Belarus-Analysen

Ausgabe 50 (08.07.2020) — DOI: 10.31205/BA.050.03, S. 11–13

Covid-19: Zur Frage der »statistischen Anomalie« in Belarus

Von Piotr Rudkouski (Belarussisches Institut für Strategische Studien – BISS, Minsk)

Zusammenfassung
Die erste Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 in Belarus wurde am 28. Februar 2020 festgestellt, exakt einen Monat nachdem in Deutschland der erste Fall bestätigt wurde. Anders als in Deutschland und den übrigen europäischen Staaten beschränkte sich Belarus auf minimale Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Am 9. Mai wurde die Parade anlässlich des Tages des Sieges im Zweiten Weltkrieg abgehalten, an der rund 20.000 Menschen teilnahmen. Praktisch alle Einrichtungen arbeiten vollkommen planmäßig, es gab zu keinem Zeitpunkt eine Pflicht, in der Öffentlichkeit Schutzmasken zu tragen. Gleichzeitig gehört die Sterberate durch CoViD-19 in Belarus – der offiziellen Statistik zufolge – zu den niedrigsten in Europa. Das alles macht den Fall Belarus so besonders, wenn nicht gar einzigartig. Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, diesen Fall – genauer gesagt: den Kern der Widersprüche, nämlich die »statistische Anomalie« in Belarus hinsichtlich der Pandemie – möglichst unvoreingenommen zu analysieren.

Antikorona-Maßnahmen: Dreifach milder als in Schweden, bei einer Sterberate wie in Island

Der belarussische Ansatz zur Bekämpfung der Pandemie ist wohl kaum mit dem in irgendeinem anderen europäischen Land zu vergleichen. Selbst der schwedische Ansatz, der in einer Reihe belarussischer und europäischer Medien als »Absage an Quarantäne« dargestellt wird, muss da im Vergleich zum belarussischen Vorgehen als »strenge Quarantäne« erscheinen. Der Government Response Stringency Index bewertete die Strenge der belarussichen Maßnahmen gegen die Epidemie mit 13,89 von 100 Punkten (Stand: 9. Juni). Gleichzeitig führte der Index die Strenge der Maßnahmen in Schweden mit einem Wert von 46,3 Punkten, also mehr als dreimal so hoch. Im April ist diese Kluft nur unwesentlich geringer gewesen. Im Mai waren die Proportionen ungefähr wie jetzt.

Folgt man der offiziellen Statistik, hat Belarus eine der niedrigsten Sterberaten durch Covid-19 in Europa. Mit Stand vom 11. Juni sind in Belarus lediglich 3,1 Personen pro 100.000 Einwohner an Corona gestorben (in Deutschland waren es 10,6). Noch beeindruckender ist das Verhältnis von registrierten Todesfällen zu den bestätigten Infektionen. Im Laufe des Mai und der ersten Junihälfte schwankte dieser Wert zwischen 0,55 und 0,57 Prozent. Unter den europäischen Ländern kann nur Island einen derart niedrigen Wert vorweisen. Auch die Entwicklung der Sterbezahlen im Zusammenhang mit dem Coronavirus beeindruckt in Belarus. Seit dem 31. März, als der erste Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 registriert wurde, betrug die Anzahl der Sterbefälle im Durchschnitt 3 bis 4 pro Tag (und das bis zum 15. Juni) und überstieg nie 7 Todesfälle pro Tag. Angesichts des Umstandes, dass die Zahl der Todesfälle in Italien, Spanien oder den USA bis an die 2.000 heranreichte, stellt sich die Sterberate in Belarus sehr optimistisch dar. Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Bevölkerungszahl von Belarus 5 bis 30 Mal geringer ist als in diesen Ländern, so sind die Sterbezahlen durch Covid-19 in Belarus um das 150- bis 300-fache geringer.

Einige Journalisten nichtstaatlicher Medien in Belarus haben dieses statistische Phänomen als »belarussische Anomalie« bezeichnet und behaupten, dass das Gesundheitsministerium die Zahl der Covid-19 Opfer erheblich untertreibt.

Wir sind derzeit nicht in der Lage, diese Behauptung eindeutig zu bestätigen oder zu widerlegen, weswegen wir uns auf Erläuterungen beschränken, und zwar erstens zu den Argumenten, die für eine Fälschung der Statistiken über Coronatote sprechen, und zweitens zu den Argumenten, die auf eine Korrektheit dieser Statistiken hinweisen. Auf Grund dieser Informationen sollen dann einige Schlussfolgerungen gezogen werden.

Wahrscheinlichkeit von Fälschungen – Argumente dafür und dagegen

Betrachten wir zunächst auf Tabelle 1 zwei Argumentlinien.

tabelle_ba50_2.jpg

Hier einige Kommentare zu den aufgeführten Argumenten:

Zu (1). Die Liste der Fälle, in denen das System in Belarus aus politischen oder ideologischen Überlegungen heraus Daten über die Wirklichkeit gefälscht hat, ist lang. Das markanteste Beispiel sind die ständigen Wahlfälschungen, die sowohl von unabhängigen belarussischen wie auch von den meisten internationalen Beobachtern festgestellt wurden. Allerdings ist hier ein Aspekt zu berücksichtigen: Die Diagnostik hinsichtlich der Todesursachen unterscheidet sich erheblich von der Untersuchung, ob es bei der Stimmauszählung zu Manipulationen gekommen ist oder nicht. Um etwa festzustellen ob ein Stimmzettel, auf dem ein »alternativer« Kandidat angekreuzt ist, bei der Stimmauszählung auf dem Stapel der Stimmen für Aljaksandr Lukaschenka landet, braucht es keine speziellen Kenntnisse oder komplexen Analysemethoden. Bei der Feststellung der Todesursache hingegen sind gewisse Kenntnisse, bestimmte Analysen und Zeit erforderlich.

Zu (2). Da es sich um mehr als nur vereinzelte Berichte über frisierte Statistiken handelt (die unter anderem über Medien, soziale Netzwerke und persönliche Kontakte verbreitet werden) spricht die Gesamtheit dieser Berichte für eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass manipuliert wird. Da Covid-19 starke Emotionen hervorruft, ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch übertriebene Darstellungen möglich sind.

Zu (3). Die Stärke dieses Arguments beruht auf zwei Annahmen, nämlich dass a) die Statistiken über Coronatote in den meisten anderen Ländern stimmen und b) es in Belarus keinerlei Faktoren gibt, die hier zu einer geringeren Sterblichkeit durch Covid-19 führen. Beide Annahmen sind nicht eindeutig zu verifizieren. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es in den meisten anderen Ländern keine vorsätzliche Manipulation der Statistik im Sinne einer höheren Zahl von Coronatoten gibt, lässt sich gleichwohl nicht ausschließen, dass es zu gewöhnlichen kognitiven Verzerrungen kommt. Da allenthalben eine starke Nachfrage nach schneller und eindeutiger Information über die Pandemie herrscht, könnte sich die Diagnose der Tode durch Covid-19 in Richtung einer überhöhten Zahl der betreffenden Sterbefälle verzerren.

Der Aspekt (b) wird unter der Erörterung der Argumente des zweiten Blocks erläutert, nämlich zugunsten einer Stimmigkeit der belarussischen Statistik.

Zu (I). In Belarus sind die Seuchen- und Gesundheitsschutzbehörden aus sowjetischer Zeit erhalten geblieben. Das ist womöglich einer der wenigen positiven Aspekte des Festhaltens an sowjetischen Traditionen durch das belarussische Regime. Angesichts der Pandemie könnte dies hinsichtlich der geringen Zahl an Coronatoten eine positive Rolle gespielt haben.

Zu (II). In dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2013 ist zu lesen: »Belarus verfügte 2011 im europäischen Bereich der WHO mit über die höchste Anzahl an Krankenhausbetten pro Kopf, nämlich über 11,3 pro 1.000 Einwohner, was deutlich über dem Durchschnitt in der GUS [Gemeinschaft Unabhängiger Staaten] mit 8,3 pro 1.000 im Jahr 2011 und in der EU mit 5,5 pro 1.000 Einwohner (2010) liegt.« Wir gehen davon aus, dass sich die Zahl der Krankenhausbetten in den vergangenen neun Jahren nicht wesentlich verringert hat.

Zu (III). Aus dem Bericht des Nationalen Instituts für das Gesundheitswesen in Italien (Istituto superiore di sanità) vom 22. Mai geht hervor, dass das Durchschnittsalter der an Covid-19 gestorbenen Personen 81 Jahre beträgt. Das sind zwar Daten aus nur einem Land, doch bieten sie eine Grundlage für die Annahme, dass die altersbezogene Demographie einer der wichtigen Faktoren für die Sterblichkeit durch Covid-19 sein könnte: Je größer die Altersgruppe der über Achtzigjährigen, desto höher die Sterbezahlen durch Covid-19.

Dem Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen von 2019 zufolge liegt Belarus bei der statistischen Lebenserwartung an 82. Stelle (bei 186 Ländern): In Belarus beträgt die Lebenserwartung 74,6 Jahre (in Deutschland liegt sie bei 81,2 Jahren, in Schweden bei 82,7 und in Italien bei 83,6 Jahren – siehe: Human Development Report 2019. United Nations Development Programme. 10. Dezember 2019).

Die relativ geringe Lebenserwartung ist zweifelsohne kaum etwas, mit dem sich das Land brüsten könnte, und sie verweist auf eine Reihe sozialer und wirtschaftlicher Probleme. Im Kontext der »statistischen Anomalie« jedoch könnte sie zum Teil eine Erklärung sein, warum die Zahl der Coronatoten in Belarus geringer ausfällt als in vielen anderen Ländern.

Zu (IV). Bei der Diskussion über die Sterblichkeit durch die Pandemie wird immer wieder die Frage nach der Ursächlichkeit aufgeworfen. Wie bereits erwähnt, ergibt sich bei der Feststellung einer Kausalität zwischen einer Infektion im Organismus und einem Todesfall eine »Grauzone der Ungewissheit«, also eine Situation, in der keine eindeutige Antwort gegeben werden kann, ob ein Patient durch eine Infektion oder mit einer Infektion gestorben ist. Bei dieser Argumentation ist der logische Fehler Namens post hoc ergo propter hoc (wörtlich: nach etwas, also durch etwas) wohlbekannt. Dieser besteht in der unbegründeten Annahme, dass in dem Falle, dass ein Ereignis F nach einem Ereignis G erfolgt, dies automatisch bedeutet, G sei die Ursache von F.

Die Frage, wie die verschiedenen Länder das Problem dieser Grauzone lösen, in welchem Maße dieser systematische post hoc-Irrtum zum Tragen kommt und auf welche Weise dies Einfluss auf die Statistik hat, erfordert weitere Untersuchungen. Bisweilen beschränken wir uns auf den Hinweis, dass das belarussische Gesundheitsministerium – so ergibt es sich aus den Erklärungen von Vertretern des Ministeriums – bestrebt ist, zwischen Todesfällen mit SARS-CoV-2 und solchen durch SARS-CoV-2 zu differenzieren. Natürlich bleibt die Frage, ob eine solche Differenzierung nicht mit unterschiedlichen Fehlern und Verzerrungen behaftet ist. Allerdings stellt sich diese Frage auch in jenen Ländern, in denen eine solche Differenzierung überhaupt nicht vorgenommen wird.

Vorläufige Schlussfolgerungen

Nach einer Analyse der Argumente für die widerstreitenden Behauptungen ist festzustellen, dass die Frage, ob es in Belarus eine Manipulation der Corona-Statistiken gibt oder nicht, bislang nicht eindeutig zu beantworten ist. In unserem Institut, dem BISS, verfolgen wir derzeit die Arbeitshypothese, dass es in der Tat eine ideologische »Korrektur« der Statistik gibt. Das heißt, wir sind nicht der Ansicht, dass die Zahl der Coronatoten um das Fünf- bis Zahnfache nach unten manipuliert wurde, wie das in einigen oppositionellen belarussischen Medien behauptet wird.

Natürlich ist jede vorsätzliche Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse abzulehnen, umso mehr, wenn es um eine so lebenswichtige Frage geht. Wenn man jedoch von dem ethischen Aspekt des Problems abstrahiert und sich der zutiefst faktenbezogenen Frage widmet, wie sehr die offizielle Statistik von der Wirklichkeit entfernt ist, so lautet die Antwort wohl: im Rahmen der kognitiven Fehlerspanne. Die Abweichung von der Wirklichkeit kann beträchtlich sein, in Belarus wie auch in anderen Ländern. Diese Abweichung kann sich jedoch aus einem ganz banalen Umstand ergeben: Die kognitiven Möglichkeiten des Menschen sind nicht unbegrenzt.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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