Belarus-Analysen

Ausgabe 51 (09.10.2020) — DOI: 10.31205/BA.051.01, S. 2–7

Sozialpolitik in Belarus – ein Sonderweg?

Von Anastasija Jurkewitsch (Lithuanian Social Research Centre, Vilnius)

Zusammenfassung
Die Sozialpolitik in Belarus, der das sowjetische Modell zugrunde liegt, ist recht spezifischer Natur und unterscheidet sich sogar von der Politik in anderen Ländern der Region: Während die Nachbarstaaten die Orientierungspunkte für ihre staatliche Sozial- und Wirtschaftspolitik nach Erlangung der Unabhängigkeit geändert haben, demonstrierte Belarus den Willen, die Struktur und die entsprechenden Institutionen des sowjetischen Vorbilds zu übernehmen und beizubehalten.
Folgt man den Versicherungen von Vertretern der belarusischen Bürokratie, so übertrifft Belarus bei der sozialen Versorgung und Absicherung sogar die entwickelten Länder der Europäischen Union. Eine eingehendere Betrachtung der offiziellen Daten lässt dies jedoch als Fiktion deutlich werden: Es wird klar, dass für dieses Land sowohl die spezifisch regionalen Herausforderungen, als auch viele Probleme der fortschrittlichen Industriegesellschaften kennzeichnend sind: Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung bei gleichzeitiger Alterung der Gesellschaft, Problemen durch Migration usw. In diesem Beitrag werden die prioritären, gleichzeitig aber auch am stärksten kritisierten Vektoren der belarusischen Sozialpolitik analysiert, nämlich der Lebensstandard und die Lebensqualität der Bevölkerung, die Beschäftigung sowie das Rentensystem.

Überblick

Das sowjetische System sozialer Absicherung, das eine garantierte Verwirklichung des Gleichheitsprinzips im Bereich der Sozialhilfe und des sozialen Schutzes verkündete, hatte seine Evolution gegen Ende der 1980er Jahre beendet. Es hatte den Bürgern Hilfen zur sozialen Versorgung geboten (Hilfs- und Ausgleichszahlungen sowie Vergünstigungen für jene, die vorübergehend die Quellen zum Lebensunterhalt verloren haben oder einer zusätzlichen Unterstützung bedurften), wie auch sozialen und versorgenden Unterhalt (Renten und soziale Dienstleistungen).

Das Fenster der Möglichkeiten, das sich durch den Zerfall der UdSSR öffnete, wurde zur Verkündung der Unabhängigkeit genutzt. Gleichzeitig trafen die Versuche eines Übergangs zur Marktwirtschaft auf eine heterogene und sehr zahlreiche Gegnerschaft, die einen spürbaren Rückgang des Lebensstandards zu spüren bekommen hatte. Das allseits verbreitete Misstrauen gegenüber einer wirtschaftlichen und politischen Neuordnung sowie die zunehmende Korruption und Kriminalität haben insgesamt mit dazu beigetragen, dass die Menschen 1994 Aljaksandr Lukaschenka wählten, einen parteilosen Parlamentsabgeordneten ohne politische Vergangenheit, der versprochen hatte, die Korruption im Land zu besiegen. Lukaschenka trat für eine Bewahrung des sowjetischen Erbes ein, unter anderem in den Bereichen der Sozialpolitik. Die Vorstellung von einer teilweisen Wiederherstellung des sowjetischen Systems fand in der belarusischen Gesellschaft Unterstützung, da man die negativen Folgen der radikalen Wirtschaftsreformen in Russland mitverfolgen konnte: Inflation, Kürzung der Sozialausgaben, Zunahme von Kriminalität und Korruption, Entwertung der privaten Ersparnisse und Verzögerungen und Ausfälle bei den Renten- und Gehaltszahlungen. Über fünf Amtszeiten hinweg sind »Stabilität« und »Sozialstaat« markante Konzepte der Wahlkämpfe von Aljaksandr Lukaschenka gewesen.

