Belarus-Analysen

Ausgabe 49 (18.04.2020) — DOI: 10.31205/BA.049.01, S. 2–6

Die Wirtschaft von Belarus: Zustand, Bedrohungen, Perspektiven

Von Dzmitry Kruk (Forschungszentrum BEROC, Minsk)

Zusammenfassung
Dieser Beitrag befasst sich mit dem Zustand der belarussischen Wirtschaft und analysiert die aktuellen Perspektiven und Bedrohungen. Es wird aufgezeigt, dass die Entwicklungsmöglichkeiten durch eine Reihe institutioneller Defekte stark eingeschränkt sind. Darüber hinaus sind für die Wirtschaft des Landes unlängst neue Herausforderungen aktuell geworden, die auf verschärfte Widersprüche in den bilateralen Beziehungen mit Russland zurückgehen. Zur Beseitigung dieser Widersprüche ist die belarussische Regierung genötigt, eine systemische Antwort zu formulieren. Davon, wie die Antwort ausfällt, hängen sowohl die mittelfristigen wie auch die kurzfristigen Entwicklungsperspektiven des Landes ab. Die Palette der jeweiligen Optionen ist recht breit: von einer Rückkehr des Landes auf einen Pfad nachhaltigen Wachstums bei einer Minimierung der kurzfristigen Verluste bis hin zu einer Beibehaltung der Stagnation als Hintergrund für die mittelfristige Entwicklung bei Rezession und Finanzturbulenzen im Jahr 2020.

Aktueller Zustand der Wirtschaft: Hintergrund und Resultate der mittelfristigen Entwicklung

Das Schlüsselproblem der belarussischen Wirtschaft besteht seit nunmehr rund 10 Jahren in dem – insbesondere nach Maßstäben von Ländern mit aufstrebenden Märkten – schwachen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Erste Anzeichen einer Verschlechterung des Wachstumspotenzials waren bereits 2007 zu beobachten, als die beständigen Wachstumsraten der ersten 2000er Jahre von 7–8 Prozent sich abschwächten. Bis 2015 hatte eine Verfestigung dieser Tendenz dazu geführt, dass das Wachstumspotenzial auf 1,5–2,5 Prozent zurückging. Versuche, dieses konzeptuelle Problem mit Hilfe kurzfristiger wirtschaftlicher Anreize zu maskieren, haben zu Devisenkrisen (2011 und 2015) geführt und das Land 2015–2016 in eine Rezession gestürzt. Im Ergebnis lag das tatsächliche Wachstum in den vergangenen fünf Jahren (insgesamt über den Zeitraum von 2015–2019) sogar unterhalb des Potenzials. Das belarussische BIP war um nur 0,7 Prozent gewachsen, weswegen zu konstatieren ist, dass sich die belarussische Wirtschaft in einer Stagnation befindet.

Die Stagnation hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass Belarus hinsichtlich der Wachstumsraten in der Region von einer führenden Position auf die hinteren Plätze abgerutscht ist, während das Niveau des tatsächlichen Wohlstandes (BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität – PPP) im Vergleich mit den Ländern Mitteleuropas und des Baltikums (MEB) nach 20 Jahren Wachstum (1995–2015) sich wieder verringerte (seit 2015). So betrug der tatsächliche Wohlstand in Belarus auf dem Höchststand der Jahre 2012–2014 rund 77 Prozent des Durchschnitts der 11 MEB-Länder und ging bis 2019 auf rund 64 Prozent zurück. Dieser Trend birgt die Gefahr in sich, dass neue Hindernisse für ein zukünftiges Wachstum entstehen. Angesichts der gewachsenen Kluft bei den Einkommen hat beispielsweise die Migration in die Nachbarländer (vor allem nach Polen) in den letzten Jahren spürbar zugenommen, was für Belarus einen Mangel an Humankapital für künftiges Wachstum bedeutet. Darüber hinaus führt der Weggang qualifizierter Fachkräfte in bestimmten gesellschaftlich wichtigen Bereichen – etwa im Gesundheitswesen – auch zu sozialen Herausforderungen. Somit stellen mangelndes Wachstum und Stagnation ein großes Problem dar, das weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betrifft.

