Belarus-Analysen

Ausgabe 59 (22.03.2022) — DOI: 10.31205/BA.059.01, S. 2–4

Belarusische Armee: „Schrödingers Katze“ des russisch-ukrainischen Krieges

Von Siarhei Bohdan (Ostrogorski Zentrum, non-resident Fellow, Minsk)

Zusammenfassung
Die widersprüchliche Haltung der belarusischen Regierung zur russischen Invasion in der Ukraine wird heute viel zu oft übersehen. Durch den Durchmarsch russischer Truppen hat Minsk definitiv seinen neutralen Status verloren, allerdings ist seine Interaktion mit dem Kreml in diesem Krieg unfreiwillig und begrenzt. Weder belarusische Streitkräfte noch belarusisches Territorium sind aktiv in die Moskauer Kriegsführung verwickelt. 
Mittlerweile ist die praktische Politik von Minsk trotz der demonstrativen Wiederholung mehrerer Kreml-Narrative in den staatlichen Medien und durch Staatsbeamte in Belarus weiterhin eher auf eine Vermeidung jeglicher direkten Beteiligung an der Invasion ausgerichtet. Dieser Kurs kann sich sowohl auf Lukaschenkas gegenwärtige politische Manöver stützen wie auch auf die langjährige Politik einer gewissen Demilitarisierung gegenüber der Ukraine. Nach dem August 2020 ist die belarusische Regierung sehr viel abhängiger von Russland geworden. Die präzedenzlose russische Militärpräsenz im Lande beeinflusste Moskaus offensive Pläne gegenüber der Ukraine. Minsk verfügt aber nach wie vor über eine gewisse strategische Autonomie, die ausgebaut werden kann – im Interesse einer friedlichen Zukunft für die Völker in der Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.

Nicht aus heiterem Himmel

Am 8. März erklärte die EU Belarus zu einem „Mitaggressor“ gegenüber der Ukraine. Allerdings erklärte das US-amerikanische Verteidigungsministerium schon drei Tage später, dass es weder Raketenangriffe auf die Ukraine von belarusischem Territorium aus noch eine Beteiligung von Minsk an der russischen „Spezialoperation“ bestätigen könne. Die Politik der strategischen Ambivalenz macht Belarus seit Jahren für sämtlich Mächte in der Region zu einem Problem.

Belarus wurde so lange der Mitwirkung an der russischen Intervention in der Ukraine bezichtigt, dass es kaum noch weiterer Beweise zu brauchen scheint. Diese Mitwirkung passt perfekt in das bequeme Bild einer Diktatur, die sich seit 1995 Russland annähert. Zieht man jedoch die Details und die Entwicklungsdynamik des Regimes in Minsk in Betracht, sieht man eine andere Realität, in der die belarusische Staatsführung bei russischen Entscheidungen über den Angriff kaum eine Rolle innehatte. Die Situation im Lande spielte allerdings sehr wohl eine Rolle.

Es ist hilfreich, die Geschichte aufgrund der jeweils prägenden Eigenschaften in Phasen zu unterteilen. Wann begann die aktuelle Ära der militärischen Zusammenarbeit zwischen Minsk und Moskau? Sicherlich nicht in den 1990er Jahren, als Minsk mit Moskau pompöse Integrationsverträge unterzeichnete – trotz aller Rhetorik entwickelten sich danach die beiden Armeen immer mehr auseinander. Das spiegelte sich in den Unterschieden von Struktur, Konzepten, Ausbildung, Ausrüstung und Ideologie wider. So kaufte die belarusische Armee bis zum Ende der 2010er Jahre fast keine nennenswerten in der Qualität russischen Waffensysteme (mit der Ausnahme von Luftabwehrsystemen, die allerdings ebenso sehr für Moskaus Schutz vorgesehen waren wie für den eigenen Bedarf). Auch hielt das belarusische Militär viel weniger gemeinsame Manöver mit Russland ab als etwa die NATO-Länder miteinander, und es setzte auf ein weiteres Downshifting (durch Verzicht auf teure Flugzeuge, Panzertechnik, usw.).