Das moderne System der sozialen Sicherung in Belarus ist – wie zu sowjetischen Zeiten –Prärogative des Staates (und nicht des privaten Sektors). Es umfasst Sozialversicherungen (Rente und Arbeitslosigkeit) und Sozialhilfe. Dieses System verteilt rund 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wobei auf die Rentenzahlungen über drei Viertel dieser Ressourcen entfallen. Für soziale Hilfen (Kindergeld, Leistungen für Arbeitslose oder Menschen mit Behinderungen, Vergünstigungen, Fördermittel, Sozialrenten) werden lediglich rund 2,5 Prozent des BIP aufgewandt, für den sozialen Schutz von Personen im erwerbsfähigen Alter sind es 1,1 Prozent des BIP. Juristisch stützt sich dieses System auf die Verfassung des Landes, auf Gesetze, Erlasse und andere Gesetzesakte. Finanziert wird es durch die Pflichtversicherungsbeiträge der Arbeitgeber und Erwerbstätigen, durch eigenständige Versicherungsbeiträge von natürlichen Personen, Mitteln aus Kapitalreserven und anderen Quellen.

Offiziell wurde ein Übergang von einem paternalistischen zu einem effektiveren subsidiären Modell der Sozialpolitik verkündet. Forscher verweisen jedoch auf das Fehlen eines eingespielten Systems zur Identifizierung jener sozialen Gruppen, die einer zielgerichteten Hilfe bedürfen (Hier waren die Mängel schon zu Sowjetzeiten erkennbar gewesen). So sind beispielsweise ideologisch begründete Hilfsprogramme für Weltkriegsveteranen und Angehörige der Innenbehörden (des Innenministeriums – MUS) entwickelt worden, anders als etwaige Hilfsprogramme für Menschen, die zeitweilig in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind (Migranten, Arbeitslose usw.). Der Populismus des Regimes Lukaschenka ist nicht auf eine verstärkte Effektivität und Zielgenauigkeit der Sozialpolitik auf die Bewahrung einer formalen Übereinstimmung mit dem sowjetischen System der sozialen Sicherung und der deklarierten Gleichheit ausgerichtet.

Zu den vorrangigen, gleichzeitig aber auch am stärksten diskutierten und kritisierten Vektoren der Sozialpolitik in Belarus gehören: 1) Lebensqualität und Lebensstandard; 2) Beschäftigung und Erwerbstätigkeit und 3) die Sozialpolitik für ältere Menschen.

Der Lebensstandard und das Problem der sozialen Ungleichheit

Offiziell wird verkündet, dass die Lebensqualität und der Lebensstandard der Bevölkerung zu den wichtigsten Richtungen der staatlichen Sozialpolitik gehören. 2018 betrug der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) für Belarus 0,817, was im weltweiten Vergleich Rang 50 entspricht. Dieser Wert ordnet die Länder aufgrund umfassender statistischer Daten ein, u. a. zur Lebensqualität, zur Lebenserwartung, zum Prokopfeinkommen und zum Bildungswesen. Der Lebensstandard der Belarusen liegt über dem des weltweiten Durchschnitts. Gleichwohl entfiel 2018–2019 der größte Teil ihrer Ausgaben auf Lebensmittel, nämlich 36,3 Prozent (zum Vergleich: in Deutschland waren es 10,8 %, in der Ukraine 50 %, in Polen 16,4 %, in Russland 30,2 % und im europäischen Durchschnitt 12,1 %). Gleichzeitig sind 3,2 Prozent der Bevölkerung der Ansicht, dass ihr Einkommen nicht zum Kauf von Lebensmitteln ausreicht, 19,9 Prozent erfahren Schwierigkeiten, Kleidung zu kaufen, bei 39,5 Prozent der Bevölkerung reicht das Einkommen zum Kauf von Lebensmitteln und Kleidung, jedoch nicht für Haushaltsgeräte. Also lässt sich festhalten, dass diese Daten trügerisch sind, insbesondere aufgrund der Entwertung des belarusischen Rubels und der Inflationsrate im Land. Die meisten europäischen Statistiken enthalten keine Angaben zu Belarus, während die belarusischen Methoden zur Erhebung statistischer Daten sich oft von denen unterscheiden, die in anderen Ländern Europas üblich sind.

Zu den negativen Parametern der belarusischen Wirtschaft 2008–2009 (Rückgang des BIP, der Beschäftigung, der Kaufkraft in der Bevölkerung, der Warenexporte sowie das Anwachsen der Lagerbestände) kam in den Jahren 2014–2020 ein Wertverlust des belarusischen Rubel hinzu. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich und brachte viele Belarusen – selbst erwerbstätige – an den Rand der Armut. Der Mindestlohn in Belarus lag im ersten Halbjahr 2020 bei 375 Rubeln (am 1. Juli 2020: ca. 138 Euro). Offiziell wird zwar von dessen ständiger Anhebung gesprochen, doch wenn am 1. Januar 2020 ein Mindestlohn von 375 Rubeln noch rund 158 Euro entsprach, so waren es im September dieses Jahres rund 120 Euro.

