Belarus-Analysen

Ausgabe 42 (29.03.2019) — DOI: 10.31205/BA.042.01, S. 2–7

Verfassungspolitik und nationale Souveränität in Belarus

Von Fabian Burkhardt (Nationale Forschungsuniversität »Higher School of Economics«, Moskau), Maryia Rohava (Universität Oslo)

Zusammenfassung
Im Laufe der vergangenen Jahre hat der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka in der Öffentlichkeit Erwartungen genährt, dass eine Änderung der Verfassung unumgänglich sei. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Verfassung ist seit 2004 nicht angetastet worden. Im Inneren kann der belarussische Präsident zur Gestaltung der Politik und zur Änderung oder Ausweitung seiner Macht Dekrete einsetzen. Die Verfassungspolitik in anderen postsowjetischen Staaten wie auch die Spannungen innerhalb des Unionsstaates von Belarus und Russland zeigen, dass Eingriffe in die Verfassung mehr Risiken als Nutzen mit sich bringen. Die diskursiven Verweise auf die Verfassung sollten allerdings nicht als bedeutungslos abgetan werden; sie signalisieren, dass die Verfassung Lukaschenkas politische Vision verkörpert: uneingeschränkte Vormachtstellung des Präsidenten, staatliche Souveränität, Neutralität in den Außenbeziehungen und sozialstaatlichen Paternalismus.

In der alljährlichen Rede zur Lage der Nation an das belarussische Volk und die Nationalversammlung verwarf Aljaksandr Lukaschenka am 24. April 2018 entschieden die Vorstellung, dass ein Referendum zur Änderung der Verfassung von 1994 bevorstehe. Der langjährige Machthaber beschuldigte die angeblich vom Ausland finanzierte Presse, mit dem Thema Verfassungsänderungen hausieren zu gehen. »Morgen« ein Referendum abzuhalten und dadurch »gegen das Volk« zu handeln, könne zu einem Worst case-Szenario führen, »ganz wie in Armenien«, meinte Lukaschenka. Noch am Vortag war der armenische Ministerpräsident Sersch Sargsjan in Folge der dortigen Samtenen Revolution zum Rücktritt gezwungen worden.1

Der ausschweifende Exkurs in die Feinheiten der sonst eher trockenen Verfassungspolitik, den Lukaschenka in seiner präsidialen Ansprache unternahm, ist bemerkenswert. Und zwar deshalb, weil es gerade Lukaschenka gewesen war, der von einer notwendigen Änderung der derzeitigen Verfassung gesprochen hatte. Wie ist es zu erklären, dass Lukaschenka diskursiv jahrelang mit potentiellen Verfassungsänderungen liebäugelte, am 24. April 2018 dann aber eine Kehrtwende vornahm?

Schließlich sind die präsidialen Vollmachten nahezu uneingeschränkt. Nach dem Verfassungsreferendum von 2004 war die Begrenzung der Zahl der Amtszeiten aufgehoben und somit die letzte institutionelle Schranke für eine lebenslange Präsidentschaft Lukaschenkas beseitigt worden. Im Alter von 63 Jahren ist Lukaschenka im Vergleich zu anderen postsowjetischen Herrschern auf Lebenszeit noch relativ jung. Nursultan Nasarbajew in Kasachstan zum Beispiel ist – ganz wie Islam Karimow zum Zeitpunkt seines Todes 2016 – 78 und somit 15 Jahre älter als der Machthaber in Belarus. Die Nachfolgerfrage scheint also nicht der Grund dafür zu sein, warum Lukaschenka in seinen Reden so häufig auf die Verfassung verweist.

