Die belarusische Wirtschaft in den 2000er Jahren
Die Wirtschaft in Belarus hat seit der Unabhängigkeit des Landes zu wenig Reformen erlebt. Eine Privatisierung hat kaum begonnen, und Unternehmen in Staatsbesitz bilden immer noch einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft. Allerdings erfolgte eine Liberalisierung der Preise und des Handels. Die Unternehmen in Staatsbesitz unterliegen administrativen Planungsmethoden und müssen auf weitgehend freien Märkten operieren; im Vergleich zu sowjetischen Unternehmen verfügen sie allerdings über sehr viel größere Freiheiten. Diese partiellen Reformen haben zusammen mit günstigen externen Bedingungen und einer durch billige Anleihen finanzierten Investitionskampagne Belarus in den 2000er Jahren zu einem Land gemacht, das mit das größte Wirtschaftswachstum in der Region aufwies. Wachstumsraten von jährlich zwischen 6 und 10 Prozent machten es möglich, dass Belarus beim BIP den Abstand zu seinen westlichen Nachbarn verringern konnte. Das Wachstum ließ die Armut erheblich zurückgehen, wobei die Unternehmen in Staatsbesitz als Arbeitgeber den »letzten Ausweg« darstellten.
Auch die Unterstützung durch Russland spielte eine erhebliche Rolle für den wirtschaftlichen Erfolg in den 2000er Jahren. Vor allem hatte Belarus stets einen bevorzugten Zugang zum russischen Markt. Selbst nach den vielen Jahren und ungeachtet des Entstehens neuer, nach Westen orientierter Branchen wie dem IT-Sektor blieb Russland 2019 der Markt für 37 Prozent der aus Belarus exportierten Waren und Dienstleistungen. Darüber hinaus werden petrochemische Produkte – die einen großen Anteil der belarusischen Exporte in die EU ausmachen – aus russischem Erdöl hergestellt. Russisches Gas ist in Belarus der wichtigste Energieträger. Belarus kauft Öl und Gas zu Preisen, die unterhalb der marktüblichen liegen. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) beliefen sich in den 2000er Jahren die verdeckten Energie-Subventionen aus Russland auf 10–20 Prozent des belarusischen Bruttoinlandsproduktes (BIP).
Da die Unternehmen in Staatsbesitz aufgrund der Konzentration auf Produktionsmenge und Beschäftigung anstelle von Rentabilität zunehmend ineffizient wurden und die Unterstützung aus Russland schwand, wurde es zunehmend schwieriger, die hohen Wachstumsraten beizubehalten. Die akkumulierten Schieflagen mündeten 2011 in eine heftige Währungskrise. Danach stagnierte die Wirtschaft in Belarus. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum lag in den Jahren 2011 bis 2020 bei unter einem Prozent. Die Regierung begann in den 2010er Jahren mit der Liberalisierung des privaten Sektors, was Früchte trug, aber nicht ausreichte, um die Depression der Unternehmen in Staatsbesitz zu kompensieren. Nach einer weiteren Krise 2015/16 änderten die Regierung und die Nationalbank ihre Politik erheblich, um eine makroökonomische Stabilität zu erreichen. Das Ziel war eine Inflation von fünf Prozent und ein ausgeglichener Haushalt. Während der Coronakrise 2020 kehrte die Regierung jedoch wieder zu der Praxis zurück, mit administrativen Mitteln die Produktion und die Beschäftigung der Unternehmen in Staatsbesitz aufzublähen. Diese Politik mag zwar effizient das BIP ankurbeln und Beschäftigung sichern (das BIP ging 2020 nur um 0,9 Prozent zurück, während die Arbeitslosigkeit nicht hochschnellte), sie führte aber dazu, dass die Unternehmen in Staatsbesitz neue Schulden anhäuften und neue Bedrohungen für die makroökonomische Stabilität entstanden.
Unmittelbare Folgen der aktuellen politischen Krise
Die politische Krise in Belarus, die im August 2020 nach den Präsidentschaftswahlen ausbrach, hat erhebliche Folgen für die Wirtschaft des Landes. Da ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung den amtierenden Präsidenten oder die Regierung nicht als legitim betrachtet, ist die augenscheinlichste Folge ein Vertrauensverlust gegenüber der Regierung. Sämtliche Gerichte und Instrumente von Polizei und Justiz verlieren bei den Wirtschaftssubjekten ebenfalls an Vertrauen, da sie wiederholt für Repressionen eingesetzt werden. Der Zusammenbruch des Vertrauens führt unweigerlich zu einem Rückgang der Investitionsneigung und der Verbraucherstimmung. Da die politische Krise immer noch nicht gelöst ist, wächst die Ungewissheit, was ebenfalls auf die wirtschaftliche Aktivität drückt.
