Text auf dem Stand vom 17.10.2020
Eine geopolitische Krise
Verfassungen sind in nichtdemokratischen Staaten von geringer Bedeutung, sollte man meinen. Uneingeschränkt regierende autoritäre Herrscher biegen sie sich nach Belieben zurecht und regelmäßig wird gegen sie verstoßen. Belarus scheint ein typisches Beispiel: 1996 vollzog Aljaksandr Lukaschenka eine Machtergreifung, die viele als Staatsstreich ansehen, 2004 ließ er die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten abschaffen. Laut dem momentan selbst inhaftierten Anatol Ljabedska, Swjatlana Zichanouskajas Beauftragtem für die Reform der Verfassung, ruhen derzeit 40 Prozent der Verfassungsartikel entweder oder sind durch restriktivere Dekrete des Präsidenten oder Verwaltungsvorschriften ausgehebelt. Das aktuelle Patt im Streit um die Verfassungsreform macht allerdings deutlich, dass Verfassungen für die Bewältigung von Regimewechseln und Konflikten dennoch von zentraler Bedeutung sind. Sie erleichtern die Koordinierung der Elite und senden Signale an Bevölkerung und internationale Gemeinschaft, selbst wenn der Autokrat uneingeschränkt regiert.
Der langjährige Machthaber von Belarus Aljaksandr Lukaschenka und die Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja (sowie mit ihr der Koordinierungsrat) verfolgen unvereinbare Ziele. Lukaschenka versucht, die Aufmerksamkeit von den massiven Fälschungen bei den jüngst abgehaltenen Wahlen abzulenken und die Opposition in einem lang andauernden Prozess zur Änderung der Verfassung zu zermürben und zu spalten. Einziges Ziel dabei: sein Machterhalt. Die Opposition strebt dagegen freie und faire Neuwahlen an, um danach eine offene Debatte über die Verfassung zu führen.
In offiziellen Statements erklären die EU wie auch Russland, die Belarusen sollten den Konflikt selbst lösen. Die EU unterstützt dabei jedoch Zichanouskajas Forderung nach Neuwahlen und erkennt Lukaschenka nicht als legitimen Präsidenten an, während Russland Lukaschenkas Verfassungsreform als Mittel zur Bewältigung der Krise gebilligt hat. Was ursprünglich eine rein interne Pattsituation bezüglich gefälschter Wahlen und staatlicher Repression war, hat sich mittlerweile de facto zu einem geopolitischen Konflikt entwickelt.
Lukaschenkas Ansatz: Verfassungsänderungen als Ablenkungsmanöver
Lukaschenkas Ziel ist eindeutig: Die Verfassung soll geändert werden, um grundlegenden Wandel zu verhindern. Bereits 2012 erklärte Lukaschenka, es sei notwendig, »das politische System von Belarus zu reformieren«. Seither baut er Erwartungen auf Veränderungen auf, ohne jemals verbindliche Aussagen über das Wie und Wann solcher Änderungen der institutionellen Rahmenbedingungen des politischen Systems getroffen zu haben. 2014 sagte Lukaschenka dann, Belarus habe sich als souveräner Staat etabliert, der postkommunistische »Transit« sei »vorbei«. Früher oder später müsse eine neue Verfassung verabschiedet werden.
2016 stellte Lukaschenka eine Gruppe »weiser Männer und Verfassungsrechtler« zusammen, die das Grundgesetz analysieren sollten. Außerdem beobachtete der belarusische Herrscher Strategien im postsowjetischen Raum wie in Aserbaidschan und Kasachstan genau, wie die Nachfolgerfrage dort auf undemokratischem Wege gelöst wurde. Als es Sersch Sargsjan im Zuge der Samtrevolution in Armenien nicht gelang, seine Macht zu behaupten, nachdem er vom Amt des Präsidenten in das des Premierministers gewechselt war, verlor Lukaschenka plötzlich die Lust auf eine Änderung der Verfassung. Im Frühjahr 2019 erklärte er allerdings, das Verfassungsgericht mit der Erarbeitung von Reformvorschlägen beauftragt zu haben, die zu einem nicht genau benannten Zeitpunkt nach der Präsidentschaftswahl 2020 umgesetzt würden. Bei Treffen zwischen der Öffentlichen Verfassungskommission der Opposition und dem Verfassungsgerichtspräsidenten Pjotr Miklaschewitsch in den Jahren 2019 and 2020 weigerte Miklaschewitsch sich, über Details der Reformen zu sprechen. Dies, sagte er, habe ihm Wolha Tschuprys, die Leiterin der Präsidialverwaltung, die den Prozess beaufsichtige, verboten.