Obwohl sie die Exekutive formal nicht einschränkt, ist die Verfassung bereits mehrfach verletzt worden; dennoch kommt ihr Bedeutung zu. Wie in vergleichbaren autoritären Regimen hat die belarussische Verfassung eine wichtige Signal- und Informationsfunktion. Die Verfassung enthält eine politische Vision und definiert die Natur des politischen Gemeinwesens, wobei der Auslegung durch den personalistischen Herrscher eine zentrale Rolle zukommt. Durch die Belohnung oder Bestrafung von Verbündeten und Gegnern wird öffentlich signalisiert, wer mit dieser – jeweils den Umständen entsprechend angepassten – Interpretation der politischen Ordnung konform geht.

Den Verweisen nach zu urteilen, die der amtierende belarussische Präsident in den vergangenen vier Jahren in Bezug auf die Verfassung gemacht hat, formen eine Reihe von Grundsätzen den Kern seiner politischen Vision: die Vormachtstellung des Präsidenten in allen Bereichen, die von der Verfassung erfasst werden; staatliche Souveränität und Neutralität in der Außenpolitik unter Gewährleistung der verfassungsmäßigen Ordnung und innenpolitischen Stabilität; Belarus als Sozialstaat, der soziale Rechte auf paternalistische Weise durchsetzt, gleichzeitig aber die Bedürfnisse des Staates und des politischen Gemeinwesens über jene des Individuums stellt; die Souveränität des Volkes, das (zumindest formal) über Referenden zu substantiellen Verfassungsänderungen befragt werden muss. Das volatile und schnelllebige geopolitische Umfeld und das drohende Ende des belarussischen Wirtschaftsmodells erzeugen allem Anschein nach einen gewissen Druck, und es scheint sich in der belarussischen Staatsführung zunehmend die Überzeugung durchzusetzen, dass der rechtliche und institutionelle Rahmen einer gewissen Anpassung bedarf.

Verfassungsänderungen: ein Problem ohne Lösung für das Regime

Lukaschenka hat aktiv Erwartungen gespeist, dass Änderungen an der Verfassung früher oder später unumgänglich sein würden. Am 15. März 2014, dem Tag der Verfassung, erklärte er beispielsweise, dass Belarus sich vollständig »als souveräner Staat etabliert« habe, indem es »die Sehnsüchte des belarussischen Volkes umgesetzt hat, die rechtmäßigen Herren in ihrem Heimatland zu werden«. Gleichzeitig erklärte er, dass »früher oder später eine neue Verfassung verabschiedet werden« müsse und suggerierte damit, dass die derzeitige Verfassung von Belarus ein Dokument für die postsozialistische »Transformationsperiode« des Landes sei. In seiner Rede vom 7. Oktober 2016 vor den Abgeordneten des Parlaments forderte er, dass ein »Ältestenrat von Weisen und Juristen zur Analyse des Grundgesetzes« eingerichtet werden müsse. Lukaschenka erwähnte zwar 2017 und Anfang 2018 oft, dass die Zeit nach Anpassungen und »etwas Neuem« verlange, doch ließ er sich nie weiter darüber aus, welche Art Änderungen angebracht wären.

Lukaschenka zeigte sich bemüht, bei der Bezeichnung ein und desselben rechtlichen Dokuments diskursiv zwischen »Verfassung« und »Grundgesetz« zu unterscheiden. Während die Verfassung die Stütze für Stabilität und Souveränität darstelle, so unterschied sich das Grundgesetz rhetorisch nicht sonderlich von gewöhnlichen Gesetzen: »Die Gesetzgebung ist ein unablässiger und lebendiger Prozess. Wie alle Gesetze und anderen Vorschriften ist es [das Grundgesetz] ein lebendiger Organismus, der sich entwickeln muss und dem pulsierenden Leben draußen in der Welt in nichts nachstehen sollte«, bemerkte Lukaschenka am 15. März 2018 bei einem der jährlichen Treffen mit den Verfassungsrichtern.