Der wichtigste Stagnationsfaktor in Belarus ist die mangelnde Produktivität, in der sich die institutionellen Schwächen der belarussischen Wirtschaft widerspiegeln. Zu den wichtigsten gehören: Der Vorrang des Prinzips »der Champion wird ernannt« (darunter wird die aktive Rolle der Regierung bei der Verteilung der finanziellen Ressourcen in der Wirtschaft und bei der Festlegung von Branchenprioritäten verstanden), Einschränkung des Wettbewerbs, Dominanz des Staatsbesitzes. Geht man von dieser Vorstellung über die Funktionsweise der Wirtschaft aus, so fördert die Regierung die Konzentration eines beträchtlichen Anteils der Ressourcen in ausgewählten Sektoren, errichtet unter ihrer Kontrolle vertikal integrierte Wertschöpfungsketten und schirmt diese von einer Konkurrenz ab. Allerdings kann die Konzentration von Ressourcen in privilegierten Sektoren, die nach Vorstellung der Regierung über eine Massierung von Kapital die Produktivität erhöhen soll, diese Aufgabe nicht lösen. Erstens sind die positiven Impulse durch eine Massierung von Anlagevermögen oft schwach, da eine Vergrößerung der letzteren überwiegend in Branchen oder Firmen stattfindet, in denen sie bereits mehr als genug angereichert sind. Darüber hinaus haben die Branchen oder Firmen oft ein recht archaisches Management, und orientieren sich zudem an Märkten, bei denen das Potenzial begrenzt ist. Zweitens bedeutet das auf die Gesamtwirtschaft bezogen eine »Repression« der Produktivität, weil produktivere Firmen wegen des eingeschränkten Wettbewerbs, und weil sie keinen freien Zugang zu Finanz- und Arbeitskräfteressourcen haben, in ihrem Wachstumspotenzial eingeschränkt werden.

Der Regierung ist eine Beibehaltung des »Tiefenfundaments« der belarussischen Wirtschaft wichtig, was auf ihre »politische Bequemlichkeit« zurückzuführen ist. Hier mag wohl auch der Glaube bestehen, dass ein solches Modell bei entsprechendem »Tuning« gleichwohl Wachstum generieren kann. Zudem sind Befürchtungen recht verbreitet, dass eine drastische Revision der Grundlagen für die Wirtschaftsmechanismen unabsehbare Folgen haben könnte.

Aus diesem Grund ist eine Reform des »Tiefenfundaments« immer noch nicht in vollem Maße auf die Tagesordnung gelangt. Dabei hatte die Regierung es sich ab 2015 – angesichts der verfestigten Stagnation wie auch der aktuelleren Bedrohung für die Finanzstabilität – wohl kaum erlauben können, die schwachen wirtschaftlichen Ergebnisse zu ignorieren. Ein gewisser Kompromiss bestand in dieser Situation in punktuellen und kosmetischen Veränderungen, die es ermöglichten, die empfindlichsten Disproportionen zu beseitigen oder abzumildern, ohne dass dabei die der Regierung wichtigen Wirtschaftsmechanismen in Frage gestellt werden. Beispiele für diese Veränderungen sind die Liberalisierung der Betätigungsfelder für Privatunternehmen sowie eine Verschärfung der Haushaltsbeschränkungen für Staatsunternehmen. Doch auch diese punktuellen Veränderungen blieben letztendlich nicht unumkehrbar. So wird beispielsweise die Strenge der Haushaltsbeschränkungen für Staatsunternehmen korrigiert: 2018–2019 waren sie wieder weniger streng als noch 2016–2017.

