Mit Blick auf ihre Politik gegenüber Belarus wird der Europäischen Union in den letzten Jahren regelmäßig Versagen vorgeworfen und tatsächlich stehen die Beziehungen mit dem Regime seit August 2020 vor einem Scherbenhaufen. Im Angesicht der Massenproteste nach der gefälschten Wahl hatte Aljaksandr Lukaschenka eine rhetorische außenpolitische Rückwärtsrolle vollzogen und die Schuld an den »Unruhen« reflexartig dem Westen zugeschoben. Kritiker sahen sich bestätigt, dass der »Kuschelkurs« im Zuge des mehrjährigen Tauwetters von vornherein falsch und bestenfalls naiv gewesen war. Die EU habe für Geopolitik ihre Werte verraten und konnte Lukaschenka doch nicht zum Besseren verändern. Nun scheitere sie erneut an einer entschlosseneren Reaktion auf die präzedenzlosen Menschenrechtsverletzungen.
Inwiefern ist diese Kritik – im Rückblick und bezogen auf heute – berechtigt? Die Frage nach Erfolg und Misserfolg bemisst sich sowohl an den selbstgesetzten Zielen als auch den tatsächlichen Möglichkeiten. Zwar ist es eine Binsenweisheit, dass Detailwissen über Belarus in Brüssel und vielen EU-Hauptstädten weiterhin ein rares Gut ist. Doch dürfte sich nach den Erfahrungen mit dem Regime kaum jemand der Illusion hingegeben haben, dass Lukaschenka durch Handel und Softpower je zum Demokraten (gemacht) werden könnte. Die letzten entsprechenden Anläufe, etwa durch Deutschland und Polen oder Litauen, waren im Dezember 2010 krachend gescheitert und es wuchs die Erkenntnis, dass ein autoritärer Herrscher nur dann bereit ist, gesellschaftliche Freiräume zuzulassen, wenn er sich fest im Sattel sieht. Im Moment der Bedrohung ordnet er alles andere dem eigenen Machterhalt unter.
Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit dem Regime ab 2015 stand deshalb unter der Überschrift des »critical engagement« und ging zunächst von den dessen faktischer Konsolidierung aus. Im Schatten der Ukrainekrise inszenierte sich Lukaschenka als »Garant von Frieden und Stabilität« in Belarus und der Region und da es angesichts der weitgehenden Ausschaltung des demokratischen Wettbewerbs keine aussichtsreichen Herausforderer gab, teilten viele in Brüssel und Belarus die stille Annahme, dass Lukaschenka trotz Wahlfälschung eine Mehrheit hinter sich hatte. Mit der Öffnungspolitik sollte somit nicht er missioniert, sondern Spielräume zur Zusammenarbeit mit dem Land erschlossen werden, etwa in der Wirtschaft, Zivilgesellschaft oder Expertengemeinschaft. Auch mit dem Regime wurden Themen des »gemeinsamen Interesses« gesucht, wie etwa Umwelt, Verkehr, Außengrenzen und nicht zuletzt regionale Sicherheit. Einen wichtigen Bezugsrahmen dafür bildete die Östliche Partnerschaft. Fragen zu Menschenrechten und Demokratie standen dabei weiterhin auf der Agenda, etwa im EU-Belarus-Menschenrechtsdialog und die Freilassung der politischen Gefangenen 2015 war eine zentrale Vorbedingung für das Tauwetter gewesen. Demokratische Rückschritte wie die Parlamentswahl 2019 wurden klar kritisiert und die letzten Personensanktionen wie auch das Waffenexportverbot nie aufgehoben.
Wenngleich manche Vorhaben, wie der belarusische Bologna-Prozess, kaum über das Papier hinauskamen, wurde in diesen Jahren doch einiges erreicht, wie die Umsetzung größerer EU-Projekte, eine Vielzahl von Austausch- und Begegnungsprogrammen oder bilaterale Formate wie die deutsch-belarusische Historikerkommission und Strategische Beratergruppe Initiiert durch die Außenministerien. Das Image der EU in Belarus verbesserte sich und die Beziehungen zum Westen waren in einer nichtveröffentlichten Umfrage vom Frühjahr 2020 der einzige Bereich mit positiver Dynamik. Auch die Visa-Erleichterung markierte einen Meilenstein. Dass nach der gefälschten Wahl 2020 vor allem Beamte des Außenministeriums den Dienst quittierten, die diese Annäherung über Jahre mitgetragen hatten, spricht Bände.
Auf die neue Eskalation in Belarus reagierte die EU auf rhetorischer und diplomatischer Ebene früh, schnell und scharf. Die Nichtanerkennung der Wiederwahl Lukaschenkas war ein Novum – doch stellte sich die Frage, welche Taten folgen konnten. Die Vielstimmigkeit der EU ist dabei Stärke und Schwäche zugleich. Die Komplexität der Entscheidungsprozesse kostet ohne Frage Geschwindigkeit. Während die Baltischen Staaten noch im August 2020 erste Einreisesperren gegen Personen erließen, die sich nachweislich der Wahlfälschung und Gewalt gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten schuldig gemacht hatten, folgten die EU-Pakete »restriktiver Maßnahmen« erst im Oktober, November und Dezember. Diese umfassen sowohl Einreisesperren gegen 88 Personen inklusive Lukaschenka als auch »Asset Freeze« und ein Finanzierungsverbot, auch gegen sieben Firmen. Sieben weitere europäische Staaten schlossen sich an, inklusive der Schweiz und der Ukraine. Großbritannien und Kanada verhängten ähnliche Maßnahmen.
Den Umfang der Sanktionslisten kritisieren manche Vertreterinnen und Vertreter der belarusischen Demokratiebewegung als geradezu »lächerlich« angesichts konkreter Hinweis auf tausende Mittäter aus Polizei und Justiz sowie Financiers des Regimes. Allerdings waren auch die USA in ihrer Reaktion nicht wesentlich schneller, wenngleich ihre Personenliste inzwischen doppelt so lang ist wie die der EU. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das neue europäische »Magnitsky«-Instrument nicht viel umfangreicher und auch grundsätzlicher eingesetzt werden kann bis hin zu einem bürokratischen Automatismus, der etwa erwiesenen Wahlfälschern grundsätzlich die Einreise verweigert. Ebenso könnten sich weitere Staaten der durch Litauen begonnenen Initiative gezielter internationaler Strafverfolgung anschließen. Doch jenseits der personenbezogenen Maßnahmen kamen Potenzialanalysen zu weiteren restriktiven Schritte zu ernüchternden Ergebnissen. Der Fußabdruck der EU in Belarus war und ist nicht sonderlich groß und die stärksten Hebel liegen in einer Beschränkung von Finanzierungsmechanismen des Regimes durch westliche Banken und internationale Geldgeber.
Was man der EU mit Blick auf die letzten Jahre demnach wohl am ehesten vorwerfen kann, ist, das Engagement und damit ihren Einfluss nicht stärker ausgebaut zu haben. Litauens Blockade der Partnerschaftsprioritäten angesichts des umstrittenen Atomkraftwerk in Astravets verhinderte etwa den Abschluss eines breiteren Rahmenabkommens zwischen Belarus und der EU. Auch im wirtschaftlichen Bereich hatte Minsk höhere Ambitionen formuliert (ein Drittel des Außenhandels mit der EU) als letztlich erreicht wurden.
Doch selbst bei einem größeren Fußabdruck und der Möglichkeit zu harten Wirtschaftssanktionen wäre fraglich, was diese wirklich erreichen könnten. Zwar zählt zu den Lieblingsargumenten des Minsker Regimes, dass Druck vom Westen das Land nur in die Arme Russlands treibe. Doch es ist wahr, dass Putin Lukaschenka in einem solchen Fall noch stärker stützen würde, um zu verhindern, dass westliche Zwangsmaßnahmen das artverwandte Nachbarregime in die Knie zwingen.
Die Möglichkeiten der Einflussnahme der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sind daher grundsätzlich begrenzt. Doch in der Kombination von Druck- mit Unterstützungsmaßnahmen bietet ihre Mehrstimmigkeit auch Potenziale. Denn während sich gerade die Nachbarländer durch maximale Unterstützung für das belarusische Volk hervortun, aber damit für Minsk und Moskau politisch ein rotes Tuch sind, haben manch andere EU-Mitgliedstaaten, wie etwa Österreich oder auch Ungarn, bessere Kanäle zum Regime. Sollte sich früher oder später doch eine Gelegenheit für Verhandlungen auftun, könnte solche EU-Staaten womöglich eine Rolle als »ehrliche Makler« zukommen. Bis dahin ist es wichtig, dass die EU, ihre Mitgliedsstaaten und Gesellschaften weiterhin solidarische Unterstützung leisten, Belarus auf der Agenda halten, solide Kenntnisse über das Land entwickeln und bereits jetzt die mannigfaltigen Potenziale für eine künftige vertiefte Partnerschaft ermitteln. All dies kann jedoch den Prozess bestenfalls flankieren. Eine wirkliche Lösung der Krise kann nur aus Belarus selbst kommen.