Der offizielle Diskurs erwies sich als äußerst flexibel. Dies wurde an Äußerungen von Lidsija Jarmoschyna, der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, besonders deutlich. Im Januar 2018 hatte sie noch eingeräumt, dass die Verfassung »modernisiert« werden müsse. Am 28. April 2018 jedoch, unmittelbar, nachdem Lukaschenka eine baldige Verfassungsänderung ausgeschlossen hatte, meinte Jarmoschyna, dass Stabilität wichtiger sei als eine Modernisierung »obsoleter Bestimmungen« in der Verfassung, da diese die belarussische Gesellschaft in keinster Weise einschränkten oder ihr schadeten. Im Oktober 2018 kam Jarmoschyna sogar zu dem Schluss, dass die belarussische Verfassung »recht modern« und Verfassungsänderungen eindeutig kein Allheilmittel seien.

Zudem wurde keine parlamentarische Arbeitsgruppe oder wenigstens eine Verfassungskommission einberufen, die auf systematische Art und Weise Verfassungsänderungen hätte erörtern können. Lukaschenka sprach die Verfassung an, als er jeweils vor dem Parlament, dem Verfassungsgericht und der Zentralen Wahlkommission auftrat. Indem er sich separat an die jeweiligen Staatsorgane wandte bewahrte sich der Präsidenten naturgemäß die volle organisatorische und informationelle Kontrolle über das Geschehen. Er unterband dadurch ein potentielles gemeinsames oder koordiniertes Vorgehen anderer staatlicher Stellen. Die Verfassung diente somit als ideales Thema, um die Bereitschaft zu politischem Wandel von oben zu signalisieren. Gleichzeitig konnte damit jeder Versuch revolutionärer Veränderung diskursiv verworfen und die Schuld hierfür der Opposition oder feindlichen ausländischen Kräften zugeschrieben werden.

Zementierte Vormachtstellung des Präsidenten

Nach dem Verfassungsstreich von 1996 und der Aufhebung der Beschränkung der Anzahl der Amtszeiten des Präsidenten im Jahr 2004 sind die präsidialen Machtbefugnisse de jure und de facto uneingeschränkt. Die Stellung des Präsidenten über allen anderen Staatsorganen wird von einer »Theorie rechtmäßiger Gesetze« gestützt, die von der Präsidialverwaltung propagiert wird und von den loyalen Juristen des Landes anerkannt wird. Gesetze sind demnach verfassungskonform, wenn sie sowohl dem Willen des Präsidenten als auch dem der Bevölkerung genügen.

Als Präsident Lukaschenka am 2. Februar 2017 Viktar Rabzau als neuen Verfassungsrichter vereidigte, äußerte er sich auch zu der Frage, ob in Belarus das Amt eines Menschenrechtsbeauftragter eingerichtet werden müsse. Seiner Ansicht nach wäre ein solches Amt vollkommen überflüssig, da der Präsident der »oberste Wächter« über die Einhaltung der Menschenrechte im Lande sei. Das Verfassungsgericht ist somit dazu berufen, den Präsidenten zu unterstützen, nicht aber, ihn in seinem Amt zu kontrollieren und ihm Grenzen aufzuzeigen.

Der Gesetzgebungsprozess wird von der Präsidialverwaltung kontrolliert, die Exekutive initiiert praktisch alle Gesetze. Dekrete des Präsidenten – »dekrety« im Unterschied zu den alltäglicheren Erlassen, »ukasy« – werden dafür genutzt, um Politikinitiativen zu lancieren. Diese Praxis ist unter anderem im letzten Bericht des Sonderberichterstatters für die Lage der Menschenrechte in Belarus des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte kritisiert worden: »Die gesetzlichen Rahmenbedingungen werden weiterhin durch Präsidialdekrete geändert und gesteuert, ihnen wird Vorrang vor dem Verfassungsrecht beigemessen«. Zwei aktuelle Beispiele unterstreichen diese Beobachtung des Sonderberichterstatters und sollen im Folgenden näher erläutert werden.