Dieser »punktuelle« Ansatz verwandelte sich allmählich in eine ungeschriebene Konzeption zur Entwicklung zweier paralleler Wirtschaften. Im Rahmen dieser Konzeption wird die Volkswirtschaft in zwei Bereiche geteilt: in eine traditionelle (mit einer Dominanz des staatlichen Sektors) und eine neue (mit einer Dominanz des privaten Sektors). Die traditionelle Wirtschaft soll die Beschäftigung und auch das Volumen der Produktion, der Zahlungen aus dem Haushalt und dem Außenhandel sicherstellten. Dabei sind Kriterien wie Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit und die Möglichkeit, Wachstum zu generieren, hinsichtlich des jeweiligen Segments de facto zweitrangig. Die neue Wirtschaft hingegen soll Dynamik gewährleisten und als systemische Triebkraft für Wachstum agieren. Der wichtigste Weg und ein zentrales Instrument zur Entwicklung der neuen Wirtschaft sind die Zonen bzw. Technologieparks mit speziellen Bedingungen für unternehmerische Tätigkeit. Die prägnantesten Beispiele hierfür sind der »High-Teck-Park« sowie der Industriepark »Wjaliki Kamen« (dt.: »Großer Stein«), der gemeinsam mit China aufgebaut wird.

Eine weitere wichtige Neuerung der letzten fünf Jahre sind die veränderte Rolle und Verortung der Wirtschaftspolitik (vor allem der Geld- und Haushaltspolitik). Während sie 2008 bis 2014 deutlich auf Stimulierung ausgerichtet war (was zur Maskierung des schwachen Wirtschaftswachstums nötig war), so wurde sie ab 2015 neu fokussiert, nämlich auf die Herstellung einer makroökonomischen und finanziellen Stabilität. Dadurch ist Belarus in den letzten Jahren eine recht ungewöhnliche Kombination eigen gewesen: ein institutionell schwaches Wirtschaftsmodell (mit punktuellen und langsamen Veränderungen) verbunden mit einer rationalen und auf Makrostabilität zielenden Wirtschaftspolitik. Das führt dazu, dass die Wirtschaft nur sehr langsam wächst (schließlich wird das Wachstum nicht mehr künstlich stimuliert). Gleichzeitig wird das makroökonomische Gleichgeweicht sichergestellt (geringe Inflation und Arbeitslosigkeit, akzeptabler Zustand der Handelsbilanz und des Staatshaushalts).

Makroökonomische Entwicklung im Vorfeld von 2020

Das Jahr 2019 steht in der Reihe der letzten Jahre recht typisch da: Das Wirtschaftswachstum war schwach (1,2 % über das gesamte Jahr), gleichzeitig wurden aber praktisch alle Indikatoren für Makrostabilität aufrechterhalten oder sogar gefestigt. So lagen die Inflationswerte dicht an den von der Nationalbank als Ziel ausgegebenen 5 Prozent, das Profizit des konsolidierten Haushalts betrug rund 3 Prozent des BIP, das Defizit bei laufenden Operationen lag bei rund 1 Prozent des BIP und die Arbeitslosigkeit bei 4 Prozent. Dabei wird der Haushalt in den letzten Jahren traditionell mit einem Profizit gebildet, da die Regierung die Aufgabe stellt, die Staatsverschuldung zu reduzieren. Daher wird ein Teil der Mittel, die das Profizit bilden, für die Begleichung von Basissummen aus der Staatsverschuldung reserviert.

Das Problem des wackeligen Wirtschaftswachstums hat wie schon in den Vorjahren weiterhin die Wirtschaft belastet. Das Potenzial eines gleichgewichtigen Wachstums wurde 2019 auf 1–3 Prozent geschätzt. Doch bestanden für eine Umsetzung dieses Potenzials im ersten Halbjahr 2019 konjunkturelle Hindernisse. Zum einen befand sich die Wirtschaft in einer zyklischen Wachstumsdelle. Nach einer Phase stürmischen Wachstums (2017–2018) begann sich der Enthusiasmus der belarussischen Haushalte abzuschwächen, und somit verlangsamte sich auch der Anstieg ihrer Konsum- und Investitionsnachfrage. Zweitens wirkte sich der Zwischenfall mit der Lieferung von russischem »schmutzigen Öl« im April 2019 negativ auf die Wirtschaft aus.

