Text geschrieben am 3. April 2020 (zuletzt aktualisiert am 7. April 2020)
Reaktionen des Präsidenten
Die Botschaften des Präsidenten an das breite Publikum seit dem ersten Corona-Fall in Belarus lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Panik, die vor allem durch Medien entstehe, sei gefährlicher als das Virus selbst; die Verbreitung des Virus werde von bestimmten internationalen Akteuren und Staatsmächten für ihre partikularen Interessen genutzt; die Ausbreitung des neuen Virus sei harmloser als frühere Epidemien wie etwa Schweinegrippe, Vogelgrippe und atypische Lungenentzündung; persönliche Hygiene und Selbstisolierung (öffentlich erst am 19.03. erwähnt) sollen zur Bekämpfung des Virus ausreichen; die wirtschaftlichen Auswirkungen von weitreichenden Quarantäne-Maßnahmen würden für die belarussische Gesellschaft mehr negative Folgen mit sich bringen, als mögliche Folgen des Virus; in Belarus könne sich das, was in Italien passiert ist, nicht wiederholen. Auch die vorübergehende Grenzschließung von Seiten Russlands (bekanntgegeben am 16.03.2020) und die von der russischen Regierung kommunizierten Irritationen über die Aussagen der belarussischen Führung in Bezug auf das Coronavirus haben die Position des Präsidenten nicht verändert.
Der Präsident kommentiert darüber hinaus die Todesfälle durch Covid-19 öffentlich – und verweist dabei auf chronische Krankheiten, Fettleibigkeit und mangelnde Bereitschaft der Opfer, zu Hause zu bleiben. Nachdem offiziellen Angaben zufolge die erste Person, ein in Belarus bekannter 75-jähriger Theaterschauspieler, am 31. März mit Covid-19 verstorben war, gab der Präsident dem Opfer selbst die Schuld: Er hätte sich isolieren und in seinem Alter nicht »durch die Straßen laufen und arbeiten« sollen. In keinem einzigen Fall hat Lukaschenka den Verwandten der Opfer sein Beileid ausgesprochen.
Möglicherweise sind die für eine harte Quarantäne fehlenden wirtschaftlichen Ressourcen einer der wichtigsten Gründe für diese spezifische Wahrnehmung des Virus durch den Präsidenten: Die wirtschaftlichen Prognosen für 2020 waren auch ohne die Covid-19 Pandemie nicht beruhigend (mehr zu diesem Thema im Beitrag von Dzmitry Kruk in der kommenden Ausgabe). Lukaschenka hat dies selbst indirekt bestätigt, indem er am 27. März US-Präsident Donald Trump öffentlich zugestimmt hat: Wegen Quarantäne-Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus würden mehr Menschen aufgrund der Arbeitslosigkeit sterben als durch das Virus selbst. Zusätzliche wirtschaftliche Turbulenzen und steigende Arbeitslosigkeit sind im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, die in Belarus bis Ende Sommer abgehalten werden sollen, umso weniger erwünscht.
Auch psychologische Faktoren sind nicht ganz auszuschließen: Lukaschenka neigt auch bei anderen Themen der internationalen Politik zu Verschwörungstheorien. Eine pandemische »Psychose« passt zudem nicht in das Bild eines »stabilen Belarus«, das keinen Krieg wie in der Ukraine und keine Migrationskrise wie in der EU kennt. Nicht völlig von der Hand zu weisen ist auch die Vermutung, dass der Präsident nach 26 Jahren uneingeschränkter Macht und ohne funktionierende Feedback-Mechanismen das Gespür für das Befinden breiter Bevölkerungsteile verloren hat.
Letztendlich bleibt unklar, ob der Präsident vor seinen Aussagen ausreichend über die Natur des neuen Virus und die damit verbundene Gefahr informiert worden war, oder ob, im Gegenteil, seine erste Einschätzung der Situation eine Grundlage für das anschließende Handeln des Gesundheitsministeriums und anderer Behörden und staatlichen Gremien gebildet hat.
Das Vorgehen des Gesundheitsministeriums und anderer Stellen
Die wichtigste Botschaft des Gesundheitsministeriums ist bis heute (07.04.2020) unverändert geblieben: Die epidemiologische Situation in Belarus sei unter Kontrolle. Die medizinische Ausrüstung (inkl. über 2.000 Beatmungsgeräte) und die Zahl der Krankenhausbetten (über 80.000) seien nach Angaben des Ministeriums ausreichend, sie würden »definitiv nicht in vollem Umfang benötigt«; die notwendigen Reserven an Medikamenten und persönlicher Schutzausrüstung würden bereitgestellt. Gesundheitsminister Uladsimir Karanik schätzte das Risiko schwerer Erkrankungen durch Covid-19 in Belarus als nicht sehr hoch ein.