Erstens setzte Lukaschenka in einem Versuch, die eurasische Integration voranzutreiben, seine Vollmachten als Präsident ein, um die Justizreform von 2013/14 per Dekret und unter Umgehung der Legislative und einer öffentlichen Debatte einzuleiten (Dekret Nr. 6 in Verbindungen mit den Erlassen (ukasy) Nr. 529 und 530). Das Dekret des Präsidenten Nr. 6 vom 29. November 2013 stützte sich auf Artikel 101 der Verfassung. Dieser besagt, dass der Präsident zeitlich begrenzte Dekrete erlassen kann, die Gesetzen gleichgestellt sind, allerdings der Bestätigung durch das Repräsentantenhaus und den Rat der Republik (den beiden Kammern des Parlaments) bedürfen. Provisorische Präsidialdekrete dürfen keine Änderungen, Ergänzungen oder Interpretationen der Verfassung oder Änderungen und Ergänzungen geltender Gesetzgebung beinhalten.

Ergebnis der Justizreform war, dass das Oberste Wirtschaftsgericht in den Obersten Gerichtshof integriert wurde, obwohl Artikel 34 der Verfassung die Unabhängigkeit des Obersten Wirtschaftsgerichts garantiert und die Verfassung weiterhin auf das Oberste Wirtschaftsgericht verweist. In einer Entscheidung über die Justizreform bestätigte das Verfassungsgericht die Gültigkeit dieser Rechtsakte mit Verweis auf Artikel 109 Abs. 3 der Verfassung: »Das Gerichtssystem der Republik Belarus wird durch Gesetze geregelt«. Dadurch wurde die Interpretation, was als Gesetze und Gesetzesakte gilt, de facto auf provisorische Präsidialdekrete ausgeweitet. Nichtsdestotrotz wies das Verfassungsgericht darauf hin, dass die Justizreform Verfassungsänderungen bedürfe. So führte die überhastete Justizreform der Jahre 2013 und 2014 auch dazu, dass die belarussische Führung sich seit geraumer Zeit wieder auf eine öffentliche Debatte über die Verfassung einließ.

Das zweite Beispiel ist das Dekret Nr. 3 »Über die Bekämpfung von Sozialschmarotzertum« vom 2. April 2015, das nach öffentlichen Protesten und Beschwerden der Bürger durch das Dekret Nr. 1 vom 25. Januar 2018 abgeändert wurde. Das Dekret Nr. 3 hatte eine Steuer für jene Bürger eingeführt, die nicht oder weniger als 183 Tage pro Jahr zur Finanzierung der Staatsausgaben beitragen. Dabei zielte das Dekret vor allem auf Unbeschäftigte und jene ab, die in der Schattenwirtschaft tätig sind. Öffentlich legitimiert wurde das Dekret mit einer von der Staatsführung aktiv propagierten Vorstellung von Belarus als einem Sozialstaat: Ein finanzieller Beitrag für soziale Dienstleistungen sei deswegen als obligatorisch zu betrachten.

Das »Belarussische Helsinki-Komitee« argumentierte allerdings, dass das Dekret mindestens fünf Artikel der Verfassung verletze und de facto Zwangsarbeit einführe. Die oppositionelle »Belarussische Sozial-Demokratische Partei (Hramada)« legte im Juli 2015 Verfassungsbeschwerde ein, mit der Begründung, dass das Dekret Nr. 3 Artikel 41 der Verfassung sowie das Übereinkommen Nr. 29 (Übereinkommen über Zwangs- oder Pflichtarbeit, 1930) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und das IAO-Übereinkommen Nr. 105 (Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit, 1957) verletze. Das Verfassungsgericht lehnte die Beschwerde jedoch mit der Begründung ab, dass Bürger und juristische Personen formal nicht befugt seien, Beschwerde einzulegen. Nach den Straßenprotesten vom Februar und März 2017 in Minsk und einigen anderen Regionen des Landes reagierte das Verfassungsgericht jedoch auf elektronische Bürgerbeschwerden. Es weigerte sich zwar, auf Grund der Beschwerden ein Prüfverfahren einzuleiten, verwies aber auf geltende Gesetzgebung und frühere Entscheidungen des Gerichts und bestätigte somit indirekt die Rechtmäßigkeit des Dekrets. Das Gericht bezog sich auf Artikel 56 der Verfassung und setzte staatliche Steuern, Abgaben und andere Zahlungen mit einem »vorbehaltlosen Anspruch des Staates« gleich, dem Bürger Folge zu leisten hätten, indem sie ihrer Pflicht nachkommen, »einen Beitrag zur Finanzierung der Staatsausgaben zu leisten«.

