. Diese Entwicklungen zeigen, dass es Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan seit 2022 vermocht haben, im Kontext der neuen internationalen Konstellation die Initiative zu ergreifen und in regionalen Fragen gegenüber Russland konsequent ihre strategische Autonomie und ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Die zentrale Region im Herzen Eurasiens hat damit ein neues Maß an geoökonomischer Eigenständigkeit und Zentralität erreicht. Zwar lässt sich dies nicht allein auf den Mittelkorridor reduzieren, doch verbindet das Projekt chinesische, europäische und türkische Interessen und verschafft den Staaten der Region so den größtmöglichen außenpolitischen Handlungsspielraum gegenüber allen externen Akteuren.

Die materielle und geopolitische Architektur des Mittelkorridors

In seiner gegenwärtigen Form umfasst der zentralasiatische Abschnitt des Mittelkorridors zwei Haupt-Eisenbahnverbindungen, die China in Ost–West-Richtung mit dem Kaspischen Meer verbinden: eine bereits betriebsfähige Strecke, die China über Kasachstan mit den Häfen Aktau und Kuryk verbindet, sowie die sich in Bau befindliche Strecke durch Kirgistan und Usbekistan, die an die Transkaspische Eisenbahn und damit an den turkmenischen Hafen Turkmenbaschy angeschlossen werden soll. Die turkmenische Regierung hat mehrfach angekündigt, den Hafen Turkmenbaschy auszubauen. Dessen Umschlagkapazität bleibt jedoch noch immer deutlich hinter Aktau zurück, weshalb Turkmenistan noch nicht im gleichen Maße wie Kasachstan als maritimer Knotenpunkt des Mittelkorridors fungiert. Von den zentralasiatischen Häfen am Kaspischen Meer wird die Fracht per Fähre in den Hafen von Baku bzw. Alat transportiert und gelangt von dort via BTK weiter in Richtung Türkei und Europa.

Der westliche Abschnitt des Mittelkorridors umfasst die transanatolische Eisenbahnverbindung nach Istanbul sowie die maritime Route über das Schwarze Meer. Dazu gehören die georgischen Häfen Poti, Batumi und perspektivisch Anaklia, sowie die türkischen Häfen Trabzon und Samsun. In diesen Häfen werden Güter für den Weitertransport nach Konstanza (Rumänien) sowie Warna und Burgas (Bulgarien) umgeschlagen. Die ukrainischen Häfen Odessa und Tschornomorsk, die Knotenpunkte für den Gütertransport in den Norden Osteuropas darstellen, sind aufgrund des Krieges und den damit einhergehenden Sicherheitsrisiken aktuell nur von untergeordneter Bedeutung in den Plänen für den Mittelkorridor. Allerdings könnte diesen Häfen noch eine zentrale Rolle für den Mittelkorridor zukommen, sobald der Krieg in der Ukraine beendet ist.

Im Südkaukasus verspricht die Normalisierung der Beziehungen zwischen Aserbaidschan und Armenien eine signifikante Ausweitung der regionalen Transportnetzwerke. Unter anderem sieht die TRIPP den Bau einer weiteren Eisenbahnstrecke vor, die Aserbaidschan über armenisches Territorium direkt mit der Türkei verknüpfen soll. In der Zwischenzeit haben sich alle am Mittelkorridor beteiligten Staaten der Region – Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan, Georgien und die Türkei – auf eine grundsätzliche Harmonisierung aller Zollverfahren im Rahmen des Mittelkorridors geeinigt. Zusätzliche gemeinsame Maßnahmen umfassen die Digitalisierung von Transitdokumenten, die Koordinierung von Frachtgebühren und die Vereinfachung von Verfahren für die Grenzabfertigung, auch wenn eine vollständige operative Integration über diese Dimensionen hinweg noch aussteht.