In Belarus wurde keine landesweite Quarantäne eingeführt. Allerdings werden zusätzliche Sanitätsmaßnahmen in Flughäfen, an öffentlichen Orten, in Universitäten und Kliniken getroffen. Beispielsweise müssen Personen, die aus Ländern mit registrierten Covid-19-Fällen zurückkehren (169 Länder), sich in eine vierzehntägige Selbstquarantäne begeben. Darüber hinaus wird Selbstquarantäne für Menschen ab 60 Jahren empfohlen, sowie für Menschen mit Vorerkrankungen. Im Fernsehen sowie auf der Webseite des Gesundheitsministeriums wird über die Notwendigkeit von sozialer Distanzierung, persönlicher Hygiene sowie über die Risikogruppen informiert. Den Universitäten wurde empfohlen, den Lehrbetrieb so anzupassen, dass Kontakte minimiert werden; Unterrichtszeiten an den Universitäten wurden verschoben und Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel so angepasst, dass Studierende möglichst nicht zusammen mit Arbeitern fahren müssen. Schulen und Kitas wurden nicht geschlossen. Allerdings haben Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder nach Wunsch vom Schulunterricht zu befreien. Kulturelle, Sport- und wissenschaftliche Veranstaltungen mit internationaler Beteiligung werden eingeschränkt; Sportveranstaltungen mit Beteiligung von Kindern sollen abgesagt werden. Gleichzeitig werden weiterhin landesweit Fußball- und Eishockeyspiele veranstaltet, auch die Vorbereitungen für die Militärparade am 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg, laufen weiter: daran sollen über 3.000 Militärangehörige, unter anderem aus Russland und China, teilnehmen.
Laut Gesundheitsministerium sind die Covid-19-Fallzahlen in Belarus niedrig, weil Belarus effektive Seuchenschutzmaßnahmen durchführt und eine Taktik effektiver Lokalisierung der Kontakte verwendet. Alle Infizierten und deren Kontakte »ersten Grades« (inkl. asymptomatischer Träger des Virus) werden in Krankenhäusern isoliert, während Kontakte »zweiten Grades« sich unter ärztlicher Überwachung befinden. In dem Land mit seinen knapp 9,5 Millionen Einwohnern seien insgesamt über 40.000 Coronavirus-Tests durchgeführt worden (Stand: 06.04.). Zum Vergleich: Nach Angaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lag die Kapazität in Deutschland Ende März bei bis zu 500.000 Tests pro Woche.
Des Weiteren soll das seit den sowjetischen Zeiten beibehaltene System der epidemiologischen Überwachung mit mehreren Infektionskliniken landesweit zur erfolgreichen Bekämpfung des Virus beigetragen haben. In jeder belarussischen Gebietshauptstadt gibt es beispielsweise Abteilungen für besonders gefährliche Erkrankungen (zu denen in Belarus seit dem 07.03. auch Covid-19 gehört), regelmäßig finden Schulungen des Personals statt.
Auch der fachliche Austausch mit Spezialisten aus China sei zum Erfolgsfaktor geworden: Ein von chinesischen Experten entwickeltes Behandlungsschema für Patienten mit Covid-19 sei laut Gesundheitsminister Uladsimir Karanik an Belarus weitergegeben worden.
Das belarussische Gesundheitsministerium äußerte sich, ebenso wie Präsident Lukaschenka, mehrmals gegen Grenzschließungen: Laut Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seien solche Maßnahmen nicht erwünscht, da sie u. a. illegale unkontrollierte Migration stimulieren würden. Die strenge Quarantäne in vielen anderen Ländern wird vom Ministerium als eine rein psychologische Maßnahme betrachtet.
Das WHO-Büro in Belarus bestätigte am 17. März, dass die von Belarus unternommenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Covid-19 rechtzeitig erfolgt seien und den internationalen Empfehlungen entsprächen.
Reaktion der Gesellschaft
Kritik und fehlendes Vertrauen des gesellschaftlich aktiven Bevölkerungsteils
Das Gesundheitsministerium hat bereits mehrmals betont, dass man weder den Wunsch noch die Möglichkeit habe, die Situation mit Covid-19 vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Der zivilgesellschaftlich engagierte Teil der Gesellschaft scheint allerdings den Behörden trotz beruhigender Botschaften nicht zu glauben.