Das Dekret Nr. 3 verdeutlichte einmal mehr die Macht des Präsidenten, Grundpfeiler der Verfassung wie etwa den Sozialstaatsbegriff durch gezielte Eingriffe anzupassen, ohne jedoch dabei formal die Verfassung zu ändern.

Die Staatsorgane, welche berechtigt sind vor dem Verfassungsgericht Beschwerde einzulegen, sind dem Präsidenten gegenüber loyal. Bürgern und anderen Rechtssubjekten wie etwa Parteien, stehen keine Mechanismen zur Verfügung, um den Präsidenten rechtlich zu kontrollieren. Als einzige Option bleibt ihnen somit die Straße, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Zwar setzte Lukaschenka das Dekret nicht außer Kraft, doch die Beschwerden und Proteste hatten immerhin einigen Erfolg. Nur knapp über 10 Prozent der 470 000 Bürger, die die Steuer bis Mitte Februar 2017 hätten bezahlen müssen, entrichteten die Zwangsabgabe. Im März 2017 setzte Lukaschenka einige Bestimmungen des Dekrets aus oder revidierte diese. Am 25. Januar 2018 verabschiedete der Präsident das Dekret Nr. 1, das Änderungen am älteren Dekret vornahm. Interessanterweise wurden die Änderungen nicht in einem gesonderten Präsidialdekret vorgelegt, das die umstrittenen Maßnahmen aufgehoben hätte, sondern es wurde hierzu ein Änderungserlass verabschiedet. Das Dekret Nr. 1 stützt sich ebenfalls auf Artikel 101 der Verfassung. Die veränderten Maßnahmen sind am 1. Januar 2019 in Kraft getreten, obwohl die Online-Datenbank von Personen, die als arbeitslos registriert waren und in keine andere, eine Ausnahme begründende Kategorie fielen, erst am 1. Dezember 2018 freigeschaltet wurde. Bürger, deren Namen in der Datenbank geführt werden, werden die Kosten für geförderten Wohnraum und Kommunalleistungen wie z. B. Warmwasser erstatten müssen. Ab Oktober 2019 werden die Zahlungen auch Heizungs- und Gasrechnungen umfassen. Die Arbeitslosensteuer verstößt trotz der Änderungen immer noch gegen internationale und nationale Normen in Bezug auf Zwangs- und Pflichtarbeit; das besagt eine Untersuchung des »Belarussischen Kongresses demokratischer Gewerkschaften«.

Dekrete werden auch in Zukunft eines der wirksamsten Instrumente bleiben, mit denen der Präsident Politik gestaltet. Diese hierarchische Steuerung von oben ist allerdings kostspielig und mitunter riskant, insbesondere, da durch die eingeschränkte Medienfreiheit und unzuverlässige Meinungsumfragen Kanäle für Feedback der Bevölkerung fehlen sind und sich Unzufriedenheit deswegen oft abrupt und bisweilen heftig entlädt.

