Belarus-Analysen

Ausgabe 63 (18.11.2022) — DOI: 10.31205/BA.063.01, S. 6–8

Die Abstimmung der EU-Sanktionsregime gegen Belarus und Russland

Von Yuliya Miadzvetskaya (Universität Tübingen)

Zusammenfassung
In Brüssel werden neue Sanktionen gegen Minsk und Moskau diskutiert. Die neuen restriktiven Maßnahmen gegen Minsk sollen nicht nur eine Antwort auf die Aufstellung eines gemeinsamen Truppenverbandes von Belarus und Russland darstellen, sondern auch verhindern, dass Russland die Sanktionen mit Hilfe von
Belarus umgeht. Allerdings birgt die zunehmende Harmonisierung der EU-Sanktionen gegen Belarus und Russland das Risiko, dass Belarus nicht als ein eigenständiges Thema der EU-Politik behandelt wird, sondern als integraler Bestandteil der EU-Agenda zu Russland. Um dies zu vermeiden, muss die EU in Bezug auf Belarus einen präziseren, strategischen und länderspezifischen Ansatz verfolgen.

Den jüngsten Informationen aus Brüssel zufolge ist es wahrscheinlich, dass Belarus unter das neunte Sanktionspaket gegen Russland fallen wird, weil es den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt, und wegen der Rolle, die das Land angeblich bei der Umgehung der Russland-Sanktionen spielt. Eine Abstimmung der Sanktionsregime gegen Belarus und Russland ist nichts Neues. Belarus unterliegt bereits Sanktionen, weil es in den Krieg Russlands gegen die Ukraine verwickelt ist.

Belarus wird seit dem 24. Februar als Mitagressor betrachtet, weil Aljaksandr Lukaschenka es erlaubt hat, dass russische Truppen belarusisches Territorium für die Invasion der Ukraine nutzen. Zuvor hatte Lukaschenka im Oktober 2022 die Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands von Belarus und Russland angekündigt, der in Belarus die Grenzen des Unionsstaates verteidigen soll. Die erwartete Ankunft von rund 9.000 russischen Soldat*innen in Belarus verschärft die stetig zunehmende Erosion der belarusischen Souveränität. Auch wenn belarusische Offizielle darauf beharren, dass der regionale Truppenverband rein defensiv ausgerichtet sei, wächst die Besorgnis hinsichtlich eines möglichen Angriffs gegen Kyjiw und der Beteiligung belarusischer Streitkräfte daran.

Der starke Mann in Belarus vollzieht anscheinend einen schwierigen Balanceakt: Er verstärkt seine militaristische Rhetorik, weigert sich aber weiterhin, inmitten der chaotischen Mobilmachung in Russland, seine Streitkräfte in die Ukraine zu entsenden. Sowohl der mangelnde Rückhalt im Innern für eine belarusische Beteiligung an Russlands Kriegs in der Ukraine, als auch drohende neue Sanktionen sind ausreichende Gründe, um Belarus vor einem derart gefährlichen Abenteuer zurückschrecken zu lassen.

Von der Demokratieförderung hin zu sicherheitsbezogenen Sanktionen

Gegen Belarus bestehen bereits beispiellose Sanktionen. Bis 2021 waren die meisten Sanktionen, die die EU gegen Belarus verhängt hat, auf eine Stärkung der Demokratie und der Menschenrechte ausgerichtet. Sie wurden als Antwort auf jede bedeutsame Wahl oder Volksbefragung verhängt, außer bei den Präsidentschaftswahlen von 2001 und 2015.

Die ersten drei Sanktionsrunden seit Oktober 2020 in Folge der Präsidentschaftswahlen verfolgten ähnliche Ziele in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte wie die früheren Sanktionen ab 2004. Sie dienten als eine Art Bestrafung für Wahlfälschungen und den anschließenden Einsatz von Gewalt. Die vierte und weitere Sanktionsrunden waren dann zum Teil durch Sicherheitsüberlegungen motiviert, nämlich durch den Zwischenfall mit der Ryanair-Maschine, die Migrationskrise, die Verschlechterung der Situation im Land und die Verwicklung von Belarus in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Während frühere Sanktionen der EU sich auf die innenpolitische Situation und die Missachtung rechtstaatlicher Prinzipien in Belarus bezogen, bedeuteten der Zwischenfall mit der Ryanair-Maschine und die Instrumentalisierung von Migrant*innen Sicherheitsrisiken für die EU und deren Bürger*innen. Das Beispiel der Sanktionen gegen Belarus illustriert, wie Sicherheit und Demokratie wesentlich zusammenhängen. Einige Maßnahmen, die zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten unternommen werden, können sich aus sicherheitsrelevanten Risiken ergeben und darauf Antworten liefern.

