Belarus-Analysen

Ausgabe 58 (23.12.2021), S. 2–3

Migrationskrise und Misserfolg der Politik, mit Gewalt Druck auszuüben

Von Andrei Kasakevich (Institut für Politische Studien »Politische Sphäre«, Minsk)

Stand: 18. Dezember 2021

Die Migrationskrise 2021 in Belarus ist nach europäischen Maßstäben hinsichtlich der Zahl der Migrant_innen wohl kaum als außerordentlich zu bezeichnen. In Bezug auf die Sicherheitslage in Osteuropa jedoch ist es eindeutig ein kritisches Geschehen. In dieser Hinsicht ist die Krise für Belarus und dessen Nachbarländer längst zu einem historischen Ereignis geworden und wird noch lange den politischen und wirtschaftlichen Bereich der bilateralen Beziehungen beeinflussen.

Ungeachtet aller Probleme bei der innenpolitischen Entwicklung seit der Errichtung des autoritären Regimes im Jahr 1996 ist Belarus für seine Nachbarländer nie ein Problem bei Sicherheitsfragen gewesen. Hier wurde sorgsam das Bild eines stabilen und ruhigen Landes betont. Eine Ausnahme bildete hier wohl die belarusische Unterstützung für einige Vorstöße Russlands, etwa die umfangreichen Manöver »Sapad« (»Westen«). Allerdings trat die Regierung in Belarus hier nicht als Initiator und Triebkraft der Spannungen auf.

Bis zur innenpolitischen Krise von 2020 unterstrich die Regierung gern die Tugenden des autoritären Systems, das in den Augen der internationalen Gemeinschaft vermeintlich seine Effizienz und Verlässlichkeit bewiesen habe, unter anderem als Garant für Ruhe und den Frieden in der Region. Pressesprecherin von Aljaksandr Lukaschenka, Natallja Ejsmant, formulierte das in einer grotesken Sentenz: »Diktatur ist unser [Belarus’] Markenzeichen«.

Der August 2020 hat in dieser Hinsicht alles verändert. Nach Lukaschenkas höchstwahrscheinlicher Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen, nach der brutalen Zerschlagung der friedlichen Protestaktionen durch die Regierung und dem Beginn der Krise in den Beziehungen zur EU und den USA wurde sämtliche Kraft des autoritären Staates eingesetzt, um auf die Nachbarstaaten Druck auszuüben, damit diese ihre Politik gegenüber Belarus ändern.

Die Gründe für diesen Druck traten recht deutlich in den öffentlichen Stellungnahmen offizieller Vertreter des Staates zutage. Ihnen lag die Haltung zugrunde, die auf höchster politischer Ebene formuliert wurde, nämlich aktiv auf alle aus Sicht der belarusischen Regierung »feindseligen« Akte der EU und der USA zu antworten. Dabei sollten sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden, selbst wenn das Vorgehen den Interessen und dem Ansehen des Landes schaden würde.

Bei der Wahl ihrer Taktik ist die Regierung von Belarus anscheinend von einer recht unrealistischen Vorstellung von der jeweiligen Innenpolitik in den Nachbarländern wie auch der europäischen Politik ausgegangen. In den offiziellen Medien war die Ansicht verbreitet, dass ein starkes autoritäres Regime, selbst wenn es über geringe Ressourcen verfügt, Druck auf die »schwachen« und nicht geschlossenen demokratischen Regime in Polen und Litauen ausüben kann, indem es politische Krisen und Unmut in der Gesellschaft provoziert. Zudem seien die politischen Widersprüche auf EU-Ebene zu gravierend, als dass dort eine geschlossene Haltung zu erwarten wäre. Die rationalen Regierungen in der EU würden wohl, so die Überlegung der belarusischen Regierung, angesichts der offensichtlichen finanziellen und Image-Verluste durch eine Konfrontation mit Belarus dem willensstarken Druck nachgeben und in direkte Verhandlungen mit der belarusischen Regierung einwilligen. Am Ende dieser Verhandlungen sollte die Anerkennung der Legitimität Lukaschenkas stehen. Damit wären die Forderungen nach Neuwahlen vom Tisch und es würde die Aufhebung der nach dem August 2020 verhängten Sanktionen bedeuten.

Die Migrationskrise und die daraufhin erfolgten Sanktionen gegen Belarus sowie die Schließung europäischer Organisationen (Goethe-Institut, USAID) und Vertretungen in Belarus, die massenhafte Auflösung von NGOs und Medien, die massiven Repressionen und andere Maßnahmen sollten eines der Instrumente darstellen, mit dem die Politik der EU beeinflusst werden kann. Dieses Instrument offenbarte allerdings ganz erhebliche Schwächen und beschränkte Möglichkeiten eines Staates, der in Konfrontation zu seinen Nachbarn steht.

Die Krise hatte von Anfang an eine politische Komponente und ist als Hebel zur Einflussnahme auf die Nachbarländer losgetreten worden. Der humanitäre Aspekt (Hilfe und Schutz für die Flüchtenden) stand in ihrem gesamten Verlauf im Schatten der Politik. Was als politisches Problem begann, verlangt nach einer politischen, und nicht nach einer humanitären Lösung. Diese Haltung war im gesamten Verlauf der Krise vorherrschend, sowohl in den einzelnen Mitgliedsstaaten wie auch auf EU-Ebene.