Äußerer Druck in Richtung Verfassungsänderung

Lukaschanka und seine Berater beobachten zudem aufmerksam jene Verfassungsänderungen im postsowjetischen Raum, die Regime der jeweiligen Amtsinhaber stützen sollen. Verweise auf die Verfassungspolitik in Aserbaidschan und Kasachstan in Lukaschenkas Reden legen nahe, dass das Regime durchaus Überlegungen anstellt, wie diese Strategien auf den belarussischen institutionellen Kontext übertragen werden könnten.

In Aserbaidschan wurde eine Verfassungsänderung im Jahr 2016 durchgepeitscht: von der Ankündigung der Initiative bis zum landesweiten Referendum vergingen nicht einmal drei Monate. Die später vom Verfassungsgericht für rechtmäßig befundenen Änderungen verlängerten die Amtszeit des Präsidenten von fünf auf sieben Jahre, führten die Posten eines Ersten Vize- und eines Vizepräsidenten ein und räumten dem Präsidenten das Recht ein, unter bestimmten Voraussetzungen das Parlament aufzulösen.

In Belarus wurde ebenfalls eine Änderung der Amtszeit des Präsidenten diskutiert. Das geschah mit Blick auf 2020, in dem wahrscheinlich die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zusammenfallen werden. Allerdings ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Präsidentschaftswahl auf Ende 2019 vorgezogen werden. Im August 2018 hat Lukaschenka die belarussische Regierung umgebildet. Unter anderem wurde Ministerpräsident Andrej Kabjakau durch den relativ jungen Technokraten Sjarhej Rumas ersetzt.

Die Verfassungsreform in Kasachstan im Jahr 2017 stieß bei Lukaschenka auf besonderes Interesse. Im März 2017, eine Woche nachdem die Verfassungsänderungen in Kraft getreten waren, äußerte sich Lukaschenka bei einem offiziellen Treffen mit Nasarbajew folgendermaßen: »Ich bin der Ansicht, dass Sie einen wichtigen Schritt für Kasachstan unternommen haben, um die Stabilität und die Unabhängigkeit Ihres Landes zu gewährleisten. Sie treiben Ihre Reformen, vor allem jene in den Bereichen Regierungsführung und Verfassungspolitik, weiter voran und setzen gleichzeitig konkrete wirtschaftliche Maßnahmen um. Das ist ein vorbildliches Beispiel für andere.«

Aus belarussischer Sicht könnten die Verfassungsänderungen in Kasachstan tatsächlich als brauchbare Strategie für eine »Operation Nachfolger« taugen. Ein »nachhaltiges Modell« für Kasachstan sieht möglicherweise folgendermaßen aus: Nasarbajew könnte zu einem bestimmten Zeitpunkt einen anderen Posten übernehmen – etwa den des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates – während ein bereits designierter Nachfolger bis zur endgültigen Machtübergabe seine Sicherheit garantiert. Lukaschenka deutete vielfach an, dass die Macht des Präsidenten auf andere Staatsorgane verteilt werden sollte, vor allem zugunsten der Regierung. Im Hinblick auf jene Zeit, »zu der es Lukaschenka nicht mehr geben wird«, müsse die »Vertikale der Macht« gestärkt werden. Er betonte dabei allerdings, dass diese Umverteilung der Kompetenzen keinesfalls unmittelbar bevorstehe.

Die Samtene Revolution im April 2018 in Armenien veränderte allerdings erneut die Risikokalkulation Lukaschenkas: zwar kann es durchaus langfristig Vorteile bringen, an der Verfassungsordnung herumzubasteln, die unmittelbaren Gefahren dabei sind allerdings beachtlich. Für Lukaschenka bestand die armenische Lektion darin, dass ein vermeintlich beliebter Präsident ziemlich schnell und unerwartet durch Straßenproteste gestürzt werden kann, besonders wenn Verfassungsänderungen als offene Manipulationen wahrgenommen werden und Medien und Meinungsumfragen als Rückkoppelungsmechanismus mit der Bevölkerung nicht verlässlich sind. Armenien könnte somit ein Grund gewesen sein, warum die Reform des Wahlgesetzbuches und des Parteiensystems ein weiteres Mal ad acta gelegt wurden.