Der Vertrauensverlust gegenüber dem Bankensystem und dessen Folgen
Eine der unmittelbaren Folgen der politischen Krise ist das einbrechende Vertrauen in das Bankensystem und den belarusischen Rubel. Seit der zweiten Hälfte des August 2020 haben die Belarus_innen begonnen, ihre Guthaben abzuziehen und die belarusischen Rubelersparnisse in andere Währungen zu überführen. Die Nationalbank musste die internationalen Währungsreserven angreifen, um diese Devisennachfrage zu befriedigen. In der Folge schrumpften die internationalen Währungsreserven im Laufe des August 2020 um 1,4 Milliarden US-Dollar (15 Prozent). Das war ein sehr viel bedeutenderer Schlag als die von der Coronakrise ausgelöste Panik im März 2020.
Um den Abzug von Guthaben und – was noch wichtiger ist – das Schrumpfen der Reserven aufzuhalten, beschloss die Nationalbank am 24. August 2020, den Zugang der Banken zu liquiden Mitteln zu kappen. De facto hat die Nationalbank die übliche Geldpolitik aufgegeben, bei der die Zentralbank die Liquidität der Banken zu einem bestimmten Zinssatz unterstützt, worin ihr wichtigstes politisches Instrument besteht. Stattdessen ist die Nationalbank zu einer handgesteuerten und selektiven Gewährung von liquiden Mitteln übergegangen. Der Liquiditätsengpass im Herbst 2020 brachte die Banken dazu, die Ausgabe neuer Anleihen auszusetzen. Da die Liquiditätsknappheit Anfang 2021 bei steigender Inflation nicht ganz so dramatisch ausfiel (im Februar 2021 betrug die Inflation über das Jahr gerechnet 8,7 Prozent), beschloss die Nationalbank, diese unkonventionelle Politik zu einer ständigen zu machen. Diese Entscheidung erhöht die Unsicherheit auf den Märkten, da die Nationalbank keine Orientierungshilfe mehr bietet.
Abzug der IT-Branche
Der IT-Sektor ist von den Ereignissen nach den Präsidentschaftswahlen unmittelbar betroffen gewesen. Nach der Abschaltung des Internet vom 9. Bis zum 11. August folgten fürchterlich brutale Festnahmen, Schläge und Folter von Tausenden IT-Fachleuten. Die Branche, die einst Lukaschenkas Lieblingsärgernis war, stellte nun einen Feind des herrschenden Regimes dar. Eine Reihe von IT-Büros wurde durchsucht. PandaDoc, eines der vielversprechendsten belarusischen Start-Up-Unternehmen, wurde Ziel eines direkten Angriffs: Eine Reihe Mitarbeiter_innen wurde wegen oppositioneller Betätigung der Firma festgenommen; einer von ihnen sitzt bis heute in Haft.
Der IT-Sektor in Belarus ist nach Errichtung des High-Tech-Parks 2006 schnell angewachsen. Der Park bot nicht nur Steuervergünstigungen, sondern auch Schutz vor staatlicher Kontrolle. Nach der politischen Krise wurde dieser Schutz de facto entzogen. 2021 wurde auch ein Teil der Steuervergünstigungen aufgehoben. Da die meisten IT-Firmen Kunden im Ausland haben und die meisten IT-Kräfte weltweit stark gefragt sind, bildete ein Abzug die natürliche Reaktion. Der Abzug erfolgt sowohl auf Ebene der Firmen (viele der IT-Riesen wie EPAM oder Wargaming verfügen bereits über Büros/Niederlassungen in den Nachbarländern und haben den Mitarbeiter_innen Umzugsoptionen angeboten), wie auch auf individueller Ebene.
Während das größte IT-Portal, dev.by, im September 2020 noch berichtete, dass 4 Prozent der Respondent_innen einer Online-Umfrage bereits umgezogen seien, so waren es im Januar 2021 bereits 15 Prozent. Weitere 31 Prozent suchten nach einer Möglichkeit zum Umzug. Die Abzugsbewegung zeigt sich bereits in den zurückgehenden offiziellen Beschäftigungszahlen in der IT-Branche für Dezember 2020 und Januar 2021 (normalerweise war die Beschäftigung in diesem Sektor jährlich um 10 Prozent gestiegen). Der Umzug kann verschiedene Formen annehmen: Laut einer Umfrage von BEROC bei IT-Firmen haben 5,4 Prozent von ihnen bereits ihre Profitzentren verlegt, und 10,2 Prozent der Unternehmen eröffnen außerhalb von Belarus neue Niederlassungen (Stand: Dezember 2020).