Eine der wichtigsten Ursachen für Ungleichheit und eines der wichtigsten Hindernisse bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist die Korruption. Nach Angaben der Vereinten Nationen stellt diese eine große Barriere für die Entwicklung und eine Linderung der Armut dar. Korruption bewirkt eine ungerechte Verteilung der Ressourcen, verletzt die Rechte der Ärmsten und Verwundbarsten und verstärkt die Stratifizierung der Gesellschaft. Das postsowjetische Belarus, das die soziale und politische Struktur des sowjetischen Staates ohne kardinale Änderungen beibehielt, hat von diesem auch die Schattenbereiche des sozialen, politischen und Wirtschaftslebens übernommen: Vetternwirtschaft bei der Einstellung von Mitarbeitern und dem Zugang zu sozialen Vergünstigungen, Bestechung, Zahlungen ohne Beleg, Sonderbedingungen für Mitglieder staatlicher politischer Organisationen (etwa Wohnheimplätze für Mitglieder des Belarusischen Jugendverbands BRSM). Somit entsprechen die sozialen Garantien – ungeachtet der kostenlosen Gesundheitsversorgung und Bildung sowie der theoretisch gleichen Bedingungen und Möglichkeiten – nicht den in den Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Werten oder den statistischen Daten.

Während weltweit das Problem der Abwertung geringqualifizierter Arbeit aktuell ist, liegen die Dinge in Belarus etwas anders: Eine hohe Qualifizierung bedeutet keine Garantie für einen gut bezahlten Beruf, während ein geringes Bildungsniveau und geringqualifizierte Arbeit oft höhere Einkommen mit sich bringen. So zählen in Belarus Lehrer, Vorarbeiter und Ingenieure, Mitarbeiter von Kultureinrichtungen, Facharbeiter usw. zur unteren Mittelschicht. Bei der Berufs- oder Arbeitsplatzwahl fällt zudem die Entscheidung nach alter sowjetischer Tradition oft nicht zugunsten eines höheren Lohnes, sondern zugunsten einer Position mit mehr Einfluss oder mit zusätzlichen Vorteilen aus dem schattenwirtschaftlichen Bereich. Diese Situation ändert sich heute nur im IT-Sektor, der nach den Gesetzen der Marktwirtschaft funktioniert.

Der belarusische Staat garantiert der Bevölkerung (zumindest deklarativ) das Recht auf Arbeit, kostenlose Bildung und medizinische Behandlung. Allerdings hängt die Qualität offiziell kostenloser Medizin und Bildung in der Praxis unmittelbar von Schmiergeldern ab, und Vorzugskredite Ausschreibungen und Auktionen, ja selbst der Rechtsbeistand für die Bürger würden ohne »schattenwirtschaftliche Motivation« für die Mitarbeiter staatlicher Behörden oft nicht funktionieren. Und die Ungleichheit der Einkommen vergrößert wiederum über materielle und immaterielle Mechanismen das Korruptionsniveau, weil jene, die sich rechtswidrig bereichert haben, dann auch ihren Einfluss festigen wollen, was einen Teufelskreis schafft. Eine soziale Gruppe, die über mehr Macht und Einfluss verfügt, verhält sich positiver gegenüber Korruption und kommt ohne sie nicht aus, und diejenigen ohne Einfluss können ebenfalls ohne sie nicht auskommen. Die Menschen sehen die ungleiche Verteilung, denken aber, dass es anders nicht geht, dass man nur auf unehrliche Weise Wohlstand erlangen kann. Hierher rührt die tolerantere Haltung zu Schmiergeldern. So leben Generationen in einer korrupten Gemeinschaft und in einem Diskurs von »Schmiergeld« und »Vitamin B«, wobei sie das Gefühl für das Unrichtige, Amoralische dieses Systems verlieren. In der Konsequenz führt das zu einer Verstärkung der Ungleichheit und zu mehr Bedürftigen, die jenseits der Armutsgrenze leben.