Verfassungspolitik und die Beziehungen zwischen Belarus und Russland

Gemäß dem »Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaates«, unterzeichnet am 8. Dezember 1999, hat Belarus zumindest Teile seiner Souveränität an den Unionsstaat von Belarus und Russland abgetreten. Unter den vier supranationalen Organen ist nur der Ständige Ausschuss mit Staatssekretär Grigorij Rapota permanent tätig. Der Oberste Staatsrat, die Parlamentarische Versammlung, wie auch der Ministerrat, bestehen aus offiziellen Vertretern der beiden Mitgliedsstaaten. Die bilaterale Integration ist am stärksten in den Bereichen Migration und Arbeit vorangeschritten. In der Wirtschaftspolitik ist seit 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion das wichtigste Instrument, mit dem Russland die Integration vorantreibt.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres jedoch gab es eine erneute wirtschaftspolitische Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern. Letztendlich konnten alle Fragen auf der Ministerialverwaltungsebene geregelt werden, mit Ausnahme der neuen Bestimmungen im Rohöhlsektor. Nach dem russischen »Steuern- und Abgabenmanöver«, das am 1. Januar 2019 in Kraft trat, wird geschätzt, dass Belarus bis 2024 zwischen 8 und 12 Milliarden US-Dollar verlieren wird. Die russische Seite, vertreten durch Ministerpräsident Dmitrij Medwedew und Botschafter Michail Babitsch, blieb unnachgiebig. Weitere Subventionen für den Energiesektor, die letztendlich dem belarussischen Haushalt zugutekommen würden, seien nur dann möglich, wenn die bilaterale Integration im Rahmen des Unionsstaates deutlich vertieft werden würde. Obwohl die russische Seite nicht weiter ins Detail ging, wurde diese Aussage in Belarus dahingehend interpretiert, dass sie sich auf Bestimmungen im Unionsvertrag bezog, die bisher noch nicht umgesetzt worden sind. Hierzu gehören eine gemeinsame Währung, eine Zollbehörde, ein Gericht und einen Rechnungshof. Diese unzweideutige Verknüpfung von wirtschaftlichen Vergünstigungen und vertiefter Integration wurde von der belarussischen Führung als Versuch wahrgenommen, die Unabhängigkeit des Landes zu verletzen. Das Wortgefecht kulminierte in einer Erklärung von Lukaschenka im Dezember 2018, in der er die Souveränität von Belarus als ein »Heiligtum« bezeichnete.

Der Unionsvertrag sieht außerdem eine gemeinsame Verfassung für die beiden Staaten vor, die durch landesweite Volksabstimmungen zu ratifizieren wäre. Im Jahr 2007 standen die beiden Nachbarländer kurz davor, einen aus dem Jahr 2005 stammenden Entwurf eines »Verfassungsakts« für den Unionsstaat ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Bis heute haben die nationalen Verfassungen Vorrang vor dem Unionsvertrag. Falls jedoch in Zukunft eine gemeinsame Verfassung verabschiedet werden sollte, verlangt Artikel 62 des Vertrages, dass in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten Änderungen einzubringen sind. In einem Worst-Case-Szenario für Belarus könnte ein zukünftiger Verfassungsakt das Primat vor der belarussischen Verfassung haben.