Der Koordinierungsausschuss der belarussischen nationalen Plattform des Zivilgesellschaftsforums der Östlichen Partnerschaft äußerte sich u. a. besorgt über unzureichende Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus in Belarus. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, oppositionelle Strukturen sowie Firmen schickten ihre Mitarbeiter ins Home-Office und sagten ihre Veranstaltungen ab, noch bevor von höchster Stelle eine Selbstisolierung empfohlen wurde. Es wurden mindestens zwei Petitionen für die Einführung einer Quarantäne in Belarus initiiert (auf change.org: über 150.000 Unterschriften; auf petitions.by: über 16.000 Unterschriften; Stand: 07.04.). Studenten initiierten einen Vorlesungsboykott und führten Infokampagnen zum Coronavirus durch, während Fans führender Fußballvereine anfingen, Fußballspiele zu boykottieren. Belarussische Ärzte beteiligen sich seit Ende März an der internationalen Kampagne »Wir bleiben bei der Arbeit, bleiben Sie zu Hause«.
Unabhängige Medien rufen die Behörden zur Verbesserung der Informationspolitik über das Coronavirus auf; gleichzeitig werden Ärzte dazu aufgerufen, über die tatsächliche Situation in den Krankenhäusern und die Todesfälle mit/durch Covid-19 zu berichten. Mehrere Berichte von einzelnen Ärzten wurden bereits anonym auf den Nachrichtenportalen »tut.by« und »svaboda.org« veröffentlicht. Dort heißt es u. a., dass es Ärzten verboten werde, »Lungenentzündung« oder »Coronavirus« als Todesursache zu schreiben, um die Statistik nicht zu verderben und keine Panik zu verursachen; dass die Anzahl der Lungenentzündungen in belarussischen Krankenhäusern im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen sei; dass es einen großen Mangel an Schutzbekleidung für das medizinische Personal gebe und Ärzte oft dazu gezwungen seien, Schutzmasken selbst zu nähen; dass Ärzte nicht ausreichend informiert seien, wie sie Patienten mit möglichen Covid-19-Symptomen behandeln sollen; dass sich Ärzte aufgrund unzureichender Information oft über soziale Netzwerke und Medien informieren müssen; dass Ärzte über die genannten Probleme nicht offen sprechen möchten, weil sie Angst haben, deshalb ihre Arbeit zu verlieren.
Das offensichtlich fehlende Vertrauen des aktiven Teils der Gesellschaft in die epidemiologischen Maßnahmen dürfte wohl folgende Gründe haben: 1) Den Behörden in Belarus wird generell eher nicht geglaubt, und in einer Situation wie dieser Pandemie erinnern sich die Menschen zudem noch an das verantwortungslose Handeln des sowjetischen Staates nach der Katastrophe in Tschernobyl. 2) Man vergleicht die Maßnahmen und Fallzahlen in Nachbarländern und stellt fest, dass die Situation in Belarus nicht realistisch dargestellt wird. 3) Der Staat, auch das Gesundheitsministerium, informiert die breite Öffentlichkeit nicht regelmäßig und nur begrenzt über die epidemiologische Situation im Land; die fehlenden Informationen führen logischerweise zu wachsender Panik und Misstrauen. Beispielsweise liefert das Gesundheitsministerium keine klaren Gesamtfallzahlen. Unabhängige Medien sind daher genötigt, die Informationen über die noch zu behandelnden und geheilten Patienten zu analysieren und aufgrund dessen eigene Berechnungen anzustellen. Zudem stimmen die Angaben des Ministeriums und des Präsidenten zu den Fallzahlen nicht immer überein.
Die offizielle Informationspolitik in Belarus sollte laut der Weltgesundheitsorganisation tatsächlich verbessert werden, und sie wird sogar vom belarussischen Parlament kritisiert. Auch der Präsident gab vor Kurzem zu, dass es »ein gewisses Misstrauen gegenüber den Behörden rund um das Thema Coronavirus gibt«. Für den 7. April ist auf Einladung der belarussischen Seite ein Vor-Ort-Besuch von WHO-Experten geplant. Damit soll u. a. das gesellschaftliche Vertrauen in staatliche Maßnahmen während der Pandemie verbessert werden.