Eine Studie des Verbandes Transparency International hat gezeigt, dass Korruption nicht nur Folgen für die Wirtschaft, sondern auch Einfluss auf die Verteilung der Ressourcen in der Bevölkerung sowie die Ungerechtigkeit und die Wirksamkeit der Sozialprogramme hat. Die offiziellen Statistiken in Belarus besagen, dass die Einkommen der Bevölkerung zunehmen. Gleichzeitig wächst mit jedem Jahr die Inflation und steigt auch der Koeffizient der Einkommensstreuung. Auf dem Korruptionswahrnehmungs-Index von Transparency International nimmt Belarus den 66. Rang unter 180 Ländern ein (zum Vergleich: 2012 und 2013 rangierte das Land noch auf dem 123. Platz unter 175 Ländern; der Wert hat sich also verbessert). Ein solcher Sprung eines kritisch geringen Wertes wird wegen der stagnationsartigen politischen Situation im Land mit seiner seit 26 Jahren unveränderten politischen Vertikale kontrovers diskutiert.

Auch hinsichtlich der fehlenden Möglichkeit, staatliche Vergünstigungen in reale Geldleistungen umzuwandeln, sprechen Experten von ungleichen Möglichkeiten und der mangelnden Ausrichtung der Sozialleistungen auf die bestehenden Bedürfnisse. Die Menschen sind hier in ihrer Wahl eingeschränkt (unter anderem in den Bereichen Gesundheit und Bildung), und die Inanspruchnahme der Vergünstigungen wird durch die physische, standardmäßige Realität beschränkt. So gerät etwa die kostenlose Fahrt eines Menschen mit Behinderungen in einem nicht dafür ausgestatteten Verkehrsmittel (insbesondere in der Straßenbahn) zu einer nicht nutzbaren Fiktion. Daher ist in Belarus eine grundlegende Revision der Sozialpolitiken vonnöten, um die optimale Form der sozialen Leistungen zu ermitteln und die soziale Unterstützung und den Schutz des einzelnen Bürgers auf ein qualitativ neues Niveau anzuheben.

Beschäftigung und Regulierung des Arbeitsmarktes

Von Offiziellen wird betont, dass eine Verbesserung der Arbeitsbeziehungen und der Beschäftigung ein wichtiger Vektor der Sozialpolitik der Republik Belarus. Der Kollaps der Sowjetunion brachte eine drastische Verschärfung der Lage auf dem Arbeitsmarkt mit sich. Daher hat Lukaschenka in seiner Politik den Akzent auf den Erhalt der Arbeitsplätze und die Arbeitsplatzvermittlung nach Absolvierung der Ausbildungseinrichtung gelegt.

Der Arbeitsmarkt in Belarus ist formal rigide – kennzeichnend sind die traditionelle Form und Struktur der Beschäftigung und der Arbeitsmarkt ist auf eine Beibehaltung der Arbeitszeit-Standards usw. ausgerichtet. Er kann nicht zu den flexiblen und effizient regulierten Arbeitsmärkten gezählt werden. Die globalen sozialen und wirtschaftlichen Prozesse wie auch die Wirtschaftskrise im Land selbst führen zu einer Ausbreitung negativer sozialer Phänomene auf dem Arbeitsmarkt. Eines der wichtigsten Probleme von Belarus – wie auch weltweit – ist die Arbeitslosigkeit. Allerdings besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Arbeitslosigkeit in Belarus und der in Ländern mit einer Marktwirtschaft. In letzteren ist Arbeitslosigkeit die Folge von Kapitalbewegungen innerhalb einer oder zwischen verschiedenen Branchen, also Teil eines wirtschaftlichen Zyklus. Die belarusische Wirtschaft ist jedoch dadurch gekennzeichnet, dass Arbeitslosigkeit hier im Kontext der extensiven Entwicklung einer verstaatlichten Wirtschaft, durch Akkumulierung überschüssiger Arbeitskräfte innerhalb der Unternehmen erzeugt wird. Unternehmen mit sinkender Produktivität versuchen, künstlich die Arbeitsplätze zu erhalten, indem sie den Lohn und die Leistungsvorgaben der Arbeiter reduzieren. Daneben gibt es auch die Taktik, dass die Zahl der Arbeitstage reduziert wird und Mitarbeiter in zusätzlichen Urlaub geschickt werden (in einigen Unternehmen unbezahlt).

Die staatliche Beschäftigungspolitik und die Politik zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen im Land werden nicht nur durch Gesetze festgelegt, sondern auch durch Rechtsakte des Präsidenten. Der bis heute aufsehenerregendste Präsidialerlass ist das Dekret Nr. 3 »Über der Verhütung von sozialer Abhängigkeit«. Dieser 2015 ergangene Erlass, der als »Dekret über Sozialschmarotzertum« bekannt wurde, ist ein »ideologisches Instrument«, das »jene zur Arbeit nötigen soll, die das müssen und die es können«, und zwar mit Hilfe einer Besteuerung von Arbeitslosen. Vorbild für dieses Dekret mit Gesetzeskraft ist der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der BSSR »Über die Verstärkung des Kampfes gegen Personen, die sich gesellschaftlich nützlicher Arbeit entziehen und einen antigesellschaftlichen, parasitären Lebenswandel führen« aus dem Jahr 1961. Nach den breiten Protesten gegen diesen Erlass im Jahr 2017 wurde die Erhebung der Steuer auf unbestimmte Zeit verschoben. Eine solche Maßnahme erscheint angesichts der dramatisch niedrigen Ausgaben für Arbeitslosenhilfen und der deklarierten geringen Arbeitslosigkeit im Land paradox, irrational.

Die Ausgaben für Sozialhilfe entsprechen insgesamt 2,5 Prozent des BIP, und die für Arbeitslosenhilfe machen nur 0,2 Prozent dieser Summe aus (rund 0,006 % des BIP). Die offizielle staatliche Statistik veröffentlicht für Belarus stabil niedrige Arbeitslosenwerte, die im Vergleich mit den Werten in anderen Ländern der Region fantastisch anmuten. Ganz gleich, um was für ein Jahr es sich handelt, ob um ein Krisenjahr oder ein Jahr des Aufschwungs – die Arbeitslosenquote geht seit 2003 ständig zurück. Mehrere Jahre hintereinander lag der Wert bei 0,5 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Am 1. Juli 2020 betrug sie 0,2 Prozent (zum Vergleich: in Russland waren es am 1. Juli d. J. 6,3 %, in der Ukraine 8,9 % im ersten Quartal 2020 und im Juni 2020 waren es in Polen 6,1 %). Diese Daten stoßen bei Forschern auf Zweifel; sie attestieren Belarus eine versteckte Arbeitslosigkeit und nehmen an, dass die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen bis zu einer Million betragen könnte, also mehr als 10 Prozent der Bevölkerung.

Beachtenswert ist auch der Umstand, dass die Höhe der Arbeitslosengelder in Belarus nach internationalen Standards dramatisch niedrig ist: Der Höchstsatz betrug mit Stand vom 1. Januar d. J. 54 Rubel bzw. 17 Euro pro Monat (Der Durchschnittslohn lag im Juni 2020 nominal bei 1287 Rubeln – rund 423 Euro). Die Ausgaben für Arbeitslosenhilfe betragen 0,006 Prozent des BIP, was ein Hundertstel des Durchschnittswerts in den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) darstellt (0,68 %). Zudem ist für den Erhalt von Arbeitslosengeld Bedingung, dass man sich an gesellschaftlichen Arbeiten beteiligt, die als zwangsweise und somit als von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verboten betrachtet werden. Ganz gleich, welche Arbeit jemand sucht, als Friseur, Lehrer oder Ingenieur, ist diese Person verpflichtet, eine bestimmte Zahl Arbeitsstunden abzuleisten und dabei Straßen zu fegen oder in einer Sowchose bei der Ernte zu helfen. Die versteckte Arbeitslosigkeit (also jener Personen, die nicht beim Arbeitsamt gemeldet sind) erzeugt eine Reihe negativer Effekte, etwa Verzögerungen bei der Lohnauszahlung, unfreiwillige Auswanderung, Wechsel zu geringer bezahlten Arbeitsplätzen, die Suche nach Möglichkeiten im »Schattensektor« oder aber reduzierte Anforderungen beim Arbeitsschutz.

Weitere Besonderheiten der staatlichen Arbeitsmarktpolitik sind unter anderem die Zwangsmitgliedschaft von Mitarbeitern und Studierenden in regierungsfreundlichen Organisationen, Pflicht-Abonnements staatlicher Medien, die erzwungene Teilnahme von Mitarbeitern und Studierenden an gesellschaftlichen Veranstaltungen, die erzwungene vorzeitige Stimmabgabe bei Wahlen, die staatliche Beschäftigung von Hochschulabsolventen auf Staatskosten und per Zuweisung.