Von der EU-Seite engagieren sich vor allem Rumänien und Bulgarien für den Ausbau des Mittelkorridors, da sie dessen wichtigste maritime Schnittstelle mit dem europäischen Binnenmarkt darstellen. Im Februar 2025 haben Rumänien, Georgien, Aserbaidschan und Turkmenistan Verhandlungen für ein Transitabkommen aufgenommen, das den Hafen Konstanza direkt mit Turkmenistan verbinden soll. Im April 2025 unterzeichneten Bulgarien, Georgien, Aserbaidschan und die Türkei eine Absichtserklärung über die Etablierung eines grünen Energiekorridors. Dazu haben Rumänien, Bulgarien, Kasachstan und Usbekistan seit 2024 untereinander mehrere ergänzende bilaterale Übereinkommen unterzeichnet: Im Juni 2024 haben Rumänien und Kasachstan eine Absichtserklärung für die Vertiefung der Logistikkooperation über den Hafen Konstanza und für eine Verbesserung der multimodalen Anbindung an Zentralasien unterzeichnet, gefolgt von einem Frachtkooperationsabkommen zwischen der rumänischen CFR Marfa und der kasachstanischen KTZ Express für die Entwicklung von Transportdienstleistungen zwischen Konstanza, Budapest und Zentralasien. Im September 2024 haben sich Usbekistan und Bulgarien auf eine Erhöhung des Frachttransportes über den Mittelkorridor geeinigt, indem die bilateralen Genehmigungsquoten für 2025 auf das Fünfzehnfache erhöht werden. Auch wurde sich auf einen genehmigungsfreien Straßentransit für Güter auf dem Weg nach Rumänien geeinigt.

Ergänzt werden diese Konnektivitätsprojekte durch den Bau unterseeischer Energie- und Internetkabel. So verlegen Kasachstan und Aserbaidschan derzeit ein transkaspisches Glasfaserkabel zwischen Aktau und Alat; eine ähnliche Verbindung zwischen Usbekistan und Aserbaidschan über Turkmenistan ist noch in Planung. Bereits 2023 haben Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan eine Zusammenarbeit bei der Synchronisierung ihrer Stromnetze und für den Export von erneuerbarer Energie beschlossen, wobei die konkreten Umsetzungsmechanismen noch entwickelt werden. Beide Vorhaben sollen an das von der EU geförderte Unterseekabel im Schwarzen Meer angebunden werden und so einen durchgängigen Digitalkorridor zwischen Schwarzem Meer und der Kaspischen Region etablieren, ergänzend zu den physischen Transportkorridoren.

Neben dem Ausbau der Ost–West-Verbindungen entstehen in Zentralasien und im Südkaukasus auch eine Reihe von Nord–Süd-Korridoren. Dazu gehören der von Usbekistan unterstützte östliche und der von Kasachstan unterstützte westliche transafghanische Eisenbahnkorridor, die beide Zentralasien über Afghanistan mit Pakistan verbinden sollen. Im Südkaukasus entsteht ein Korridor, der Russland über Aserbaidschan mit dem Iran verbindet. 2018 wurde auch der multimodale Lapis-Lazuli-Korridor gestartet, der Afghanistan und die Türkei via Turkmenistan und Aserbaidschan miteinander verbindet. Durch diese zusätzlichen Korridore wird der Mittelkorridor in ein umfassenderes Netzwerk innereurasischer Konnektivitätsprojekte eingebettet. Die wachsende Zahl an Verbindungen führt nicht nur zu steigenden Frachttransporten, sondern etabliert Zentralasien zunehmend als Knotenpunkt für den transkontinentalen Überlandhandel und erhöht damit auch das internationale Gewicht der Region.

Institutionelle und diplomatische Dynamiken des Mittelkorridors

Während der regionale und der weitere internationale Kontext die Entwicklung des Mittelkorridors in den letzten Jahren begünstigt haben, haben die regionalen Staaten – insbesondere Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan – enorme diplomatische Anstrengungen für das Projekt unternommen. Ein Großteil dieser Bemühungen erfolgte in bilateralen oder informellen minilateralen Formaten. Regionale Organisationen ergänzen diese diplomatischen Anstrengungen, indem sie als Foren für bilaterale Initiativen dienen, oder indem sie den Mittelkorridor direkt unterstützten.

Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) hat zwar keine Projekte unter dem Schlagwort »Mittelkorridor« gestartet, doch mehrere ihrer Initiativen fördern indirekt dessen Entwicklung. U. a. hat ein SOZ-Abkommen über den internationalen Straßentransport von 2014 und daraus hervorgehende Programme eine rechtliche und institutionelle Grundlage für die Erleichterung des Gütertransits zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen. Die wichtigste Rolle spielt die SOZ jedoch als Forum für bilaterale und minilaterale Initiativen, wie die Eisenbahnverbindung zwischen China, Kirgistan und Usbekistan.

Auch hat die OTS eine ganze Reihe an Initiativen gestartet, um den Mittelkorridor als Maßnahme der horizontalen Verbindung zwischen den Turkstaaten zu stärken. Dazu gehören

  1. das Abkommen über internationalen kombinierten Güterverkehr von 2022 sowie ein Programm zur Transportkonnektivität im Zeitraum 2023–2027,
  2. ein elektronisches Genehmigungssystem für den Straßengüterverkehr,
  3. »Schwesterhafen«-Partnerschaften zwischen Baku, Aktau und Samsun,
  4. die Modernisierung von Hafenanlagen und -terminals sowie
  5. die Einführung eines »Turkic Investment Fund« 2022, der vorerst Mittel für die Finanzierung der »weichen« Konnektivität bereitstellt, langfristig jedoch auch den Bau von Logistikinfrastruktur entlang der Turkstaaten finanzieren soll. Parallel dazu haben sich die OTS-Mitglieder zur Digitalisierung von Zollverfahren, zur Koordinierung von Frachtgebühren und zur Entwicklung grüner und digitaler Transportkorridore verpflichtet – in Übereinstimmung mit der 2021 verabschiedeten Strategie »Turkic World Vision 2040«.

Die drei anderen regionalen Organisationen – die Organisation für Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation (BSEC), GUAM und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO) – sind aus unterschiedlichen Gründen nur eingeschränkt handlungsfähig. Die BSEC ist seit den frühen 2010er-Jahren, insbesondere jedoch seit der russischen Annexion der Krim, faktisch obsolet. GUAM hat seine Funktionsfähigkeit bereits vor langer Zeit durch divergierende Interessen der Mitgliedstaaten und die starke Überschneidung mit dem EU-Programm der Östlichen Partnerschaft verloren. Die ECO wiederum bleibt aufgrund der Spannungen um den Iran relativ unzuverlässig und dient meistens dafür, die Initiativen aus anderen Foren oder bilateralen Abkommen zu ergänzen, wenn der Iran einbezogen werden soll. Diese Dynamik wurde durch die jüngste Wiederverhängung von UN- und EU-Sanktionen gegen den Iran weiter verstärkt, wodurch die Rolle des Iran für die Ost–West-Konnektivität, wenn überhaupt, auf die bereits bestehenden Frachtströme entlang der südlichen Route beschränkt bleiben wird.

Neben den regionalen Organisationen spielen vor allem die minilateralen Initiativen zwischen den Mittelkorridor-Staaten eine wichtige Rolle. Im Juni 2023 haben sich Kasachstan, Aserbaidschan und Georgien auf die Gründung einer gemeinsamen Logistikfirma geeinigt, die Gebühren vereinheitlichen und die Frachtabwicklung beschleunigen soll. Die meisten diplomatischen Bemühungen erfolgten über bilaterale Initiativen zwischen den drei Staaten sowie mit der Türkei und China. Dabei reicht das zwischenstaatliche Engagement oft über den Mittelkorridor hinaus, da dieser zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Treiber regionaler Konvergenz ist. Der Umstand, dass Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan ihre Beziehungen mittlerweile offiziell auf dem Niveau von verbündeten bzw. umfassenden strategischen Partnerschaften unterhalten, belegt, wie neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen auch politische und militärische Interessen die regionale Agenda bestimmen. Daher sehen Baku, Astana und Taschkent den Mittelkorridor nicht mehr nur als Transitroute, sondern als strategisches Instrument zur Konsolidierung einer regionalen Ordnung unter ihrer gemeinsamen Führung. Dabei nutzen sie geschickt die Überschneidung der Interessen Chinas, der EU und der Türkei, um ihre strategische Autonomie und ihren außenpolitischen Handlungsspielraum zu vergrößern und nicht in neue Abhängigkeiten von diesen externen Akteuren zu geraten.