Dabei war die Krise von unterschiedlicher politischer Bedeutung. Für die EU war es eher ein Fall von provozierter politischer Destabilisierung an der Außengrenze der EU sowie der gefährliche Präzedenzfall eines Erpressungsversuchs von Seiten eines nicht freundschaftlich gesonnenen Nachbarstaates. Die Dimensionen der Migration, die mit denen auf den südlichen Migrationsrouten nicht vergleichbar sind, hatten hier keine große Bedeutung. Die Belarus-Frage hat auf europäischer Ebene offensichtlich zu einer politischen Konsolidierung geführt.

Gleichzeitig stand auch die humanitäre Seite des Problems auf der Agenda, wie auch die Bereitschaft zu technischer Hilfe bei der Unterbringung der Migranten auf belarusischem Territorium und deren Rückkehr in ihre Heimat.

Für Nachbarländer wie Polen oder Litauen bedeutete die Krise eine Herausforderung für ihre Sicherheit. Sie sahen sich mit einer externen Bedrohung konfrontiert, wie auch mit einem gewissen innenpolitischen Stress. Das führte allerdings nicht zu einer inneren Krise, sondern eher zu einer Konsolidierung und Mobilisierung der regierenden Koalitionen sowie zu einem fortgesetzten Rückhalt in der Bevölkerung.

Für die Regierung in Belarus geriet die Krise anscheinend zur ersten ernstlichen taktischen Niederlage bei einer gewaltsamen Lösung politischer Probleme. Nach dem August 2020 hat das Setzen auf Macht und Gewalt zur Lösung politischer Probleme spürbare Früchte getragen. Die Protestaktivitäten waren zum Jahresende 2020 erheblich zurückgegangen und bis zum Frühjahr 2021 praktisch aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Bei einem erheblichen Teil der Führung in Belarus entstand der Eindruck, dass auch außenpolitische Problem mit einer Konzentration auf aktives Vorgehen und Gespräche aus einer Position der Stärke heraus gelöst werden können.

Die Migrationskrise hat erstmals aufgezeigt, wie beschränkt für Belarus die Möglichkeiten und Ressourcen sind, auf die EU oder auch nur auf einzelne kleinere Mitgliedsstaaten einzuwirken. Selbst der Einsatz praktisch sämtlicher verfügbarer Mittel (von der illegalen Migration bis zu den anschließenden Sanktionen) hat auf keine Art dazu beitragen können, dass die gesteckten Ziele erreicht werden. Auch das Ziel, für eine politische Spaltung oder Zersplitterung innerhalb der EU zu sorgen, wurde nicht erreicht

Ganz im Gegenteil: Die Migrationskrise ist für die Regierung in Belarus mit erheblichen Image-Verlusten verbunden, hat die Spannungen innerhalb des Landes verstärkt, hat die außenpolitischen Positionen des Landes geschwächt und zu potenziellen wirtschaftlichen Verlusten geführt, weil die EU Anfang Dezember ein fünftes Sanktionspaket verabschiedet hat. Hinter der Zuspitzung der Lage und dem Versuch, die Migranten gewaltsam die Grenze überschreiten zu lassen, stand der Versuch, die Verabschiedung dieser Sanktionen zu verhindern und dieser Versuch ist gescheitert. Die Regierung in Belarus war daher genötigt, die Lage zu deeskalieren und die Migrationskrise als außenpolitischen Vorstoß allmählich zurückzufahren.

Es ist nur schwer abzuschätzen, welche Lehren die Regierung in Belarus hieraus ziehen wird. Seit August 2020 ist in dem Vorgehen der Regierung viel Irrationales und Zerstörerisches zu erkennen gewesen, nicht nur für die Opponenten, sondern auch für die eigenen Institutionen. In der Zukunft sind weitere ähnlich gelagerte Krisen nicht auszuschließen. Vorstellbar wären hier die aktive Duldung eines Schmuggels diverser Waren durch die Behörden, eine Zunahme »grauer« Handelspraktiken oder Drogenschmuggel. Andererseits könnte es auch zu mehr Einsicht kommen, dass das Potenzial und die Ressourcen von Belarus zur Einflussnahme auf die EU, für einen Einsatz von Machtinstrumenten und »grauen« Mechanismen begrenzt sind. Dabei könnte Belarus die Rolle der Diplomatie stärken und von ähnlichen außenpolitischen Vorstößen Richtung Westen Abstand nehmen.

Für die EU bedeutete die Krise vor allem eine Gelegenheit zu demonstrieren, dass man in der Lage ist, außenpolitische Geschlossenheit zu erreichen und gemeinsam auf eine Bedrohung der Sicherheit zu reagieren. Das betrifft nicht nur den Konsens über die Sanktionen und die Politik gegenüber dem Regime in Belarus, sondern auch Krisenbewältigung mit dem Vorgehen gegenüber den Fluggesellschaften und Regierungen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Bezug auf Russland. Die Maßnahmen der polnischen und litauischen Behörden ist als unverhältnismäßiger Einsatz von Gewalt kritisiert worden, sie waren aber auch eine Demonstration, dass man bei Versuchen einer Einmischung von außen in die innenpolitischen Verhältnisse standhaft bleibt.

Die Folgen der Migrationskrise als Versuch, auf die EU Druck auszuüben, werden die Lage in der Region und die Belarus-Politik der EU etliche Zeit prägen. Die Krise hat eine Anerkennung Lukaschenkas – und sei sie auch nur partiell – als legitimen Führer des Regimes oder eine Aufhebung der Sanktionen gegen Belarus eher in weite Ferne rücken lassen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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