Die Wirtschaftsbehörden waren nicht in der Lage, diese Tendenzen im vollen Umfang zu nivellieren, da man an der Makrostabilität festhielt. Im Rahmen des zur Verfügung stehenden Instrumentariums versuchte man, über Löhne und Gehälter sowie auch über Sozialleistungen Wachstumsimpulse zu generieren. Aus diesen Gründen stiegen die Gehälter und Renten 2019 (real) verhältnismäßig stark (in Bezug auf die Arbeitsproduktivität und das Wirtschaftswachstum); der Anstieg betrug übers Jahr 7,7 bzw. 13,1 Prozent. Der Anstieg der Einkommen machte auch die Beibehaltung eines recht stürmischen Wachstums der Kreditverschuldung der Haushalte möglich, der bereits 2017 eingesetzt hatte. Diese beiden Faktoren stützten 2019 den Anstieg des Konsums durch Privathaushalte (ein Schlüsselelement für die Binnennachfrage), obwohl es gegen Ende des Jahres eine Abschwächung.

Im zweiten Halbjahr bildeten sich – im Zuge des natürlichen Endes einer zyklischen Abschwächung – die Voraussetzungen heraus, dass sich die wirtschaftliche Aktivität und die Rolle der Investitionsnachfrage verstärkten. Eine weitere Grundlage hierfür waren die im Zusammenhang mit der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks geplanten Investitionen. Darüber hinaus trug auch die Zunahme von Bankkrediten das ihre hierzu bei. Signale hierfür waren die verbesserten Erwartungen (vor dem Hintergrund des Phasenwechsels im Wirtschaftszyklus), sowie die angesichts der geringen Inflation aktivere Reduzierung der Zinssätze durch die Nationalbank. Die Dynamik dieser Trends nahm im dritten Quartal zu, und ihre erwartete Zunahme hätte die Wirtschaft zu einem Wachstum von 1,6 Prozent über das Jahr 2019 und von rund 2 Prozent im Jahr 2020 bringen können.

Im vierten Quartal 2019 jedoch begann sich die wirtschaftliche Konjunktur recht schnell zu ändern. Ein erstes Warnsignal war die Verlangsamung bzw. das Absinken von Exportlieferungen bei einer Reihe von für Belarus wichtigen Warengruppen. Zum Teil war das eine Folge der Abschwächung des Wachstums der Weltwirtschaft, zum Teil eine Folge spezifischer Probleme bei Produzenten bestimmter Waren (etwa von Kalidünger). Bis zum Ende des Jahres hat sich der negative Hintergrund durch die Ungewissheit hinsichtlich der offenen Öl- und Gasfragen in den Beziehungen zu Russland erheblich verstärkt. Bei Befragungen von Firmen und Haushalten wurden nun negative Erwartungen festgestellt. Die Firmen ließen sich hiervon und von der schwachen Finanzlage leiten: Statt der vor kurzem noch geplanten Aktivierung von Investitionsprojekten wurden diese nun aufgeschoben oder gar aufgegeben. Darüber hinaus fuhren die Firmen Ende des Jahres ihre Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt herunter, die Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze ging drastisch zurück und die Arbeitslosigkeit stieg erstmals seit 2017, zwar unwesentlich, aber sie nahm zu.

Die russisch-belarussischen Beziehungen und deren Einfluss auf die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung

Die Peripetien in den Verhandlungen zwischen Belarus und Russland 2019–2020 über eine »vertiefte Integration« und die Öl- und Gasfragen haben konzeptuelle Widersprüche zwischen den beiden Ländern deutlich werden lassen. Die Unterzeichnung des Vertrags von 2014 über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) wurde von den Offiziellen in Minsk de facto als formale Festschreibung eines »Großen Deals« in den Beziehungen zu Russland wahrgenommen. Aus Sicht der belarussischen Regierung bedeutete es, dass Belarus für militärische Zusammenarbeit und geopolitische Loyalität gegenüber Russland im Gegenzug folgendes garantiert bekommt: 1) Zugang zum russischen Markt, 2) gegenüber dem Marktniveau reduzierte Gaspreise; 3) privilegierte Bedingungen beim Handel mit Öl und Ölprodukten. Insgesamt sollte der »Große Deal« – nach den Vorstellungen der Regierung – zum Fundament eines neuen Wachstumszyklus werden. Darüber hinaus sollten die Sonderbedingungen beim Ölhandel zu einem wichtigen Element werden, mit dem makroökonomische und finanzielle Stabilität aufrechterhalten werden könnte.