Abnehmende Hegemonie Russlands, wachsende regionale Autonomie: die Entstehung einer neuen Ordnung

Durch den Anstieg der intraregionalen Kooperation zur Entwicklung des Mittelkorridors wird Russland in aktuellen Regionalprozessen zunehmend marginalisiert. Die neue internationale Konstellation und die tiefgreifenden Machtverschiebungen haben den Staaten der Region die Möglichkeit eröffnet, sich schrittweise von russlandzentrierten Integrationsbemühungen zu lösen, die auf den drei von Russland dominierten Organisationen basieren: der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). Auch wenn keine alternative regionale Organisation diese russisch geführten Formate vollständig ersetzen wird, haben die Initiativen der OTS, der SOZ und der zahlreichen bilateralen und informellen minilateralen Vorhaben zu einem Rückgang der russischen Gestaltungsmacht im Südkaukasus und in Zentralasien geführt. Damit nimmt auch die ohnehin begrenzte Attraktivität russisch geführter Regionalorganisationen weiter ab. Die Türkei wird unterdessen ein zunehmend wichtiger Partner für die Rüstungskooperation. Sie beliefert heute alle Staaten im Südkaukasus und in Zentralasien – mit Ausnahme Armeniens – mit moderner Ausrüstung und militärischen Gütern wie Drohnen.

Trotz der aktiven Beteiligung externer Akteure wie der Türkei und China wird diese neue Phase der regionalen Ordnungsgestaltung nicht von außen gesteuert und bleibt regional zentriert und in der intraregionalen Kooperation verankert. Dies wird auch daran deutlich, dass sich keiner der regionalen Staaten auf ein einziges multilaterales Format festlegt, auch wenn dies, wie mit der OTS, möglich wäre. Insbesondere (aber nicht nur) Kasachstan und Usbekistan zeigen kein Interesse daran, ein exklusives Bündnis der Turkstaaten auf Kosten ihrer Beziehungen mit Russland oder China zu etablieren. Ebenso wenig lassen sie sich ihr Engagement innerhalb der OTS durch ihre Verpflichtungen in anderen Formaten einschränken. Genau darin liegt schließlich die Logik, mit der die regionalen Staaten ihre strategische Autonomie vorantreiben: Beziehungen zu der einen Seite werden nicht von den Beziehungen zur anderen Seite, oder zu irgendeiner anderen Seite, abhängig gemacht. Dieselbe Logik gilt auch für die bilateralen Beziehungen mit regionalexternen Akteuren, die in dem Zusammenhang als multivektorale Außenpolitik bezeichnet wird.

Die entstehende regionale Ordnung lässt sich am treffendsten als ›enthierarchisierte Netzwerkordnung‹ beschreiben. Sie zeichnet sich durch pragmatische horizontale Kooperation, flexible Koalitionen und themenspezifische Zusammenschlüsse aus, in denen Staaten wie Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan zunehmend als eigenständige Vermittler auftreten. Diese Ordnung ist regional zentriert, aber extern angebunden und markiert damit einen strukturellen Wandel von einer postsowjetischen Hierarchie hin zu einem eurasischen Pluralismus. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob sich diese neue regionale Ordnung dauerhaft etablieren kann. Allerdings ist bereits absehbar, dass die beteiligten Staaten fest entschlossen sind, sie durch den aktiven Aufbau geteilter Institutionen, die enge Abstimmung regionaler Initiativen und beharrliche außenpolitische Koordination – sichtbar anhand einer beispiellosen Reisediplomatie von Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Ministern – dauerhaft zu verankern. Egal, welche Form diese regionale Ordnung am Ende annehmen wird, sie wird absehbar nicht von Russland dominiert. Vielmehr werden die einflussreicheren Staaten der Region in den entscheidenden Momenten das letzte Wort haben.

Die Rolle der EU in der neuen regionalen Ordnung entlang des Mittelkorridors

In der entstehenden regionalen Ordnung im Südkaukasus und in Zentralasien kommt auch der EU eine zentrale Rolle zu. Kern der regionalen Autonomie ist die Fähigkeit, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Partnerschaften zu diversifizieren. Zur Unterstützung dieser regionalen Bestrebung nach Autonomie sollte sich die EU nicht nur in Nischenbereichen engagieren, die einen niedrigschwelligen Einstieg ermöglichen, sondern gezielt auch in strategisch relevanten Sektoren präsent sein. Die Zentralasien-Strategie von 2019, die im Oktober 2023 verabschiedete »Joint Roadmap for Deepening Ties between the EU and Central Asia« und das im Sommer 2025 veröffentlichte EU-Strategiepapier zur Schwarzmeerregion greifen diese Erfordernis zumindest teilweise auf, wenn auch nur in begrenztem Maße.

Die EU verfügt allein nicht über die Mittel, um dem wachsenden chinesischen Einfluss – der sich bis auf den westlichen Balkan erstreckt – oder den zunehmend aggressiven Aktionen Russlands in der Region entgegenzuwirken. Dafür muss sie die Türkei als unverzichtbaren, wenn auch komplexen regionalen Partner anerkennen. Gleichzeitig sollte sie pragmatische Partnerschaften ausloten, die bestehende regionale Strukturen wie die OTS ergänzen, statt mit ihnen zu konkurrieren. Zwar sind die Regierungen in Zentralasien und im Südkaukasus vorsichtig gegenüber möglichen Abhängigkeiten und teilen nicht immer Ankaras außenpolitische Positionen, dennoch schätzen sie die Türkei als wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Partner, der im Gegensatz zu Russland keine regionale Oberherrschaft anstrebt. Gleichzeitig ist man sich in der Region im Klaren darüber, dass die EU in absehbarer Zeit nicht die sicherheitspolitische oder konnektive Rolle der Türkei wird ersetzen können, ohne ihre eigenen Kapazitäten zu überdehnen.

Während russisch dominierte Organisationen weiter an Relevanz verlieren, werden voraussichtlich zwei alternative Rahmenwerke bestehen bleiben: die SOZ und die OTS. Die EU wäre gut beraten, in ausgewählten Bereichen selektiv mit beiden Organisationen zu kooperieren. Dies setzt jedoch voraus, dass strittige Fragen wie der Status von Nordzypern durch Dialog und Kompromiss gelöst werden. Der laufende Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan und der Normalisierungsprozess zwischen der Türkei und Armenien nehmen bereits einige der kontroversen Themen aus dem Weg. Neben der Türkei könnte die EU ihr Engagement in der Region künftig auch mit den Golfstaaten abstimmen, die ihre Investitionen in Zentralasien und im Südkaukasus in den letzten Jahren massiv erhöht und mit Zentralasien auch ein interregionales Forum etabliert haben.

Darüber hinaus muss die EU bei den Infrastrukturinvestitionen in der Region aufholen und zumindest versuchen ein halbwegs vergleichbares Niveau mit China zu erreichen. Sie kann zudem technische Unterstützung bei der Optimierung, Harmonisierung und Digitalisierung für den Zoll, das Grenzmanagement und verwandte Prozesse leisten. Durch die finanzielle Förderung des westlichen Mittelkorridor-Abschnitts, der den westlichen Balkan und in Zukunft prospektiv auch die Ukraine umfasst, könnte die Annäherung der EU an den Südkaukasus und Zentralasien beschleunigt und gleichzeitig die strategische Autonomie der regionalen Staaten gegenüber Russland und China gestärkt werden.