Die jetzige Phase setzte im August 2020 ein. Die erneut manipulierte Präsidentschaftswahl hatte in Belarus viele empört, doch führten die massenhaften Proteste nicht zu einem Regimewechsel. Sie bewegten aber die NATO-Länder zu einer anscheinend prinzipienfesten, aber letztendlich riskanten Politik. Statt den legitimen oppositionellen Strukturen endlich eine stabile Unterstützung zu gewähren und den Wiederaufbau einer nennenswerten politischen Alternative zu unterstützen, verhängten westliche Länder und deren Verbündete immer mehr Sanktionen gegen Belarus und damit gegen alle seiner Bürger:innen. Die Lage in dem Land ohne eigenen Zugang zum Meer glich immer mehr einer Blockade. Sämtliche Verbindungen und Lieferungen erfolgten im weiteren ausschließlich über Russland. Der alleinige Nutznießer dieser Blockade hieß Wladimir Putin.

Die nachfolgende strategische Revolution, die in der Region erfolgte, indem Belarus komplett der Kontrolle Moskaus ausgeliefert wurde, war vorhersehbar. Sie war auch für die belarusische Staatlichkeit verheerend. Bereits einen Monat nach der manipulierten Wahl begann Minsk, teure russische Waffen einzukaufen, zwei Monate später übte die russische Armee zum ersten Mal eine große Landeoperation in Belarus, unter Einsatz seiner strategischen und Luftstreitkräfte. Ein halbes Jahr später wurden Moskau zwei Militärstützpunkte gewährt, gegen die sich Minsk zwei Jahre lang gesperrt hatte.

Putins Ziel: Belarus in den Krieg hineinzuziehen

Gleichzeitig hat sich Minsk seit 2014 geweigert, sich dem russischen Druck auf die Ukraine anzuschließen. Trotz aller Spekulationen hatte Moskau bis Herbst 2020 nur begrenzten Zugang zu belarusischem Territorium, was die russische strategische Planung beeinträchtigte. Eine der Antworten, warum sich Putin 2014/15 nicht weiter in die Ostukraine hineinwagte, lautete unter anderem, dass er seinerzeit noch nicht mit Waffen auf den „belarusischen Balkon“ treten durfte. Denn es ist dieser Balkon, von dem aus er die Ukraine vernichten kann, weil seine Armee nur so schnell die ukrainische Hauptstadt angreifen oder westliche Nachschubwege für die ukrainische Armee abschneiden kann.

Lukaschenka wusste das, hatte aber kaum Lust, sich an Putins abenteuerlicher Politik zu beteiligen und mit einem Brudervolk einen Krieg anzuzetteln. Er wiederholte oft die Narrative Moskaus, hatte es aber nicht eilig, aktiv zu werden.

In den 2000er Jahren und Anfang der 2010er Jahre demilitarisierte Minsk in erheblichem Maße die Grenzgebiete zur Ukraine: Die Truppen wurden reduziert oder ins Zentrum des Landes verlegt, die Infrastruktur wurde anders verwendet oder praktisch verlassen. Nach 2014 hat Minsk nichts an dieser Politik geändert. Zuerst es sah das, neben mehreren ähnlichen Maßnahmen, wie ein Versuch aus, gegenüber Kiew die defensive Haltung von Belarus deutlich zu machen, was allerdings nicht gelang, da die Ukraine seit 2014 die Gebiete entlang der belarusischen Grenze trotzdem militarisierte. Heutzutage sieht diese Politik der belarusischen Regierung wie ein strategisches Kalkül aus, dessen Ziel es ist, eine schnelle Verwicklung des Landes in Putins Krieg gegen die Ukraine unmöglich zu machen. Das heißt: Obwohl Minsk sein eigenes Territorium für russische Truppen zur Verfügung stellen musste, war das ein Gelände, das weitgehend nicht für einen Einsatz bei der derzeitigen Invasion vorbereitet wurde (man vergleiche nur, wie Moskau seine Grenzgebiete jahrelang durch Infrastruktur- und Straßenbau, Verlegung von Truppen, usw. für diese Invasion vorbereitet hatte). Es ist sinnvoll, auch den jahrelangen Verzicht auf eine Anschaffung russischer Waffen in diesem Licht zu betrachten. Belarusische Truppen befassten sich seit Jahren immer mehr mit defensiven Operationen und entsprechenden Waffen, und selbst nach den neuesten Anschaffungen in Moskau braucht es Zeit, um den Umgang mit moderner Technik zu lernen sowie Taktik und Operationspläne anzupassen.

