Belarus-Analysen

Ausgabe 58 (23.12.2021), S. 5–6

Das Scheitern Lukaschenkas aggressiver Migrationspolitik

Von Piotr Zochowski (Zentrum für Oststudien – OSW, Warschau)

Stand: 02. Dezember 2021

Das Lukaschenka-Regime hat im Frühjahr dieses Jahres Routen organisiert, über die Migrant_innen geschmuggelt werden; sie stehen unter der Aufsicht des Komitees für Staatssicherheit (KGB), des Innenministeriums und des Staatlichen Grenzkomitees der Republik Belarus. Im August lenkte das Regime Lukaschenka die Flüchtlinge nicht mehr nach Litauen, sondern an die Grenze zu Polen. Wichtigster Grund war der Wunsch zu demonstrieren, dass das Regime in der Lage ist, zu destabilisieren und in Mitteleuropa eine Krisensituation herbeizuführen. Ein weiteres Ziel war, die Standhaftigkeit der polnischen Grenzschützer und Streitkräfte zu testen.

Die Haltung von Belarus zur Migrationsfrage blieb seit Beginn dieser Krise unverändert. Die belarusische Regierung behauptet, dass die Beteiligung der polnischen Armee am Grenzschutz ein Anzeichen für eine vermeintliche militärische Bedrohung von Seiten der NATO sei. Das provokante Verhalten der belarusischen Grenzschützer macht deutlich, dass das Regime in Belarus versucht, an der Grenze so viele Tragödien wie möglich zu provozieren. Dazu gehören auch Zwischenfälle mit dem Einsatz von Waffen. Das ist ein Versuch, dem Westen zu zeigen, dass die gegenwärtige Krise nur durch eine Aufhebung der Sanktionen und durch Zugeständnisse an Belarus beendet werden könne. Andererseits ist die von Belarus gezeigte Offenheit für einen Dialog darüber, wie die Krise abgewendet werden könne, eher Propagandaspiel als ein ernsthaftes Verhandlungsangebot. Das Regime in Belarus glaubt, dass nur eine erhebliche Zerrüttung der Situation die EU dazu bewegen kann, Gespräche aufzunehmen.

Wir beobachten einen Wandel der Diktatur Lukaschenkas hin zu einem repressiven Polizeistaat, der sich vor allem auf die Macht der einflussreichen Sicherheitsorgane stützt, um den Gehorsam der Bürger sicherzustellen. Dabei ist die beispiellose Stellung des KGB zu unterstreichen, der zu einer echten Schaltzentrale geworden ist, wenn es um eine Koordination des Vorgehens der Sicherheitskräfte auf Einsatzebene geht. Belarus bewegt sich in seinen Beziehungen zum Westen zunehmend in Richtung Konfrontation, insbesondere zum benachbarten Polen und zu Litauen. Das spiegelte sich auch im Gesetz zur Verhinderung einer Rehabilitierung des Nazismus wider, das von Lukaschenka am 14. Mai 2021 unterzeichnet und ausschließlich zu Propagandazwecken verfasst wurde. Die Verschärfung der Vorschriften, die die gesellschaftlichen Aktivitäten der Bürger regulieren und die Stellung der Sicherheitsbehörden stärken, verweist darauf, dass der im Westen isolierte Lukaschenka entschlossen ist, an seiner Macht festzuhalten, und sei es auf Kosten eines rücksichtslosen Terrors gegen tatsächliche oder vermeintliche Opponenten. Ein weiterer Dialog mit dem Minsker Regime ist nur zu technischen Fragen denkbar, um die Ausmaße der von den belarusischen Behörden gesteuerten Migration in den Griff zu bekommen. Das wichtigste Ziel Lukaschenkas besteht darin, sich als vollwertiger Präsident wieder an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Das würde aber bedeuten, dass sein erpresserischer Einsatz von Migranten erfolgreich war. Lukaschenka will in diesem politischen Spiel seine politische Isolation beenden und nimmt Migranten als Geiseln, um eine Milderung der Sanktionen gegen Belarus zu erzwingen. Auch das würde wie ein Erfolg seiner erpresserischen Migrationspolitik aussehen.