Starke Zeichen der Solidarität
Auch wenn die Situation mit Covid-19 offiziell nicht als problematisch dargestellt wird, zeigt die belarussische Gesellschaft starke Zeichen der Solidarität. Auf Crowdfunding-Plattformen werden u. a. Mittel für medizinische Schutzausrüstung für Krankenhäuser und soziale Dienste sowie für Informationsmaterialien über Covid-19 für ältere Menschen gesammelt; Restaurants bereiten kostenfrei Verpflegungspakete für Ärzte vor; Unternehmen organisieren spontan die Produktion jetzt benötigter Waren (wie Bekleidung oder Desinfektionsmittel); Privatpersonen, die nicht genutzte Wohnungen besitzen, sowie Hotels bieten Ärzten kostenfreie Übernachtungen an. Menschenrechtler und ehrenamtliche Aktivisten organisieren zusammen mit Unternehmen in Belarus und der belarussische Diaspora in EU-Ländern ein Fundraising und den Einkauf notwendiger Schutzausrüstung für Ärzte (vor allem von momentan weltweit fehlenden Atemschutzmasken) und liefern landesweit die gekauften Waren direkt an Krankenhäuser. Laut Informationen von Menschenrechtlern sind zahlreiche Kliniken in Belarus zurzeit nicht in der Lage, den Bezug von Schutzausrüstung zügig zu organisieren. Die Schwierigkeit Anbieter zu finden sowie der bürokratisierte Beschaffungsprozess seien dabei die wichtigsten Hindernisse.
Überraschend viel Gelder – umgerechnet 1 Million Euro – wurden innerhalb von 10 Tagen von Privatpersonen, Firmen und gesellschaftlichen Organisationen auf das Spendenkonto des Gesundheitsministeriums überwiesen. Das Spendenkonto war nach Angaben des Ministeriums aufgrund zahlreicher Anfragen von Menschen und Unternehmen, die helfen wollten, am 24. März eröffnet worden.
Auch Humor erweist sich in der aktuellen Situation in Belarus als Ausdruck von Solidarität – unter dem Hashtag »Das letzte Wort des Präsidenten« wurde in sozialen Netzwerken ein Flashmob gestartet. Menschen schreiben im Namen des Präsidenten Todesanzeigen für sich selbst als ob sie durch das Coronavirus gestorben seien. Damit reagiert der empörte Teil der Bevölkerung auf entwürdigende Kommentare des Staatsoberhauptes über die Covid-19 Opfer in Belarus, die eine Art Victim blaming waren.
Haltung der Bevölkerungsmehrheit
Es ist noch zu früh zu sagen, wie sich die Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zur Pandemie und zu den vom Staat getroffenen Maßnahmen verhält, zumal es sich um einen dynamischen Prozess handelt. Allerdings lassen sich bereits erste Tendenzen beobachten.
Unabhängige Medien schreiben von einer »Volksquarantäne«: Viele Menschen tendieren dazu, sich möglichst wenig in der Öffentlichkeit aufzuhalten und (falls möglich) von zu Hause zu arbeiten. Laut einer Online-Umfrage der »Internationalen Agentur für Sozial- und Marketingforschung« (MASMI) im März – befragt wurden landesweit 500 Menschen – besuchen 67 % der Befragten bereits keine Cafés oder Restaurants mehr, 47 % haben ihre Besuche in Supermärkte eingeschränkt, und ca. 60 % versuchen, Menschenmassen zu meiden. Diese Zahlen scheinen recht hoch zu sein für ein Land, in dem Fußballspiele weiterlaufen und die große Militärparade Anfang Mai nicht abgesagt worden ist. Laut einer weiteren Online-Umfrage des Nachrichtenportals »tut.by« sind ca. 30 % der Arbeitgeber wegen des Coronavirus zu Arbeit im Home-Office (komplett oder anteilig) übergegangen.
Am 3. April wurden die Ergebnisse der ersten soziologischen Online-Befragung zum Thema Coronavirus veröffentlicht (1.002 Menschen wurden in einer repräsentativen Stichprobe befragt). Die Zahlen sprechen nicht für ein hohes Vertrauen der Bevölkerung in den Staat: 70 % der Befragten glauben, dass in Belarus alle öffentlichen Veranstaltungen verboten werden sollten; knapp über die Hälfte ist von der Notwendigkeit überzeugt, alle Bildungseinrichtungen unter Quarantäne zu stellen, wobei sich fast 40 % für hohe Geldstrafen für riskantes Verhalten aussprechen. Was die nahe Zukunft angeht, so sind die Menschen eher pessimistisch: Die Mehrheit (62 %) erwartet innerhalb von einem Monat eine Verschlechterung der Situation mit der Pandemie. Dabei befürchten die Menschen vor allem eine Überlastung des Gesundheitssystems, negative Auswirkungen auf ihre eigene berufliche Situation und ihr Einkommen sowie die Fortsetzung des im März begonnenen Wertverlusts des belarussischen Rubels gegenüber drei Leitwährungen (Euro, US-Dollar und russischer Rubel).