Inwieweit Minsk an der Invasion beteiligt war oder ist, ist eine Frage, die allzu oft aus dem Blickwickel einer Schuldzuweisung beantwortet wird. Der Kreml hat aber mehrmals schon seinen Verbündeten nicht in Pläne dieser Art eingeweiht, z.B. im Fall der Krim-Annexion. Es gibt Hinweise, dass die belarusische Regierung diesmal von Putin praktisch in den Konflikt hineingezogen wurde und dann versuchte, auf seinen Händen wieder herauszukriechen.

Erstens hatte Minsk, sogar nachdem es Ende der 2010er Jahre eilig – mit russischem Geld – dennoch seine Grenze mit der Ukraine ausgebaut hatte, deren explizite Militarisierung möglichst vermieden. Es wurden keine Armeeeinheiten dorthin verlegt, sondern nur Grenzschutzeinheiten, wobei sogar ein paar Tausend Militärangehörige zum Grenzschutz wechselten.

Zweitens hatte es Minsk, als es nach der innenpolitischen Krise von 2020 immer mehr dem Druck Putins nachgab und seine Verteidigungslinien gegen die Ukraine befestigte, nicht sonderlich eilig. Es trifft zwar zu, dass Minsk sich irgendwann im Herbst entschied, neben den zwei schon existierenden militärischen Einsatzkommandos („West“ an der Grenze zu Polen und „Nordwest“ an der Grenze zum Baltikum) nun auch ein drittes einzurichten, nämlich an der Grenze zur Ukraine. Doch dieses Einsatzkommando „Süd“ sollte erst in zwei Jahren entstehen, was an sich schon viel über Minsks fehlenden Kriegswillen aussagt.

Es ist wahrscheinlich, dass Minsk nicht einmal am Vorabend der Invasion in die Kriegsplanung des „größeren Bruders“ eingeweiht wurde. Der „große Bruder“ wollte Belarus in die Sackgasse treiben, um allen belarusischen Versuchen, sich von der Invasion zu distanzieren, vorzubeugen. Ausgerechnet zu Beginn der Invasion, als Putin demonstrativ mit der Evakuierung der Bevölkerung aus dem Donbas begonnen hatte, wurde Lukaschenka am 18.-19. Februar plötzlich nach Moskau gerufen, was sein Alibi für die Weltöffentlichkeit natürlich erheblich untergrub. Offizielle Kommentare der belarusischen Seite vor diesem Besuch lassen vermuten, dass er ungeplant war und Minsk nicht einmal den Zweck erklären konnte. Es hieß lediglich: „Das Arbeitsformat für beide Präsidenten soll durch die russische Seite festgelegt werden.“ Ein Krieg passte auch deshalb nicht in Lukaschenkas Pläne, weil in dieser Zeit das Referendum über Verfassungsänderungen anstand (beendet am 27. Februar), durch die die weitere Transformation seines Regimes gestalten werden sollte.

Bei der gemeinsamen Sitzung des Sicherheitsrates und des Ministerrates am 1. März teilte Lukaschenka bemerkenswerte Details der belarusischen Rolle in diesem Krieg mit, „Natürlich sollten die [nach dem Manöver – Anm. des Autors] auf dem Territorium von Belarus verbleibenden russischen Truppen [bei der Invasion – Anm. des Autors] eingesetzt werden. Und darüber wurde ich am 24. Februar um 5 Uhr morgens durch Putin informiert“. Das heißt: in letzter Minute, da der russische Präsident in einer Fernsehrede kurz vor 6 Uhr den Beginn des Krieges verkündete. Beachtet man diese Umstände, dann erhalten die weiteren Worte Lukaschenkas am 1. März einen neuen Klang: „Die russische Führung hat die Frage über unsere Teilnahme an diesem bewaffneten Konflikt nie erörtert. Wozu eigentlich? Haben sie nicht die Waffen, die wir haben? Fehlen ihnen die menschlichen Ressourcen? Die gibt es genügend. Die Fähigkeit zu kämpfen?“

Bis heute gibt es keine Beweise für eine unmittelbare Beteiligung der belarusischen Armee an dem Krieg. Die belarusische Regierung allerdings betont vorsichtig, dass obwohl die ganze Grenze unter Kontrolle des Grenzschutzes bleibe (wobei diese Grenze, die Ende der 2010er Jahre eingerichtet wurde, viel schwächer kontrolliert wird als die Grenze zum Baltikum, ganz zu schweigen von der alten sowjetisch-polnischen Grenze). Aus militärischer Sicht deckt die belarusische Armee lediglich die westliche Hälfte der 1.000 km langen Grenze (von Brest bis Masyr). Die andere Hälfte, zwischen Homel und Masyr, wird durch die russischen Armeeeinheiten gedeckt, die nach dem letzten Manöver vorübergehend geblieben sind; es sind insgesamt 10.000 Militärangehörige, einschließlich etlicher Hubschrauber und Flugzeuge.

Das belarusische Ziel: Möglichst fernbleiben

Belarus hat eine Reihe von Argumenten in der Hand, um den Kreml zu überreden, dass es besser von der Invasion fernbleiben solle. Laut Minsk brauche Belarus alle eigenen Truppen, um die Grenzen zu den NATO-Ländern stärker zu sichern. Wenn Minsk am Anfang des Krieges noch versprach, weitere fünf taktische Bataillonsgruppen an die ukrainische Grenze zu verlegen (zusätzlich zu den fünf schon anwesenden), so erklärte der belarusische Generalstabschef Wiktar Hulewitsch bereits am 12. März, es solle bei den fünf bleiben, ohne Verstärkung.

Das Minimalziel von Minsk ist jetzt, die Ausbreitung des Krieges in der Region zu vermindern. Außer allgemeiner Instabilität, wachsender internationaler Isolation und wirtschaftlichem Untergang, befürchtet die belarusische Regierung auch eine Infiltration bewaffneter radikaler Aktivisten vom ukrainischen Territorium.

Es ist kein Wunder, dass Minsk auch Anstrengungen unternimmt, um eine vermittelnde Rolle zu übernehmen oder zumindest bei der Ausarbeitung einer neuen regionalen Ordnung anwesend zu sein. Das ist nichts neues, denn die Regierung betont seit Jahren ihr Interesse an einem internationalen Dialog über Sicherheitsfragen in Europa sowie die Tatsache, dass Belarus die wichtigsten internationalen Sicherheitsverträge (Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag/INF-Vertrag, Vertrag über den Offenen Himmel) weiter befolgt, obschon führende Mächte aus diesen Vereinbarungen ausgetreten sind. Was als Kritik an den USA verstanden werden kann, ist ebenso Kritik an dem Kreml, der ebenfalls aus diesen Verträgen ausgestiegen ist.

Momentan besteht der belarusische Beitrag zur Moskauer Kriegsführung nach wie vor in einem nicht wirklich freiwilligen Laissez-faire Ansatz hinsichtlich der Bewegung russischer Truppen über belarusisches Territorium. Die Kriegspropaganda scheint meist für die Ohren des Kreml zu erfolgen, ohne wirklich die eigene Bevölkerung zu mobilisieren. Andrej Iwanou, ein bekannter belarusischer pro-Moskauer Aktivist, der z.B. zusammen mit Gleichgesinnten eine öffentliche Kampagne zur Anerkennung der Krim-Annexion leitete, beschwerte sich, dass „die belarusische Gesellschaft teilweise verdummt ist“, dass die Belarusen kein Interesse an der russischen „Spezialoperation“ zeigen und nicht an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen wollen. Andere pro-Moskauer Aktivisten waren vor kurzem auch über belarusische Behörden empört, die eine Durchführung solcher Veranstaltungen nicht begrüßen.

Stand: 15.03.2022

Lesetipps / Bibliographie

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