Die Situation entwickelt sich dynamisch. Es hat den Anschein, als sei keine baldige Deeskalation in Lukaschenkas Vorgehen zu erwarten. Russland unterstützt unmissverständlich das Vorgehen des belarusischen Machthabers, wobei es darauf verweist, dass Lukaschenka auf der Grundlage des – allerdings recht breit ausgelegten – Völkerrechts agiere und also tatsächlich nicht befugt sei, Migranten mit Gewalt aufzuhalten, die sich auf den Weg in die Europäische Union gemacht haben. Moskau hat dabei erklärt, es werde nicht die Rolle eines eventuellen Vermittlers bei Gesprächen zwischen Lukaschenka und dem Westen übernehmen. Und es werde nicht auf Lukaschenka Einfluss ausüben, um diesen von einer Fortsetzung dieser Operation abzubringen. Anlässlich eines virtuellen Treffens zwischen Putin und Lukaschenka, das am 04. November stattfand und bei dem es um die Verabschiedung von Dokumenten über die Integration der beiden Länder ging, wurde anschließend bekanntgegeben, dass Putin und Lukaschenka eine recht ausgiebige Unterredung hatten, bei der unter anderem die Situation an der belarusisch-polnischen Grenze erörtert worden sei.

Das ist ein Hinweis, dass Lukaschenka die Taktik für sein Vorgehen unmittelbar mit Präsident Putin bespricht und abstimmt.

Meiner Meinung nach durchläuft Polen gerade einen Immunitätstest. Polen muss seine Maßnahmen zur Sicherung der Grenze fortsetzen. Und es muss weiterhin seine Partner in der NATO und der Europäischen Union einbinden. So hat beispielsweise Deutschland eine sehr positive Haltung zu den Maßnahmen, die Polen an der Grenze unternimmt. Es ist möglicherweise eine ganze Abfolge von Ereignissen zu erwarten. Allerdings ist hier zu unterstreichen, dass Lukaschenka in eine Falle getappt ist. Der Druck, den er zu erzeugen suchte, ist unwirksam.

Am 02. Dezember verkündete der Rat der Europäischen Union seinen Beschluss, ein weiteres Sanktionspaket – es ist bereits das fünfte – gegen Belarus verabschieden zu wollen. Die Sanktionen sollen wegen der manipulierten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 verhängt werden. In der Begründung für die Sanktionen der EU wird betont, dass das Regime in Belarus die volle Verantwortung für das Entstehen und Eskalieren der Migrationskrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU trägt. Das Vorgehen von Minsk wurde als »hybrider Angriff« klassifiziert. Bei der Verhängung der Sanktionen wurden auch die fortgesetzten Repressionen thematisiert, die sich gegen unabhängige belarusische Medien, gesellschaftliche Organisationen und Bürger_innen richten, die das Regime von Aljaksandr Lukaschenka in Frage stellen.

Derzeit ist nur schwer vorauszusagen, wie sich die Lage entwickeln wird. Lukaschenka hat bisher kein einziges politisches Ziel erreicht, das seine Position in den internationalen Beziehungen ändern würde. Wir werden wohl weiterhin dem Migrant_innen-Spiel zuschauen müssen. Dieses Spiel ist gefährlich, weil täglich Gruppen von 50 bis 100 Migrant_innen unter Aufsicht belarusischer Behörden versuchen, die Grenze gewaltsam zu überqueren. Die Krise an der polnisch-belarusischen Grenze macht deutlich: Wenn ein Staat bewusst den Schmuggel von Menschen über die Grenze zur EU unterstützt, kann die einzige Antwort nur darin bestehen, die Grenze wirksam zu schließen. Natürlich führt das zu einer Kontroverse über humanitäre Fragen, aber aus sicherheitspolitischer Perspektive kommt man nicht darum herum. Es würde nämlich andernfalls bedeuten, sich der politischen Erpressung Lukaschankas zu unterwerfen, der durch sein aggressives Vorgehen versucht, bestimmte politische oder wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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