Aus belarussischer Sicht ist der jüngste rhetorische Vorstoß Russlands verdächtig. Im Laufe des Jahres 2018 kursierten zudem Gerüchte, dass eine Vereinigung von Russland und Belarus mit Putin als Präsident des neuen Unionsstaates eine Möglichkeit wäre, die von der russischen Verfassung festgeschrieben Beschränkung der Amtszeit zu umgehen und Putins Verbleib an der Macht auch über das Jahr 2024 hinaus zu verlängern. Das würde nicht nur bedeuten, dass Belarus seine Souveränität verliert. Lukashenka und die gesamte belarussische politische und wirtschaftliche Elite würden infolgedessen auch teilweise oder gar vollständig ihre Macht einbüßen. Lukaschenkas Credo, am gegenwärtigen konstitutionellen Status quo innerhalb von Belarus festzuhalten, schließt damit automatisch eine tiefergreifende Integration in den belarussisch-russischen Unionsstaat aus. Letzteres würde eine Erosion der staatlichen Souveränität sowie einen schrittweisen Verlust der nationalen – und persönlichen – Unabhängigkeit bedeuten. Als Preis wird dafür zähneknirschend in Kauf genommen, dass auf bedeutende Finanzspritzen auf Russland verzichtet werden muss.

Schlussfolgerungen

In den vergangenen Jahren weckte Lukaschenka öffentlich Erwartungen, dass eine Änderung der Verfassung unumgänglich sei. Die Wirklichkeit stellt sich anders dar.

Die Verfassung blieb ungeachtet zahlreicher Absichtserklärungen seit 2004 unangetastet. Die Justizreform von 2013–2014 und das Dekret Nr. 3 aus dem Jahr 2015 und das Änderungsdekret Nr. 1 von 2018, die eine Steuer auf Nichtbeschäftigung einführte, sind lediglich die Spitze des Eisberges: Die Schaffung von Recht durch Präsidialdekrete, ohne dabei formal die Verfassung anzutasten, ist in der Regierungspraxis gang und gäbe. Verfassungsänderungen sind nicht notwendig, da sich die Macht des Präsidenten mit geringerem Risiko und »kostengünstiger« per Gesetz oder Dekret ausweiten lässt. Wie allerdings das Beispiel Kasachstan deutlich macht, müsste die Macht des Präsidenten verringert und auf andere Staatsorgane wie die Regierung verteilt werden, um die Nachfolgerfrage zu lösen. Diskursiv assoziiert der Präsident aber die Verfassung mit politischer Stabilität, mit staatlicher Souveränität, mit außerpolitischer Sicherheit und evolutionärer belarussischer Staatsbildung.

In Ermangelung unabhängiger Meinungsumfragen fehlen belastbare Daten, mit denen die tatsächliche Unterstützung für das Regime insgesamt und für konkrete Politiken der Lukaschenka-Administration gemessen werden könnten. Angesichts der Ereignisse in Armenien hat es sich – zumindest aus Sicht des belarussischen Machthabers – als erfolgreiches Rezept erwiesen, den Status quo einzufrieren und die Nachfolgerfrage auf die lange Bank zu schieben, indem rhetorisch auf angeblich bevorstehenden Verfassungsänderungen angespielt wird, ohne diese tatsächlich anzupacken. Ob Lukaschenka also sein Versprechen wahrmacht, in weniger als fünf Jahren nach den Präsidentschaftswahlen eine neue Verfassung zu verabschieden, deren Ausarbeitung er am 1. März 2019 während des »Großen Gesprächs« den Richtern des Verfassungsgerichts aufgetragen hatte, bleibt abzuwarten. Bisher zumindest sind auf viele Worte wenig Taten gefolgt.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder


1 Der Text spiegelt den Stand vom 8. März 2019 wider.

Lesetipps / Bibliographie

  • Burkhardt, Fabian: Belarus. In: A. Fruhstorfer, M. Hein (Hg.): Constitutional Politics in Central and Eastern Europe: From Post-Socialist Transition to the Reform of Political Systems, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, S. 463–493.
  • Frear, Matthew: Belarus under Lukashenka: Adaptive Authoritarianism. Abingdon, Oxon: Routledge 2019.
  • Rohava, Maryia: Revisiting Electoral Tactics in Belarus: Local Elections 2018, in: Baltic Worlds, 22. August 2018; http://balticworlds.com/revisiting-electoral-tactics-in-belarus-local-elections-2018/

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