Es werden zwar nicht alle IT-Fachleute oder -Unternehmen umziehen, doch dürfte das Wachstum sicherlich abnehmen. Der IT-Sektor ist darüber hinaus eine Quelle für Nachfrage aus dem Ausland gewesen. So verzeichnet die Immobilienbranche mittlerweile eine geringere Nachfrage nach Büroräumen. Der IT-Sektor blieb 2020 eine Wachstumslokomotive, die allerdings schwächer wird. Der IKT-Sektor war im Januar 2021 gegenüber dem Vorjahrsmonat nur um 2,9 Prozent gewachsen, im Vergleich zu 7,7 Prozent ein Jahr zuvor.
Zugang zu externen Finanzmitteln und Abhängigkeit von Russland
Eine weitere unmittelbare Folge der politischen Krise ist der beschränkte Zugang zu Finanzmärkten. Belarus hatte sich auf dem Eurobond-Markt intensiv Gelder geliehen, um die Schulden der öffentlichen Hand zu refinanzieren, was nach dem August 2020 als Option wegfällt. Hier kommen zwar keine direkten Sanktionen zum Tragen, doch wird sich nur schwerlich eine Investitionsbank finden lassen, die bereit wäre, Anleihen auszustellen; zudem wären die Zinssätze zu hoch. Auch ist es unwahrscheinlich, dass internationale Organisationen Kredite bereitstellen, solang die politische Krise nicht überwunden ist. So hat sich der Internationale Währungsfonds geweigert, im September 2020 im Zusammenhang mit der Corona-Krise Hilfsgelder bereitzustellen.
Da Belarus 2021 etwa 3,1 Milliarden US-Dollar benötigen dürfte, um seine öffentlichen Schulden zu bedienen oder zu tilgen (mit Reserven, die sich am 1. Januar auf nur 7,1 Milliarden USD beliefen), wird die Refinanzierung zu einem drängenden Problem. Das prognostizierte Haushaltsdefizit von rund 2,1 Milliarden US-Dollar verschärft die Lage. Und wiederum ist Russland für Belarus der Kreditgeber in letzter Not. Diese Abhängigkeit gibt Russland in seinen Beziehungen zu Belarus wirkmächtige Hebel an die Hand.
Langfristige Implikationen der aktuellen politischen Krise
Während die kurzfristigen Folgen der Krise umgehend sichtbar sind und viel Aufmerksamkeit erhalten, sind die langfristigen Folgen weniger spürbar und ernsterer Natur. Die gefälschten Wahlen und die anschließenden Repressionen mit brutaler Gewalt haben den sogenannten Sozialvertrag zwischen Staat und Gesellschaft gebrochen. Auch das Vertrauen in die Regierung hat sich in Luft aufgelöst. Das betrifft zwar in erster Linie das Vertrauen zu Lukaschenka und den Polizei- und Justizbehörden, doch schwappt der Vertrauensverlust auch über die wirtschaftlichen Sparten des Staates.
Die Vertrauenskrise und die zunehmende Unsicherheit drücken auf die Stimmung der Verbraucher_innen wie auch der Investor_innenen. Die Unternehmen stufen das Risiko wirtschaftlicher Betätigung auf dem außerordentlich hohen Niveau von 4,4 (von 5) ein, folgt man einer Umfrage des Forschungszentrums Institut für Privatisierung und Management (IPM) vom Oktober 2020. Die makroökonomische Instabilität, die Unsicherheit und das Misstrauen gegenüber dem Rechtssystem werden als die wichtigsten Hindernisse für Entwicklung betrachtet. Einer Umfrage des BEROC bei kleinen und mittleren Unternehmen vom November 2020 zufolge, haben 24 Prozent dieser Unternehmen ihre Investitionspläne aufgegeben, und 21 Prozent haben angesichts der Risiken Neueinstellungen gestoppt. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung erwarten, dass ihre Einkommen zurückgehen werden, was sich auch in ihrem Konsumverhalten niederschlägt.
Während die offizielle Prognose der Regierung für 2021 von einem Wachstum von 1,8 Prozent für 2021 ausgeht, prognostiziert die Weltbank unter Verweis auf die fehlende Investitionsneigung einen Rückgang des belarusischen BIP um 2,7 Prozent. Die negativen Erwartungen schlagen sich bereits in den makroökonomischen Daten nieder: Die Investitionen waren im Januar 2021 im Vergleich zum Vorjahrsmonat um 5,3 Prozent zurückgegangen, der Umsatz im Einzelhandel schrumpfte im Januar 2021 um 0,9 Prozent, was die gedrückte Verbraucherstimmung widerspiegelt – ungeachtet der 2020 um 4,6 Prozent gestiegenen Realeinkommen der Bevölkerung. Ausländische Direktinvestitionen begannen im dritten Quartal 2020 aus Belarus abzufließen, indem die Investoren Gewinne aus dem Land abzogen.