Bei einem Sondertreffen des Ständigen Rats der OSZE in Wien stellte Belarus am 28. August seinen Plan zur Überwindung der Krise durch eine Verfassungsreform vor. Er ist vor dem Hintergrund von Lukaschenkas bisherigem Vorgehen zu sehen: Lukaschenka agierte stets geheimniskrämerisch und intransparent – seine geheime »Amtseinführung« am 23. September ist das beste Beispiel dafür –, der gesamte Prozess ist exklusiv und wird von der Präsidialadministration streng kontrolliert: Selbst Insider und dem Regime loyal gesinnte Personen sind an ihm nicht aktiv beteiligt und wissen wenig darüber. Laut Lukaschenka wird derzeit an der dritten Version des Reformpakets gearbeitet, wobei nichts über den Inhalt der ersten beiden Versionen bekannt ist. Als wichtigste Reformpunkte werden in der Öffentlichkeit meist die Umverteilung von Präsidentenbefugnissen an Regierung und Parlament sowie eine aktivere Rolle der politischen Parteien genannt – dazu könnte auch die Aufnahme eines Proporz-Elements ins Wahlgesetz gehören. Lukaschenkas Kurs sieht folgende Schritte vor: Die Parlamentsabgeordneten sind aufgerufen, bis 25. Oktober Vorschläge der Bürger einzuholen; nach einer Landesweiten Diskussion über mögliche Verfassungsänderungen findet eine Allbelarusische Volksversammlung statt; Neuwahlen sollen dann schließlich nach einem Referendum über Verfassungsänderungen stattfinden, vielleicht im Jahr 2022 oder noch später.
Lukaschenkas Glaubwürdigkeit in Bezug auf den Inhalt der Reform (Einschränkung der Macht des Präsidenten, Rücktritt nach Ende der jetzigen »Amtszeit«) wie auch auf ihren Prozess (inklusivere Gestaltung) tendiert gegen Null. Sein Besuch bei politischen Gefangenen im Untersuchungsgefängnis des KGB sollte zu keinem Zeitpunkt der Beginn eines Dialogs sein. Vielmehr sollte er dazu dienen, Wiktar Babaryka und seine Vertreter/innen im Koordinierungsrat für sich einzunehmen und die Opposition damit gemäß dem Motto »Teile und herrsche« zu spalten. Seit 20. August läuft ein Strafverfahren gegen den Koordinierungsrat wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit (nach Art. 361 des Strafrechts); am 16. Oktober bestätigten die belarusischen Behörden, dass ein internationaler Haftbefehl gegen Swjatlana Zichanouskaja erlassen wurde. Offiziell aufgrund eines gemeinsamen Abkommens der GUS-Staaten stellte auch Russland einen Haftbefehl gegen die belarusische Oppositionsführerin aus.
Russland sieht Lukaschenkas Verfassungsreform als Maßnahme zur Stabilisierung der Lage
Bei verschiedenen Anlässen unterstützten der russische Präsident Wladimir Putin und der russische Außenminister Sergej Lawrow Lukaschenkas Streben nach einer Verfassungsreform. So sagte etwa Lawrow am 2. September: »In dieser Hinsicht bewerten wir […] das Vorhaben von Präsident A. G. Lukaschenka, eine Verfassungsreform durchzuführen, als sehr vielversprechend. Wir glauben, […] dass ein solcher politischer Prozess eine sinnvolle Plattform für einen nationalen Dialog werden, zur Überwindung der aktuellen Situation beitragen und eine Normalisierung der Lage, eine Stabilisierung der Gesellschaft garantieren könnte.« Als Putin am 14. September seinen belarusischen Kollegen in Sotschi empfing, nannte er dessen Reformvorschlag »folgerichtig, zur richtigen Zeit kommend und angemessen«. Schließlich begrüßte mit Dmitrij Peskow noch Putins Pressesprecher den Besuch in der KGB-Haftanstalt als »inklusiven Dialog«.