In Belarus herrscht derzeit die Tendenz zu einem wachsenden Arbeitskräftemangel. Am stärksten fehlen Arbeiter, Verkäufer, Fahrer, Köche, Reinigungskräfte, Kassierer, Ladearbeiter und Krankenpfleger. 2020 hat es 33.000 freie Stellen gegeben, die einen Lohn von bis zu 400 Rubeln vor Steuern (ca. 128 Euro) anbieten. Das Lohnniveau bei diesen Stellen ist mit der Bezahlung in den Nachbarländern nicht vergleichbar, weswegen sich der Abzug von Arbeitskräften verstärkt. Experten erkennen darin die Folgen einer falschen Ausrichtung der Sozialpolitik, nämlich auf eine Beibehaltung der Beschäftigung um jeden Preis, und nicht auf eine Umstrukturierung und Effizienzsteigerung der Produktion. Das Fehlen einer ausreichenden Zahl gut bezahlter Arbeitsplätze nötigt die Belarusen zur Emigration. Es gibt keine realen Daten zur Anzahl der Arbeitsmigranten: Einerseits fehlt eine umfassende Untersuchung zur Zahl der nicht offiziell registrierten belarusischen Migranten in die Europäische Union (nach Schätzungen von Experten sind es zwischen 800.000 und 1,2 Mio.). Andererseits wird die Zählung der belarusischen Arbeitsmigranten in Russland durch die fehlende Grenze zwischen den beiden Staaten erschwert. Polnische Gesetzesinitiativen für Migranten aus postsowjetischen Ländern und die fehlende Grenze zur Russischen Föderation erleichtern Belarusen den Zugang gerade zu diesen Arbeitsmärkten.

Die Arbeitsmigration verschärft auch das Problem der Alterssicherung.

Probleme des modernen Systems der Alterssicherung in der Republik Belarus

Das staatliche Rentensystem in Belarus funktioniert heute nach dem Prinzip, dass den heutigen Rentnern Rentenbezüge gezahlt werden, die sich aus den laufenden Beiträgen der beschäftigten Bevölkerung und deren Arbeitgeber finanzieren. Die institutionelle Struktur ist seit Sowjetzeiten unverändert beibehalten worden. Die wichtigsten Änderungen, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit, vorgenommen wurden, betrafen die Lebensarbeitszeit und das Renteneintrittsalter.

Gleichzeitig werden die negativen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen in der Region zu einer immer größeren Herausforderung für den Staat: Der Anteil der Älteren in der Bevölkerung von Belarus wird immer größer, die Alterung der Nation tritt immer deutlicher zutage. Aktuelle Prognosen der Vereinten Nationen von 2019 gehen davon aus, dass die Bevölkerung von Belarus erheblich abnehmen wird, und der Quotient der Abhängigkeit der älteren Bevölkerungsgruppen von den Jüngeren (»Rentnerquotient«: Anzahl der Personen über 65 pro 100 Beschäftigte) werde sich von 43 im Jahr 2015 auf 82 im Jahr 2050 fast verdoppeln.

Angesichts dieses Umstandes wurde 2016 eine Anhebung des Rentenalters vorgenommen, um die negativen Folgen der Alterung abzufedern. Dadurch vergrößert sich die erwerbsfähige Bevölkerung (bis 2022 wird das Rentenalter für Männer 63 (statt 60) Jahre betragen, für Frauen werden es 58 (statt 55) Jahre sein.

Experten sprechen jedoch von einer Verschlimmerung der Wirtschaftskrise im Land und einem Rückgang des Lebensstandards. Einerseits nehmen die Forscher daher an, dass in der jetzigen Phase für Belarus ein Übergang zu einem kapitalbasierten Rentensystem kaum möglich ist. Bis zur Herstellung einer makroökonomischen Stabilität wird lediglich die Reform einzelner Parameter des jetzigen Rentensystems möglich sein. Ohne eine Reform des Systems dürfte dass Haushaltsdefizit zunehmen. Eine weitere Anhebung des Rentenalters bedeutete, dass die Sicherung eines angemessenen Lebensabschnitts für Männer nicht möglich wäre, da die Kluft zwischen der statistischen Lebenserwartung von Männern und Frauen bis zu 11,5 Jahre beträgt. Leider beträgt die Lebenserwartung von Männern des Jahrgangs 1960, die noch nicht aus Altersgründen in Rente gegangen sind (nach neuer Gesetzgebung nach dem 63. Lebensjahr), 65,03 Jahre (für Frauen sind es 69 Jahre). Für Männer des Jahrgangs 1970 sind es 66,67 Jahre (Frauen: 73 Jahre), für Männer des Jahrgangs 1980 sind es 66 Jahre (für Frauen: 74).

Andererseits gewinnt ein Teil der älteren Bevölkerung durch die Möglichkeit, weiter zu arbeiten. Gleichzeitig bliebe ein anderer Teil der Bevölkerung bei einer Anhebung des Rentenalters und der für die Rentenzahlungen maßgeblichen Lebensarbeitszeit ohne die erwarteten, früher per Gesetz festgelegten Rentenzahlungen und jenseits der absoluten Armutsgrenze. Ein markantes Beispiel sind Bürger, die die bezahlte Pflege von Verwandten mit Behinderungen übernehmen, wobei diese Zeit bei der Berechnung der Rente nicht berücksichtigt wird. Die materielle Lage der Rentner dürfte sich bei einer Anhebung des Rentenalters selbst dann nicht verbessern, wenn die Betroffenen erfolgreich eine Beschäftigung finden: Die zusätzlichen Jahre der Lebensarbeitszeit wirken sich nur unwesentlich auf die Höhe der Rentenzahlungen aus. Mit Stand vom Juli 2020 betrug die durchschnittliche Höhe der festgesetzten Altersrenten 472,85 Rubel (rund 152 Rubel).

Was die sozialen Dienste für Ältere betrifft, so ist hier der Staat in Gestalt unterschiedlicher Behörden und Einrichtungen der Hauptakteur. Durch staatliche Aufträge zur sozialen Fürsorge werden einige gesellschaftliche Organisationen beteiligt; der Anteil von Privatfirmen ist hier allerdings verschwindend gering. Die Familie war und bleibt die wichtigste Quelle der Fürsorge und trägt vor dem Gesetz die Verantwortung für die Betreuung älterer und anderer abhängiger Familienmitglieder. Daher ist eine offizielle Pflege, die in Einrichtungen oder zu Hause gewährt wird, nur wenig verbreitet. Im belarusischen Gesetzbuch über die Ehe und die Familie, dem wichtigsten rechtlichen Regelwerk in diesem Bereich, ist festgeschrieben, dass im Alter Kinder die Verantwortung für ihre Eltern tragen. Da nun arbeitende Verwandte sich nicht um Ältere kümmern können, wächst die Nachfrage nach bezahlten sozialen Diensten.

Das Überwiegen informeller familiärer Pflege ist der Grund, warum Probleme wie die verstärkte Einbindung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die hohe Scheidungsrate und die wachsende Anzahl alleinerziehender Eltern sowie das erhöhte Armutsrisiko für Frauen aktuell sind. Zudem ist für Belarus heute die Frage aktuell, wie Mitarbeiter für die Pflegebranche für Ältere und Gebrechliche gewonnen werden können. Schließlich verdienen Belarusen hiermit ihren Lebensunterhalt in Ländern mit einem höheren Lebensstandard.

Schlussfolgerungen

Zweifellos muss der belarusische Staat, wenn er seinen Bürgen Wohlstand gewährleisten will, im Bereich der Sozialpolitik erhebliche Veränderungen vornehmen. Konkrete Vorschläge dürfen sich allerdings ausschließlich auf exakte statistische Daten stützen, die nach Ansicht unabhängiger Forscher und Experten aber immer noch ausstehen (unter anderem Daten über wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, über den Lebensstandard, über Arbeitslosigkeit usw.). Langfristig sollte Belarus:

Die Lebensqualität und den Lebensstandard seiner Bürger anheben;Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit reduzieren;Die Arbeitsmarktgesetzgebung derart normalisieren, dass der Abzug von Arbeitskräften zurückgeht und die Beschäftigung flexibler wird;Das System der Alterssicherung unter Berücksichtigung der wichtigsten demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Parameter reformieren;Programme zur Bekämpfung der Ausgrenzung älterer Menschen und der Prekarisierung der Arbeit von Personen im Frührenten- und Rentenalter ins Leben rufen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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Zum Artikel auf zois-berlin.de
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