Der Rückgang der Investitionsneigung hat keine unmittelbaren Folgen und bewegt die Regierung nicht zu unmittelbaren Maßnahmen. Angesichts des schwachen wirtschaftlichen Wachstumspotenzials in Belarus wird es zu weiterer Stagnation führen. Die Einkommensunterschiede zwischen Belarus und den Nachbarstaaten dürften zunehmen, und viele werden mit den Füßen abstimmen. Es wird erwartet, dass die Emigration zunimmt, und dass die kreativsten, am besten ausgebildeten und die unternehmerischsten Menschen die ersten sein werden, die das Land verlassen.
Das große Rätsel der Wirtschaftspolitik: Sind Reformen jetzt möglich?
Die Agenda für Wirtschaftsreformen ist in Belarus all die Jahre unverändert geblieben: Vorrang hat die Umstrukturierung des ineffizienten staatlichen Sektors, zusammen mit einer weiteren Liberalisierung und Deregulierung des privaten Sektors. Auch sind unpopuläre Reformen der sozialen Sicherung vonnöten: Anstelle ineffizienter Formen der Unterstützung (etwa der Subventionierung kommunaler Leistungen für alle) muss Belarus bei Armut und Arbeitslosigkeit bedürftigkeitsabhängige Hilfen einführen. Wenn die Regierung vor der Krise noch zögernd einige der Reformen umzusetzen versuchte, so lösen sich die jüngsten Reformfortschritte jetzt in Luft auf, wie man an der Politik der Nationalbank erkennen kann. Es besteht das Risiko, dass die schwer errungene makroökonomische Stabilität verloren geht.
Der am stärksten konfliktgeladene Bereich ist die Politik zum privaten Sektor. Einerseits verstehen die Wirtschaftsbehörden, dass der private Sektor die einzige Wachstumsquelle darstellt, und sie würden gern eine weitere Liberalisierung und Unterstützung fortführen. Andererseits betrachtet Lukaschenka den privaten Sektor als Beispiel für gefährliche Unabhängigkeit und eine Quelle von Protest. Höhepunkt dieses Konflikts war die »Allbelarusische Volksversammlung« im Februar 2021, als das Wirtschaftsministerium einen neuen Fünfjahresplan mit dem Plan vorlegte, das Unternehmertum zu fördern, die Infrastruktur zu stärken und Strafen für Wirtschaftsverbrechen zu mildern. Lukaschenka hingegen meinte, dass das Unternehmertum in Belarus durch eine Deregulierung zu sehr von der Leine gelassen worden seien, und dass die Zügel angezogen werden sollten. Zudem könnten nur Unternehmen, die sich gegenüber dem Regime loyal zeigen, ihre Tätigkeit in Belarus fortsetzen. Diese verbalen Vorstöße werden im Zusammenspiel mit einigen Steuererhöhungen und den Drohungen, die Vorzugsregelungen für Einzelunternehmer abzuschaffen, die privaten Investitionen bremsen.
Langfristig bewirkt das mangelnde Vertrauen, dass viele bedeutungsvolle Reformen unmöglich werden. Eine weitere Liberalisierung der Vorschriften würde im privaten Sektor auf Skepsis stoßen. Jeder Versuch, die soziale Sicherung zu optimieren, wäre politisch schwierig, und die Menschen würden den besten Absichten der Regierung nicht trauen. Die Governance der Unternehmen in Staatsbesitz zu verbessern, wäre kaum möglich, weil selbst die Direktor_innen von Unternehmen in Staatsbesitz zu eingeschüchtert wären, um die versprochenen unternehmerischen Freiheiten tatsächlich zu nutzen; sie würden sichere Lösungen vorziehen. Gleichzeitig dürfte die Zentralregierung nicht in der Lage sein, Haushaltsbeschränkungen für Unternehmen in Staatsbesitz strenger durchzusetzen, wobei sie stets der Versuchung erliegen würde, angesichts der fehlenden Unabhängigkeit der Nationalbank auf eine direktivistische Praxis bei der Kreditvergabe zu setzen. Die besten Köpfe in den Wirtschaftsressorts des Staates dürften den öffentlichen Dienst in Ernüchterung stürzen. Jede positive Reformagenda für die Wirtschaft ist zum Scheitern verurteilt, solang das Vertrauen nicht wiederhergestellt ist – und das Vertrauen lässt sich nur über politische Veränderungen wiederherstellen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder