Belarus-Analysen

Ausgabe 55 (30.04.2021) — DOI: 10.31205/BA.055.01, S. 2–6

Eine kurze Geschichte des Kampfes gegen Covid-19 in Belarus

Von Filipp Bikanow (Marktforschungsinstitut SATIO, Minsk)

Zusammenfassung
Die Corona-Pandemie hat die mangelnde Effektivität von Entscheidungen der staatlichen Organe aufgezeigt; viele der in Belarus bestehenden Probleme des Staatsaufbaus sind deutlich geworden und haben sich verschärft. Während die Mediziner sich nach Ansicht von Experten professionell an die Bekämpfung der Pandemie und die Behandlung der Erkrankten machten, hat es der Staat nicht vermocht, rechtzeitig und umfassend Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen, die Unternehmen zu unterstützen oder das Bildungssystem an die neuen Realitäten anzupassen. Die Belarus_innen waren gezwungen, die Probleme eigenständig zu lösen: Die Unternehmen mussten ihre Mitarbeiter unterstützen, die Hochschuldozenten hatten einen Fernunterricht zu organisieren und charitative Organisationen mussten Schutzausrüstungen für Ärzte kaufen. Dadurch hat sich die Zivilgesellschaft in Belarus konsolidiert, wobei sie sich der Regierung und deren katastrophaler Kommunikationspolitik entgegenstellte. Es war die schlechte Kommunikationspolitik des Staates während der Pandemie, die vor den Präsidentschaftswahlen 2020 den Anstoß zu einer massenhaften Politisierung der Gesellschaft gab. Derzeit überträgt sich das angesammelte Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen auch auf andere Formen der Pandemiebekämpfung, etwa auf die Impfkampagne.

Gescheiterte Kommunikationspolitik des Staates

Zu Beginn der Epidemie noch hatte sich das Vorgehen der Regierung nahezu mit den Erwartungen der Gesellschaft gedeckt. Nach nur wenigen Monaten allerdings hat die Kommunikationspolitik des Staates zu einer Vertrauenskrise der Gesellschaft gegenüber dem Staat geführt.

Im März 2020 gab es eine Phase des Vertrauens zwischen Staat und Gesellschaft, die aus historischer Perspektive relativ kurz, für Belarus aber relativ lang war.

Die Maßnahmen, die der Staat in den ersten Wochen der Pandemie ergriff, kamen den Erwartungen der Bevölkerung recht nahe. So besagt eine Studie des Instituts SATIO, dass ein Verbot öffentlicher Veranstaltungen die strengste Maßnahme war, die die Belarus_innen im März 2020 sehen wollten. In der Gesellschaft gab es keinen Wunsch nach einer strengen Quarantäne oder einer Schließung von Einzelhandelsobjekten. Der Wunsch, dass es keine strengen Maßnahmen geben solle, blieb das Frühjahr und den ganzen Sommer über bestehen. Hinsichtlich der Kommunikation mit der Gesellschaft war ebenfalls alles in Ordnung. Anfänglich wurden auf den Presseterminen des Gesundheitsministeriums ausreichend Informationen genannt: Die Zahlen der Erkrankten wurden nicht verheimlicht und es wurde darüber informiert, welche Maßnahmen im Gesundheitswesen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen werden.

Sie Situation begann sich jedoch bereits im März auch zu ändern, als in den Medien Äußerungen von Aljaksandr Lukaschenka darüber erschienen, dass »die Lage mit dem Coronavirus […] eine Psychose« sei, dass Parlamentsabgeordnete meinten, es sei »nicht hinnehmbar, Gerüchte über das Coronavirus zu verbreiten«. Ab dem 17. April 2020 antwortete das Gesundheitsministerium nicht mehr auf Fragen zum Coronavirus. Im weiteren Verlauf diente das Virus bei den Wahlen als Argument, um die Zahl der Wahlbeobachter in den Wahllokalen zu reduzieren. Diese Maßnahmen deckten sich nicht mehr mit einer Rhetorik, die die Dimensionen der Epidemie kleinredete, was wiederum das Vertrauen in staatliche Informationen nicht gerade wachsen ließ.

Im April 2020 wurde offensichtlich, dass das Gesundheitsministerium Tatsachen verschweigt. Die Belarus_innen wollten besser über die Verbreitung des Virus und die ergriffenen Maßnahmen informiert werden; so lautete der Wunsch von über 70 Prozent der städtischen Bevölkerung. Es wurde die Tendenz feststellbar, dass Informationen aus staatlichen Quellen misstraut wurde. Spätere Daten (nach April 2020) erlauben es, von einer Manipulation der Krankenstatistiken zu sprechen.

Die mangelnde Informiertheit verschärfte das Problem des mangelnden Vertrauens gegenüber dem gesamten Gesundheitssystem drastisch. Die Menschen verloren die Gewissheit, dass sie im Falle einer schweren Erkrankung ausreichend und fachlich qualifizierte medizinische Hilfe erhalten würden. Sie suchten aus Angst vor einer Ansteckung nicht mehr medizinische Einrichtungen auf. Wegen des Mangels an korrekten Daten waren Gesundheitsexperten nicht in der Lage, richtige und begründete Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung zu treffen.

Die mangelnde Informiertheit führte dazu, dass sich hinsichtlich der Antwort des Staates auf die Pandemie in der Gesellschaft eine starke Unzufriedenheit herausbildete. Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle (im November 2020) waren 69 Prozent der Befragten der Ansicht, dass der Staat nicht genug für eine Verringerung der Infektionszahlen unternommen habe. Außerdem hielten 77 Prozent es für notwendig, strengere Maßnahmen gegen jene einzuführen, durch deren Verhalten eine Verbreitung des Coronavirus befördert wird.

Radikale Quarantänemaßnahmen (Quarantäne in Bildungseinrichtungen, Schließung von Einzelhandelsobjekten, Ausgangssperren, Grenzschließungen) waren und sind in der Bevölkerung des Landes weiterhin unpopulär.

Kein Vertrauen in die offiziellen Statistiken

Es gibt eine Vielzahl Faktoren, die darauf hinweisen, dass das Gesundheitsministerium Informationen zurückhält. Laut den offiziellen Statistiken wurde die erste Infektion mit Covid-19 in Belarus am 28. Februar 2020 registriert. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie erklärt das Gesundheitsministerium, dass mit Stand vom 23. März 2021 in Belarus 312.474 Personen positiv auf Corona getestet worden seien und die Zahl der Toten 2.175 betrage.

Laut einer SATIO-Umfrage vom 20. März 2021 hatten 21,6 Prozent der Befragten eine bestätigte Covid-19-Diagnose. In absoluten Zahlen wären das zwischen 1.092.000 und 1.381.000 Menschen, also rund das Vierfache der offiziellen Daten. Die Stichprobe von SATIO umfasst allerdings nur die städtische Bevölkerung im Alter von 18 bis 64 Jahren; Jüngere, Ältere und die ländliche Bevölkerung wurden nicht befragt. Das bedeutet, dass die Fallzahlen in Wirklichkeit noch höher sind. Forscher der Initiative Narodny opros (https://narodny-opros.medium.com) haben festgestellt, dass mit Stand vom 22. Januar 2021 rund fünf Mal mehr Menschen sich mit Covid-19 angesteckt haben als nach Angaben des Gesundheitsministeriums zum gleichen Stichtag.

Der wichtigste Grund, warum die offiziellen Daten als falsch zu betrachten sind, ist jedoch der anomale Anstieg der Sterblichkeit um 18,5 Prozent im zweiten Quartal 2020 (laut offiziellen Angaben der UNO). Darüber hinaus ist vor kurzem eine Studie des Portals Mediazona-Belarus erschienen, die die Daten der Minsker Standesämter analysiert und behauptet, dass allein in Minsk die Sterbezahlen im Zusammenhang mit Covid-19 etliche Male höher sind als die offiziellen Daten für ganz Belarus. Es gibt Fragen hinsichtlich der Transparenz der veröffentlichten Zahlen: In den offiziellen Veröffentlichungen wurden mitunter arithmetische Fehler entdeckt, in verschiedenen Quellen erschienen anonyme Erklärungen von Ärzten, dass die Statistiken zu Covid-19 nach untern manipuliert wurden. Das Gesundheitsministerium weigerte sich seit dem 17. April 2020, auf Fragen von Journalisten zu antworten.

Die offizielle Sterbestatistik im Zusammenhang mit Covid-19 unterscheidet sich erheblichen von vergleichbaren Daten aus den Nachbarstaaten: Belarus sticht durch einen äußerst niedrigen Anteil der Sterbefälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus hervor, nämlich 0,7 Prozent, während Litauen, die Ukraine, Russland und Polen hier zwischen 1,6 und 2,7 Prozent verzeichnen (Stand: Ende März 2021).

Corona und die Mobilisierung der Zivilgesellschaft

Die Politik des Verschweigens während der ersten Corona-Welle bildete die Grundlage, dass sich Gesellschaft zur Selbsthilfe mobilisierte. Der notwendige Kampf gegen das Coronavirus beförderte eine Konsolidierung der Zivilgesellschaft in Belarus, was Auswirkungen auf die Geschlossenheit der Gesellschaft in der politischen Krise hatte.

Nach Beginn der staatlichen Medienkampagne zur Leugnung der Coronakrise im Frühjahr 2020 bekamen die Menschen das Gefühl, dass sie mit dem Problem alleingelassen werden. Das führte zu einer explosionsartigen Zunahme von Selbsthilfeinitiativen wie beispielsweise #BYCOVID-19 oder Bring den Ärzten eine Notration. Über direkte Spenden gelang es der Gesellschaft und den Unternehmen in Belarus, über 2 Millionen US-Dollar Hilfsgelder für das medizinische Personal zu sammeln (Stand: 4. August 2020). Hunderte, ja Tausende Menschen und Dutzende Unternehmen waren an der Freiwilligenarbeit beteiligt, mit der der Kampf gegen das Coronavirus unterstützt wurde. Das letzte Mal, als es angesichts eines Notstandes eine derart sichtbare gesellschaftliche Konsolidierung gegeben hatte, war im März 2013, als das Schneesturmtief Xaver über Belarus zog.

Das tatsächliche Vorgehen des Gesundheitsministeriums wird zwiespältig beurteilt. Einerseits ist zu Beginn der Pandemie die Versorgung mit Krankenhausbetten nicht schlecht gewesen: Es gab 8,4 Betten pro 1.000 Einwohner (zum Vergleich: in Russland waren es 8,0, in Großbritannien 2,5 und in Belgien 5,6). Zudem wurden die großen städtischen Krankenhäuser und Spitäler umorganisiert, planbare medizinische Behandlungen wurden ausgesetzt, um Ärzte für den Kampf gegen Corona abstellen zu können. Dabei war während der ersten Corona-Welle die Versorgung der Krankenhäuser (insbesondere der kleineren und regionalen) mit individueller Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten und Tests dermaßen unzureichend, dass sich zur Deckung des Bedarfs der Ärzte Freiwilligeninitiativen wie #BYCOVID einschalten mussten.

Es gibt aber auch positive Einschätzungen: Experten haben hervor, dass in Belarus Corona-Erkrankungen auf die richtige Art und Weise behandelt würden, wobei die Behandlungs- und Diagnoserichtlinien unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen ständig aktualisiert würden. In der zweiten Welle ging das Gesundheitsministerium hinsichtlich der Versorgung viel besser vor: Es waren Vorräte für einen Monat angelegt worden, es gab keine massenhaften Meldungen über fehlende Schutzausrüstungen mehr. Gleichzeitig reichten die »Umschlagskapazitäten« des Systems nicht aus: Bei der ersten und der zweiten Welle arbeiteten die Ärzte bis zum Anschlag. Zur Unterstützung wurden Studenten der medizinischen Hochschulen mobilisiert.

Leider ist es wegen der mangelnden Transparenz des Gesundheitsministeriums schwierig, objektiv einzuschätzen, ob dort gut auf die Pandemie reagieren konnte. Allem Anschein jedoch ist es durch die Reorganisation der Krankenhäuser und Ärzte sowie die erhöhte Bettenreserve gelungen, eine schlimmere Entwicklung der Lage zu verhindern.

Solidaritätsfonds haben die logistischen Löcher während der ersten Corona-Welle gestopft. Wegen der mangelnden Transparenz der Daten des Gesundheitsministeriums ist es nur sehr schwierig, den Beitrag von Bürgerinitiativen bei der Unterstützung des medizinischen Personals mit dem des Staates in ein Verhältnis zu setzen. Allerdings hatte die umfangreiche Berichterstattung über #BYCOVID19 und andere Bürgerinitiativen sowie die unredliche Kommunikationspolitik des Staates einen interessanten Effekt auf die öffentlichen Meinung: Diejenigen, die von den Hilfsinitiativen wussten schätzten die Rolle des Staates bei der Unterstützung des medizinischen Personals während der ersten Welle äußerst gering ein: Ende November 2020 waren 11 Prozent der Ansicht, dass der Staat in einem größeren Maße half, mit der Lage zurechtzukommen, 54 Prozent meinten, es waren die Bürgerinitiativen. Auch wenn das nicht der Wirklichkeit entspricht (die Unterstützung des Staates war größer, die Berichterstattung darüber aber schlechter), entstand bei den Menschen der Eindruck, dass der Staat die Mediziner und Patienten in der Pandemie im Stich gelassen hat und Hilfe nur durch Aktivisten erfolgte.

Ein weiterer Katalysatoreffekt für die Unzufriedenheit in breiten Bevölkerungsschichten ist auf den insgesamt herablassenden Ton von Vertretern des Staates in Bezug auf die Erkrankten und Verstorbenen zurückzuführen. Im April 2020 hatte Aljaksandr Lukaschenka abgestritten, dass im Land Menschen durch das Coronavirus gestorben sind, indem er die Todesfälle mit einem »Strauß chronischer Erkrankungen« erklärte. Zudem empfahl er Traktorfahren und Eishockeyspielen als Maßnahme.

Früher hatte das Regime in Belarus in der politischen Auseinandersetzung versucht Protestgruppen zu marginalisieren, wobei es sich mit der »Bevölkerungsmehrheit« verband. Diese wurde für ihre Nichtbeteiligung an der Politik dadurch belohnt, dass das Regime sich um sie »kümmert«. Das Beispiellose der Corona-Krise bestand darin, dass es gerade jene Gruppen »einfacher Leute« waren, die nicht in politische Dinge involviert sind und für die der Staat seine Fürsorge verkündet hatte, die nun von der Pandemie getroffen wurden. Die Kollision der Erwartungen dieses Teils der Gesellschaft mit der verächtlichen Haltung des Staates führte zu einer tiefen Unzufriedenheit und erzeugte den Wunsch nach einem respektvollen und gebührlichen Verhalten des Regimes ihnen gegenüber. Auf diesem Wunsch ritten die Politiker der neuen Welle, die mit der Losung für das Präsidentenamt kandidierten, dass den Menschen ihre Würde zurückgegeben werden müsse, und dass wir »kein Völkchen, sondern das Volk« seien. Einer von ihnen, Wiktar Babaryka, ist der populärste Politiker in Belarus, selbst nach 9 Monaten Gefängnishaft. Das Engagement, mit dem die belarusische Gesellschaft in den Initiativen aktiv wurde, um den Wahlkampf von Politikern der neuen Welle zu unterstützen (wie auch später für den des Vereinigten Wahlkampfstabs von Swjatlana Zichanouskaja), erscheint über das Jahr betrachtet als direkte und logische Folge der Aktivität zur Selbsthilfe während der ersten Corona-Welle.

Corona und sozial benachteiligte Gruppen

Vor dem Hintergrund, dass die Anstrengungen vor allem dem Kampf gegen Covid-19 galten, wurde den sozial benachteiligten Gruppen nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet, nämlich den Älteren, Menschen mit Behinderungen usw.

Es ist zwar immer noch nicht eindeutig festzustellen, welche Bevölkerungsgruppen aus epidemiologischer Sicht am verwundbarsten sind, doch gibt es Menschen, die aufgrund ihrer sozialen und demographischen Lage oder des Gesundheitszustands einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind: Menschen fortgeschritteneren Alters, Strafgefangene, Obdachlose, Betreute in Alters- und Behindertenheimen, Alleinstehende, Schwangere, Patienten mit chronischen Erkrankungen, Bewohner von Hospizen usw. Diese Bevölkerungsgruppen bekommen in Belarus zweifelsohne die Folgen der Pandemie zu spüren, etwa durch den erschwerten Zugang zu medizinischen Leistungen aufgrund der Aussetzung der planbaren medizinischen Maßnahmen und der Umstrukturierung der medizinischen Einrichtungen, und zwar in erheblich höherem Maße als andere Bevölkerungsgruppen. Die Probleme dieser Menschen beschränken sich nicht allein auf die genannten Faktoren, und sie können ganz unerwartete Formen annehmen. So wird von Problemen berichtet, den Status eines Menschen mit Behinderung zu erlangen, wenn jemand früher nicht diesen Status hatte: Oft fehlen hierzu die entsprechen Fachleute. Auch haben sich Probleme verschärft, die schon vor der Corona-Pandemie bestanden, etwa, dass die Menschen in andere Ortschaften fahren müssen, um sich von einer medizinischen Kommission begutachten zu lassen. Non-Profit-Organisationen, die Menschen mit Behinderungen unterstützen, begannen ebenfalls, von Problemen bei ihrer Arbeit zu berichten. Hierfür gab es zwei Hauptgründe: Viele Mitglieder dieser Organisationen sind Teil der Risikogruppe, weswegen sie stärker bemüht waren, in Selbstisolation zu sein, geplante Maßnahmen abzusagen, um das Ansteckungsrisiko zu verringern. Und es fehlte der physische Zugang zu Einrichtungen, in denen für Menschen mit Behinderungen früher Hilfestellung und Beratung angeboten wurden. Insgesamt wird die Lage vulnerabler Gruppen dadurch verschlimmert, dass diese Menschen meist nicht in der Lage sind, mit der Pandemie eigenständig zurechtzukommen und ihre geringe Sichtbarkeit die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sie von der Zivilgesellschaft spezifische Unterstützung erhalten. Diese Menschen sind außerhalb des Wahrnehmungshorizonts geblieben und haben vom Staat keine hinreichende Hilfe erfahren.

Corona und das Bildungswesen

Der Bildungsbereich verdient hier eine gesonderte Betrachtung. In der ersten Welle gab es Versuche, Student_innen und Schüler_innen zu Fernunterricht oder Homeschooling wechseln zu lassen, was in der Gesellschaft auf Unterstützung stieß. Allerdings führten das Fehlen eines systematischen Ansatzes und eine Reihe widersprüchlicher Entscheidungen dazu, dass diese Anstrengungen nur minimal erfolgreich waren. Ein Beispiel war die Entscheidung, Tests und andere Kontrollen nicht im Fernunterrichtsmodus abzuhalten. Es bleibt rätselhaft, warum Tests und Prüfungen unbedingt im Gebäude der Schule oder Hochschule stattfinden sollten, bedenkt man, dass es im Land bereits Erfahrungen mit Fernunterricht gab. Doch blieb selbst diese Erfahrung erfolglos: In dem halben Jahr nach Beginn der Pandemie ist es dem Bildungssystem nicht gelungen, einen konsequenten Ansatz für den Fernunterricht zu entwickeln. Es kam der Punkt, an dem die Politik des Bildungsministeriums derart inkonsequent wurde, dass sie dem Übergang zu Fernunterricht im Wege stand. So gab es technologisch keine einheitlichen Plattformen zur Organisierung des Unterrichts, dafür jedoch ein direktes Verbot der Nutzung von Servern, die sich außerhalb von Belarus befinden. Der Umstand, dass es nach einem Jahr Pandemie keinerlei Änderungen gegeben hat, illustriert drastisch die mangelnde Flexibilität des Systems. Im Großen und Ganzen zog man es im Bildungsministerium vor so zu tun, als ob nichts geschehen sei. Das Schuljahr begann, als ob es kein Coronavirus gäbe, also vollkommen »offline«.

Ohne Vertrauen in die staatlichen Strukturen kein Vertrauen in die Impfstoffe

Belarus könnte das Corona-Problem mit einer Impfkampagne lösen. Das Land hat alle Voraussetzungen, um Zugang zu unterschiedlichen Impfstoffen zu erhalten, unter anderem zu Sputink V. Allem Anschein wurde vor allem auf diesen Impfstoff gesetzt. So verkündete Gesundheitsminister Dsmitryj Pinewitsch Pläne, bis zum Herbst 2021 vier Millionen Bürger_innen mit Sputnik V impfen zu lassen, der in einer belarusischen Fabrik hergestellt werden würde. Leider erscheinen diese Pläne nur schwer umsetzbar, nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass der belarusische Staat während der bisherigen Wellen nur schlecht in Richtung Gesellschaft kommuniziert hatte. Das Misstrauen gegenüber den offiziellen Corona-Statistiken hat die Impfbereitschaft der Bevölkerung sinken lassen.

So waren laut einer SATIO-Umfrage aus der dritten Märzwoche 2021 lediglich 37 Prozent der städtischen Bevölkerung bereit, sich gegen Corona impfen zu lassen. Das ist der niedrigste Wert in Europa und im Vergleich mit den Nachbarländern. Für die Befragten bestanden die Hauptbedenken gegen eine Impfung in der Angst vor Nebenwirkungen und einem Misstrauen gegenüber dem Impfstoff, wobei die Befragten eine Verbindung zwischen verschwiegenen Informationen über Nebenwirkungen und die Wirksamkeit des Impfstoffs und der »offenen Lüge über die Anzahl der Toten« herstellen. Als eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Impfung nennen die Belarus_innen die Möglichkeit, unter den Impfstoffen wählen zu können, wobei gewünscht wurde, dass ein Impfstoff verfügbar sei, dem die Menschen vertrauten. Den Belarus_innen stehen derzeit drei Impfstoffe zur Verfügung: Sputnik V aus russischer Produktion, ein chinesischer von Sinopharm und Sputnik V aus belarusischer Produktion. Während die Vertrauenswerte für Sputnik V aus russischer Produktion insgesamt nicht schlecht sind, stoßen der belarusische Sputnik V und der chinesische Impfstoff von Sinopharm bei den Belarus_innen auf starkes Misstrauen. Selbst jene, die sich für eine Impfung gegen Corona bereit zeigen, wollen sie lieber nicht mit einem Impfstoff aus belarusischer Produktion vornehmen lassen. Diese Haltung erscheint als logische Folge der Kommunikationspolitik des belarusischen Staates zur Corona-Pandemie.

Fazit

Die Pandemie hat in Belarus eine Vielzahl Probleme des staatlichen Systems offengelegt: In erster Linie sind das die fehlende Flexibilität gegenüber neuen Problemen, die mangelnde Achtung vor dem menschlichen Leben, die Lügen und der Unwillen, sich im modus operandi zu wandeln. Das gilt nicht nur für das Gesundheitssystem, sondern auch für andere Institutionen des Staates. Dieses Modell der Beziehungen zur Gesellschaft ist im Laufe vieler Jahre entstanden und in der UdSSR verwurzelt. In der Gesellschaft ist seit Langem der Wunsch nach einem Systemwandel gereift, doch aus einer Reihe unterschiedlicher Gründe mündete dieser Wunsch nicht in politisches Handeln. Die Corona-Krise wurde dann zum Strohhalm (oder besser gesagt: Rüstung), der den Rücken des Kamels brechen ließ, also hinsichtlich der belarusischen Geduld der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Am interessantesten ist, dass das Problem ursprünglich im Bereich der Kommunikation angesiedelt war: Wenn das Regime so gehandelt hätte, wie es gehandelt hat, dabei jedoch mit den Bürgern offener und respektvoller gesprochen hätte, wären wir wohl kaum Zeuge einer derart massenhaften politischen Aktivierung geworden, wie sie 2020 in Belarus erfolgt ist. Einem offenen, ehrlichen und respektvollen Dialog des belarusischen Staates mit der Gesellschaft steht jedoch dessen eigener Aufbau im Wege. Falls die Eliten, die derzeit die politischen Entscheidungen treffen, eine Beibehaltung des Systems und der eigenen Stellung in ihm wollen, müssen sie damit beginnen, die Struktur des Systems zu ändern.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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