Diese Rhetorik scheint nahezulegen, dass Russland Lukaschenkas Pläne voll und ganz unterstützt. Tatsächlich ist die russische Haltung zu Belarus jedoch komplizierter, denn der Kreml steht vor einem Dilemma. Wegen Lukaschenkas jahrzehntelanger fast uneingeschränkter Macht konnte Russland ausschließlich mit ihm über die bilateralen Beziehungen der Länder verhandeln – sämtliche möglichen alternativen Kommunikationskanäle erstickte Lukaschenka im Keim. Die kurze Amtszeit des Hardliners Michail Babitsch als russischer Botschafter in Minsk von August 2018 bis April 2019 zeigt, wie sehr Lukaschenka sein Machtmonopol verteidigte. Dabei macht sich in Moskau durchaus eine »Lukaschenka-Müdigkeit« breit: Man versteht dort nur zu gut, dass Lukaschenka ein geopolitischer Abenteurer ist, dessen Eigeninteresse nicht immer mit den russischen Interessen zusammenfällt, und dass seine Stellung im eigenen Land stärker ins Wanken geraten ist als je zuvor.
Ein sich über Monate oder gar Jahre hinziehender langwieriger Prozess zur Reform der Verfassung käme einem schleppenden »Bürgerkrieg der Zermürbung« gleich, der für Lukaschenka wie auch für die Opposition mit hohen Kosten verbunden wäre. Moskau wird wohl genauso viel tun, wie nötig ist, damit Lukaschenka die Oberhand in diesem Prozess behält. Darüber hinaus wird Russland versuchen, den eigenen Einsatz so gering wie möglich zu halten und bei künftigen Verhandlungen über die 31 bilateralen Road Maps, die auch die Schaffung von supranationalen Organen des Unionsstaates vorsehen, Lukaschenkas Schwäche auszunutzen, um die belarusische Souveränität zu untergraben. Bis dahin kann Moskau in einem schleppenden Reformprozess Kontakt zu möglichen Alternativen zu Lukaschenka aufzunehmen, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn eines Tages die Zeit dafür reif ist. Eine Umverteilung der Macht des Präsidenten an Regierung, Parlament und politische Parteien würde alternative Machtzentren – und damit weitere Gesprächspartner/innen – zutage befördern. Moskau hat allerdings eine Vorliebe für eine starke Präsidentschaft und möchte mit nur einem einzigen verlässlichen Gegenüber verhandeln. Im Fall eines über Verhandlungen herbeigeführten Machtwechsels würden seine Interessen daher auch mit denen der Opposition nicht übereinstimmen, denn ein solcher Machtwechsel würde aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der Elite unter Ausschluss der neuen Oppositionsstrukturen ausgehandelt werden.
Die belarusische Opposition steht vereint: Vor einer Verfassungsreform müssen freie und faire Wahlen stattfinden
Vorschläge zur Reform der Verfassung sind in Belarus traditionell Bestandteil von Oppositionspolitik – ein Beispiel ist die Kampagne Volksreferendum von 2013 bis 2015. Die Wahlkampfteams von Babaryka, Zichanouski und Zepkala und später der gemeinsamen Oppositionskandidatin Zichanouskaja können zwar als »neue« Opposition bezeichnet werden. Es gibt allerdings große Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und den »alten« oppositionellen Parteien und Bewegungen.