Die russische Interpretation der Bestimmungen des Vertrages über die EAWU wich von der belarussischen ab. Im Lauf der Jahre 2015–2018 hat es spürbare Widersprüche gegeben. Allerdings wurde die russische Forderung von 2019 nach der Unterzeichnung eines Pakets über eine »vertiefte Integration« im Gegenzug für eine Beibehaltung der Sonderbedingungen beim Öl von Minsk von Anfang an als Versuch wahrgenommen, die Bestimmungen des »Großen Deals« grundlegend zu revidieren. Gleichwohl führte die belarussische Regierung ein Jahr lang Verhandlungen im von Russland vorgeschlagenen Format, wobei sie offensichtlich hoffte, dass man sich auf dekorative und rein deklarative Abmachungen beschränken würde. Ende 2019 dann verließ Belarus diesen Weg, nachdem man sich bewusst geworden war, dass eine »vertiefte Integration« unausweichlich die unmittelbare Gefahr einer politischen und institutionellen Abhängigkeit nach sich ziehen würde.

Auf den ersten Blick könnte ein annehmbarer Ausweg aus der Situation, die sich durch das Steuermanöver Russlands ergeben hat, in einer Annahme der Preisbedingungen Russlands für 2020. In diesem Jahr würde das eine Erhöhung des Einkaufspreises von Rohöl auf 83 Prozent des Weltpreises bedeuten, was einem Anstieg um rund 4 Prozentpunkte gegenüber 2019 entspräche. Das würde zu einem Rentabilitätsrückgang bei den belarussischen Raffinerien führen, der deren Gewinn auf null fahren ließe, und zu einem Ausfall von Haushaltseinnahmen sowie zu einer Verschlechterung der Handelsbilanz (um rund 250 Mio. US-Dollar). Gleichzeitig hätte durch Gegenmaßnahmen (Erhöhung der Brennstoffpreise auf dem Binnenmarkt, Subvention der Raffinerien) das Problem der ungenügenden Rentabilität der Raffinerien eingedämmt werden können; dabei ist die Dimension, in der sich die Außenhandels- und Haushaltspositionen bewegen, auf der Makroebene gar nicht so kritisch.

Allerdings ist das Problem in Wirklichkeit erheblich größer. Eine Annahme der russischen Bedingungen ab 2020 – dem Jahr, ab dem Russland mit der Subventionierung seiner Raffinerien beginnt – würde de facto eine Zustimmung zur russischen Interpretation der Abkommen im Rahmen der EAWU bedeuten. Außerdem würde sich die Regierung nicht mehr auf diese Abkommen berufen können, um eine Grundlage für Forderungen nach zukünftigen Sonderbedingungen beim Handel mit Energieträgern zu erhalten. Und in den kommenden Jahren wird es praktisch unmöglich sein, durch kompensierende Maßnahmen ein rentables Funktionieren der Ölverarbeitung zu gewährleisten. Daher ist die Weigerung der belarussischen Regierung, die Bedingungen Russlands zu akzeptieren (zumindest zu Beginn des laufenden Jahres), in erster Linie ein Versuch, beim Öl den Status quo in vollem Maße wiederherzustellen und dadurch mittelfristig das »bequeme« Wirtschaftsmodell zu retten, zu bewahren und sicherzustellen. Schließlich ist der ölverarbeitende Sektor eine Art Kern des Wirtschaftsmodells, das errichtet wurde. Berücksichtigt man die intersektoralen Verbindungen sorgt er für mindestens 8,5 Prozent des BIP. Darüber hinaus ist die Branche von überaus großer Bedeutung für das Ergebnis des Außenhandels (der Export von Ölprodukten generiert rund 30 Prozent der Devisenerlöse) und den Zustand des Devisenmarktes. Schließlich sind die Exportgebühren bei Öl in den letzten Jahren zu einer wichtigen Einnahmequelle für den Haushalt geworden. Sie stellen auch Mittel dar, mit denen externe Anleihen bedient werden können.

Die Regierung hat mit dem Versuch, die Ölverarbeitung und das gewünschte Wirtschaftsmodell zu sichern (der in der Weigerung mündete, russisches Öl zu neuen Preisbedingungen zu erwerben) ein sehr ernstes Hindernis für das Funktionieren der Wirtschaft 2020 geschaffen. Daher steht Belarus im Frühjahr 2020, nachdem es logischerweise den Weg einer »vertieften Integration« ausgeschlagen hat, vor einer neuen Wegscheide, an der sich die kurz- und mittelfristigen Entwicklungsaussichten der Wirtschaft entscheiden.

Kurz- und mittelfristige Szenarien der wirtschaftlichen Entwicklung in Belarus

Der Umstand, dass Belarus die gewünschten Sonderbedingungen beim Ölhandel nicht erreichen konnte, zwingt die Regierung zu einer systemischen Antwort auf diese Herausforderung. Gegenwärtig zeichnen sich drei Optionen für die mittelfristige Entwicklung ab.

Der erste Weg läge in einem prinzipiellen Einverständnis, dass die Branche in absehbarer Zukunft Öl zu Marktpreisen kaufen wird. Das hätte zwei wichtige Folgen. Zum einen dürfte die Ölverarbeitung für den Export aller Wahrscheinlichkeit nach unrentabel werden (berücksichtigt man die langen Transportwege), und es würde notwendig werden, die Produktion entweder spürbar zurückzufahren oder ganz auf den Export von Ölprodukten zu verzichten. Das bedeutet, dass die Ölverarbeitung nicht mehr als Quelle für Devisenerlöse dienen und einen Beitrag zur Festigung der äußeren und fiskalischen Sicherheit leisten könnte. Zweitens würden die Preise auf dem Binnenmarkt ebenfalls Marktniveau erreichen. Das würde dazu führen, dass die Ölverarbeitung nicht mehr als Kern der intersektoralen Wirtschaftsverbindungen dienen kann und für viele Unternehmen und ganze Branchen (u. a. beim Transport, im Großhandel, in der Chemie, der Petrochemie, im Bauwesen, der Energiewirtschaft, in der Lebensmittelproduktion und in der Landwirtschaft) eine beträchtliche Revision der Geschäftsmodelle notwendig werden würde. Anders ausgedrückt: Dieser Weg bedeutete eine grundsätzliche Revision und eine Reform der »Tiefenfundamente« des belarussischen Wirtschaftsmodells. Zur Umsetzung dieser Dinge würden sich für die Regierung zeitliche Spielräume ergeben. In diesem Fall könnte man, nachdem man das Endziel der Befreiung von der Ölabhängigkeit verkündet hat, recht schmerzlos die Bedingungen des russischen Steuermanövers akzeptieren und im Laufe von zwei bis drei Jahren die Reform umsetzen. Darüber hinaus würde dieser Weg den wirtschaftlichen Rückgang mildern, der für 2020 angesichts der zunehmenden Probleme in der globalen Wirtschaft bereits unausweichlich erscheint, und auch die Gefahr des Finanzstresses im laufenden Jahr begrenzen. In diesem Fall wäre es realistisch, für das Jahr 2020 den Rückgang des BIP minimal zu halten (im Bereich von 0 bis 2 Prozent), während gleichzeitig die makroökonomische und finanzielle Stabilität gewahrt bliebe.Der zweite Weg würde bedeuten, dass Belarus versucht, die etablierte Rolle der Ölverarbeitung durch eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen beizubehalten: a) durch eine permanente Suche nach und eine Variierung mit alternativen Ölanbietern zu akzeptablen Bedingungen (indem man etwa die gegenwärtige Stresssituation auf den Ölmärkten ausnutzt); b) durch den Abschluss neuer umfangreicher Abkommen, sowohl auf der rein wirtschaftlichen Ebene (beispielsweise über Öllieferungen zu annehmbaren Preisen im Gegenzug für eine Gewährung von Vorteilen für den Vertragspartner in anderen Sektoren der belarussischen Wirtschaft), wie auch von Abkommen mit einer politischen Komponente; c) durch eine beschleunigte Modernisierung der Raffinerien und möglicherweise deren (teilweise) Neuausrichtung; d) durch einen allmählichen Anstieg der Treibstoffpreise auf dem Binnenmarkt. Mit etwas Glück und politischem Geschick hat dieser Weg Aussicht, das Endziel zu erreichen, nämlich die Sicherstellung der Lebensfähigkeit der Ölverarbeitung und auch der »Tiefenfundamente« der Wirtschaft. Bei ungewissen Aussichten jedoch zieht er eine ganze Reihe zumindest wirtschaftlicher Gefahren nach sich. Erstens setzt er intensive Investitionen in den Sektor voraus, was wiederum eine zusätzliche Belastung der Ölraffinerien und/oder des Haushalts bedeutet. Zweitens ist dieser Weg in Bezug auf die Aussichten für die kurzfristige Entwicklung (2020) der gefährlichste.

Die Einschränkung der Öllieferungen im Jahr 2020 (bei einem Fehlen jedweder Orientierungshilfen für die Zukunft der Branche) stellt bereits jetzt einen erheblichen Schock für die Wirtschaft dar, der praktisch unausweichlich zu einer Rezession im ersten Quartal führen wird. Bei einer Entscheidung für den zweiten Weg würde die Begrenzung und Instabilität der Lieferungen diesen Effekt verlängern. Daher macht dieser Weg eine Rezession 2020 praktisch unausweichlich. Darüber hinaus könnten die ungewissen Zukunftsaussichten zu einem nachhaltig wirksamen Hintergrund für die wirtschaftlichen Akteure werden. Dieser würde die Verbreitung und das Anwachsen negativer Impulse aufs Äußerste begünstigen. Wobei man sich daran erinnern sollte, dass der belarussischen Wirtschaft bereits ein breites Spektrum wunder Punkte eigen ist: die hohe Schuldenlast und die geringe Qualität der Firmenschulden, die geringe Standfestigkeit der Staatsschulden gegenüber einem Wertverfall der nationalen Währung und einer Verlangsamung des BIP-Wachstums, ungewisse Inflationserwartungen und ein starker Übergang zum Dollar auf den Finanzmärkten sowie Beschränkungen für die Geld- und Fiskalpolitik. Somit könnte die Rezession tief ausfallen, lange anhalten und von neuen finanziellen Stresssituationen begleitet werden. Wenn zu diesem Szenario neue externe Schocks hinzukommen, die in der Weltwirtschaft größer werden, könnte das Belarus kurzfristig in einen »perfekten Sturm« führen.

Der dritte Weg bedeutete, dass aufgrund politischer Abmachungen und der sich wandelnden Außenwelt die belarussische Regierung mit Hilfe eines neuen politischen Abkommens mit Russland ihr ursprüngliches Ziel erreichen könnte, nämlich die Wiederherstellung der Sonderbedingungen im Ölbereich. Das würde eine Umgehung der Wegscheide ermöglichen und den von der Regierung gewünschten Status quo zurückkehren lassen, kurzfristig und mittelfristig. Angesichts der verkündeten Position Russlands erscheint diese Variante sehr unwahrscheinlich.

Daher können nur die ersten beiden Optionen als realistisch betrachtet werden. Gegenwärtig versucht die Regierung, die unangenehme Entscheidung vor sich her zu schieben, was die Wirtschaft gleichwohl automatisch auf den zweiten Entwicklungspfad treiben wird.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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