Die EU sollte auch schrittweise die formale Institutionalisierung ihrer multilateralen Zusammenarbeit mit Zentralasien vorantreiben, etwa durch die Einrichtung ständiger Arbeitsstrukturen unterhalb der Gipfelebene. Auch kann parallel zu dem laufenden Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan ein entsprechendes Format mit dem Südkaukasus etabliert werden. Dies könnte europäischen Unternehmen zudem Möglichkeiten eröffnen, am Bau der TRIPP und der zugehörigen Infrastruktur mitzuwirken.

Schließlich sind Investitionen der EU in die neue, enthierarchisierte Netzwerkordnung Eurasiens, deren Rückgrat der Mittelkorridor ist, nicht nur eine Frage der Konnektivität. Sie sichern auch strategische Präsenz und die Mitgestaltung eines pluralistischen Eurasiens, das sich externer Vorherrschaft widersetzt und offen für Zusammenarbeit in alle Richtungen bleibt. Gleichzeitig hat der Mittelkorridor auch eine größere globale Bedeutung: Er ermöglicht es Europa einerseits und dem Südkaukasus sowie Zentralasien andererseits, durch die Kooperation mit der jeweils anderen Region einen übermäßigen Einfluss der Vereinigten Staaten bzw. Chinas auszubalancieren. Gemeinsame Anstrengungen zur Entwicklung des Mittelkorridors erlauben es beiden Regionen auch, die sich verschärfenden Rivalitäten zwischen internationalen Großmächten besser abzufedern. Ob diese neue Ordnung Bestand haben wird, hängt gleichermaßen von der Fähigkeit der regionalen Akteure ab, ihre strategische Autonomie inmitten erneuter Großmachtkonkurrenz zu wahren, und von der Fähigkeit Europas, sich langfristig als pragmatischer und verlässlicher Partner einzubringen.

Aus dem Englischen von Rostam Onsori

Lesetipps / Bibliographie

  • Azizi, Hamidreza; Isachenko, Daria. 2023. »Turkey-Iran rivalry in the changing geopolitics of the South Caucasus.« SWP Comment 2023/C49, 27.09.2023. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. https://www.swp-berlin.org/10.18449/2023C49/
  • Çetinkaya, Ahmet Faruk; Demirel, Neslihan. 2024. »Analyzing the impact of the organization of Turkic states on the foreign trade of member countries.« Cogent Social Sciences 10 (1): Article 2288370. https://doi.org/10.1080/23311886.2023.2288370
  • Eldem, Tuba. 2022. »Russia’s war on Ukraine and the rise of the Middle corridor as a third vector of Eurasian connectivity – Connecting Europe and Asia via Central Asia, the Caucasus, and Turkey.« SWP Comment 2022/C 64, 28.10.2022. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. https://www.swp-berlin.org/10.18449/2022C64
  • Schmitz, Andrea; Smolnik, Franziska. 2024. »Reconfigurations in the post-Soviet South – Dynamics and Change in Eurasia.« SWP Comment 2024/C 58, 19.12.2024. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024C58

Zum Weiterlesen

Analyse

Der Knotenpunkt des Mittelkorridors am Schwarzen Meer:Bulgarien als Europas neues Tor nach Zentralasien

Von Martin Yanev
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 ist die Transkaspische Internationale Transportroute, auch Mittelkorridor genannt, die wichtigste landgestützte Alternative zur seitdem durch Sanktionen blockierten nördlichen Eurasischen Landbrücke. Dabei nimmt Bulgarien für den Mittelkorridor eine zentrale geoökonomische Position ein. Die Lage des Landes am Schwarzen Meer, seine EU- und NATO-Mitgliedschaft sowie seine Integration ins Transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-T) machen es zum primären Logistikknoten zwischen Europa, dem Südkaukasus, Zentralasien und China. Aufgrund der Suche nach neuen Energie- und Rohstoffquellen für Europa avanciert der Mittelkorridor von einer Handels- und Transportroute zu einem strategischen Projekt mit gesamteuropäischer Dimension. Bulgarien reagiert darauf mit der Modernisierung seiner Infrastruktur, einer Erhöhung der Umschlagkapazitäten der Häfen Warna und Burgas sowie der Vereinfachung von Zollverfahren. (…)
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