Zum einen lehnen beide die Verfassung von 1996 ab und fordern einen Reformprozess auf Grundlage der Verfassung von 1994, dessen Kernpunkte die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten und eine substanzielle Gewaltenteilung sein sollen. Einen Tag nach Wiktar Babarykas Verhaftung im Juni schlugen er und sein Anwalt Maksim Snak etwa ein Verfassungsreferendum vor. Neben inhaltlichen gibt es auch personelle Kontinuitäten zwischen »alter« und »neuer« Opposition. Zichanouskajas Beauftragte für die Verfassungsreform sind Anatol Ljabedska, langjähriger ehemaliger Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei, und Metschislau Hryb, der von 1994 bis 1996 Vorsitzender des Obersten Sowjets von Belarus war und mit der Belarusischen Sozialdemokratischen Partei (Volksversammlung) verbunden ist. Gemeinsam mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Michail Pastuchou waren beide seit 2019 in der Öffentlichen Verfassungskommission tätig. Ein Projekt des Koordinierungsrats und der Wahlbeobachtungsplattform Golos ist es, für die Strategie »Freie und faire Wahlen zuerst, Verfassungsreform später« verifizierte elektronisch abgegebene Stimmen zu sammeln. Die Kampagne Swjeschy Wezer, die mit Andrej Jahorau ein zentrales Mitglied des Koordinierungsrats unterstützt, hat eine Petition gestartet, die zum Boykott jeglicher Verfassungsänderungen aufruft, mit der Begründung, diese stellten eine Gefahr für die belarusische Souveränität dar. Russlands Interesse, so heißt es in der Petition, könne durchaus nicht nur sein, Lukaschenka an der Macht zu halten oder über den Machttransfer mitzuverhandeln, sondern auch, die belarusische Souveränität grundsätzlich zu unterminieren – indem es eine Regelung in die Verfassung hineinschummelt, die den Unionsstaat über die belarusische Verfassung stellt. Tatsächlich müssen im Fall einer tiefergehenden Integration laut Art. 61 des Vertrags über den Unionsstaat die Grundgesetze beider Staaten überarbeitet und verändert werden.
Die »neue« Opposition unterscheidet von der »alten«, dass es ihr trotz einer beispiellosen Repressionswelle durch die Behörden gelungen ist, weiterhin erstaunlich vereint dazustehen. Wegen der ideellen wie personellen Kontinuitäten in der »neuen« Opposition und wegen ihrer vereinten Nichtanerkennung sowohl der Präsidentschaftswahlen vom August wie auch der Verfassungsreformpläne von Lukaschenka hat der belarusische Machthaber die Präsidiumsmitglieder des Koordinationsrats zur Ausreise gezwungen oder inhaftiert. Aus den gleichen Gründen hat das Volksultimatum der Opposition für den Fall, dass dessen Forderungen bis zum 25. Oktober nicht erfüllt sind und Lukaschenka nicht zurücktritt, zum landesweiten Streik aufgerufen. Den 25. Oktober hat Lukaschenka den Bürgern auch als Frist für die Vorschläge zu seinen Verfassungsreformplänen gesetzt.
Es steht viel auf dem Spiel und die EU und Russland setzen auf unterschiedliche Wege aus der Krise, weil die von ihnen unterstützten Akteure verschiedene Strategien verfolgen. An die OSZE gerichtete Forderungen, als neutraler Vermittler im Konflikt zwischen Lukaschenka und der Opposition aufzutreten, sind im besten Fall naiv. 1996 vermittelte Russland bereits einmal in einer Verfassungskrise (in Person des Premierministers Wiktor Tschernomyrdin). Das Ergebnis war, dass nur Russland das Verfassungsreferendum von 1996 anerkannte, während die EU und die USA es als Staatsstreich ansahen. Der Effekt, den die Beratungs- und Beobachtungsgruppe der OSZE (Advisory and Monitoring Group, AMG) von 1998 bis 2002 auf Lukaschenka und die weitere Entwicklung des Regimes hatte, ist bis heute sichtbar. Ob sich die Geschichte diesmal wiederholt, wird zu weiten Teilen von den mutigen Menschen in Belarus selbst abhängen.
Übersetzung aus dem Englischen: Sophie Hellgardt