Die genannten Zahlen zeigen, dass die offizielle Haltung zum Coronavirus in Belarus für einen bedeutenden Teil der Gesellschaft problematisch ist. Man kann sich vorstellen, dass die betont unseriöse und scherzhafte Wahrnehmung der Pandemie durch den Präsidenten nicht mit alternativen Informationen kompatibel ist, die Belarussen über unabhängige Medien, soziale Netzwerke und persönliche Kontakte im In- und Ausland erreichen. Dabei helfen anscheinend auch beruhigende und sachliche Argumente des Gesundheitsministeriums und der WHO nicht weiter. Laut der erwähnten Umfrage von MASAMI informiert sich über die Hälfte der Befragten in Online-Medien, sozialen Netzwerken und Foren über das Coronavirus. Gleichzeitig gibt es in Belarus auch Bevölkerungsgruppen, u. a. Rentner, die Informationen meist aus staatlichen Medien erhalten und dadurch eine weniger kritische Sicht auf die Situation mit Covid-19 haben dürften. Hier sind allerdings zwei zusätzliche Faktoren zu beachten: 1) Auch diese Menschen haben jüngere Verwandten, die versuchen werden, alternative Informationen mitzuteilen; 2) Der Diskurs zum Coronavirus in russischen Fernsehsendern, die auch in Belarus weithin empfangen werden, unterscheidet sich deutlich von der offiziellen Position der belarussischen Führung. Das könnte mit der Zeit zu Empörung und Misstrauen führen. Nachrichten aus Russland genießen bei vielen Belarussen ein hohes Vertrauen.
Ausblick
Die aktuelle Strategie zur Bekämpfung von Covid-19 in Belarus sowie ihre beispiellose öffentliche Darstellung bringt auf mehreren Ebenen Gefahren mit sich. Die Aussagen des Präsidenten über eine weltweite »Psychose« werden es ihm erschweren, im Falle einer drastischen Erhöhung der Fall- und Todeszahlen das Gesicht zu wahren und zuzugeben, dass das neue Virus doch gefährlicher ist als gedacht. Allerdings sind harte Maßnahmen eines wirtschaftlichen Lockdowns in Belarus aufgrund fehlender finanzieller Kapazitäten eher als letztes Mittel vorstellbar.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass Ministerien, medizinische Einrichtungen und Ärzte vor Ort aus politischer Angst nicht offen über die tatsächliche epidemische Situation sprechen könnten. Es bleibt zudem unklar, ob angesichts der scherzhaften und sarkastischen Kommentare der politischen Führung über das Coronavirus die Empfehlungen des Gesundheitsministeriums tatsächlich die Risikogruppen in Belarus erreichen. Im schlimmsten Fall wird das Ganze zu einem völlig unkontrollierten Verlauf der Epidemie führen, mit nur schwer prognostizierbaren Folgen für die belarussische Gesellschaft.
Bis jetzt hat der Staat es trotz relativ niedriger offizieller Fallzahlen nicht geschafft, breites Vertrauen und Unterstützung der belarussischen Öffentlichkeit zu sichern. Die weitere Entwicklung wird u. a. davon abhängen, wie transparent in Zukunft über die Epidemie berichtet wird und wie schnell und flexibel sich das politische System an die Entwicklung der Infektionszahlen sowie die öffentliche Meinung wird anpassen können. Sollten weitere herablassende Aussagen des Präsidenten über die verstorbenen Opfer erfolgen, könnte das eine aggressive Reaktion in der Gesellschaft auslösen. Zunehmende solidarische, zivilgesellschaftliche Aktivitäten während der Pandemie könnten wiederum langfristig zu einer Steigerung des allgemeinen Vertrauens in die Zivilgesellschaft und ehrenamtliches Engagement führen.
Sinkendes Vertrauen in den Staat, Enttäuschung und Hilflosigkeit, verknüpft mit den bereits jetzt unausweichlich erscheinenden wirtschaftlichen Problemen in naher Zukunft (45 % der Menschen fühlen laut Umfragen bereits einen Einkommensrückgang), können je nach Dynamik einen schlechten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Hintergrund für die Präsidentschaftswahlen im Sommer bilden.