Bis zum russischen Krieg gegen die Ukraine hatte die EU fünf auf Belarus bezogene Sanktionspakete auf den Weg gebracht. Sie hatten 179 (jetzt 195) Personen und 25 (jetzt 35) Organisationen und sensible Bereiche der belarusischen Wirtschaft in Visier genommen, vor allem Erdöl- und Kaliprodukte. Die Neuausrichtung der belarusischen Öl- und Kaliprodukte auf alternative Märkte brachte logistische Herausforderungen mit sich, da die litauische Eisenbahn in Übereinstimmung mit den Sanktionen der USA Anfang 2022 den Transport belarusischer Düngemittel einstellte. Im März 2022 weitete die EU einige ihrer Beschränkungen gegen Russland auf Belarus aus. Genauer gesagt, setzte die EU auch 22 Beamte des belarusischen Verteidigungsministeriums auf ihre Sanktionsliste gegen Russland. Es gab auch Sanktionen gegen den belarusischen Finanzsektor, unter anderem das Verbot von Transaktionen mit der belarusischen Zentralbank und eine SWIFT-Blockade für vier belarusische Banken. Ebenso verhängte die EU Exportverbote für Dual-Use-Güter und -technologien und weitete die Importbeschränkungen in Bezug auf Belarus für folgende Wirtschaftsbereiche: Holz, Zement, Stahl und Gummi.

Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Russland die Sanktionen mit Hilfe von Belarus umgeht

Brüssel wird seine Sanktionen gegen Russland auf Belarus ausweiten, wenn letzteres nicht davon ablässt, sein Territorium für Angriffe auf die Ukraine zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus soll die Harmonisierung der Sanktionen gegen die beiden Staaten verhindern, dass Russland-Sanktionen mit Hilfe von Belarus umgangen werden. Bürger*innen Russlands können angeblich finanzielle Beschränkungen durch einen sogenannten Banktourismus nach Belarus umgehen. Es bestehen auch Befürchtungen, dass Belarus als Strohmann eingesetzt werden könnte, um einige Exportbeschränkungen gegen Russland zu umgehen.

Diese Denkweise ist legitim, angesichts der Erosion der belarusischen Souveränität infolge der Präsenz russischer Truppen auf seinem Territorium, dem Start von 28 Programmen des Unionsstaates und der Unterzeichnung des Abkommens über die Harmonisierung im Oktober 2022, das die fiskalische Autonomie von Belarus einschränkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Einbeziehung von Belarus in die Sanktionen gegen Russland eine Antwort der EU dar, die das Ziel hat, einer potenziellen Umgehung der Sanktionen durch Russland vorzubeugen und alle bestehenden Schlupflöcher zu schließen.

Die Europäische Union hat den Kampf gegen eine Umgehung der Sanktionen auf der Liste ihrer außenpolitischen Ziele ganz nach oben gesetzt. Das jüngste Sanktionspaket gegen Russland sieht nun restriktive Maßnahmen gegen jene vor, die eine Umgehung der Sanktionen unterstützen. Die EU hatte bereits in der Vergangenheit versucht, eine Umgehung von Strafmaßnahmen zu verhindern, indem Sanktionen auf Tochterstrukturen sanktionierter Organisationen oder auf Familienangehörige sanktionierter Personen ausgeweitet wurden. Gleichwohl ist die Harmonisierung von Sanktionen gegen zwei Staaten mit dem Ziel, eine mögliche Umgehung restriktiver Maßnahmen zu verhindern, ein absolutes Novum, das die territoriale Reichweite von EU-Sanktionen beträchtlich erweitert.

Eine weitere Neuerung bezieht sich auf die Kriminalisierung einer Verletzung von Sanktionen. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag unterbreitet, der eine Verletzung von Sanktionen gemäß EU-Recht als Straftat einstufen würde. Darüber hinaus hat die EU die Koordinierung von Finanzermittlungen durch die »Freeze and Seize Taskforce« und die »Operation Oscar« von Europol gestärkt. Ebenso wird diskutiert, ob es nicht möglich sein sollte, dass russische und belarusische Vermögenswerte nicht nur eingefroren, sondern auch konfisziert werden können. Das erscheint jedoch gegenwärtig kaum umsetzbar zu sein, da staatliche Vermögen Staatenimmunität genießen und die Konfiszierung von privatem Vermögen nur im Rahmen eines Strafverfahrens zulässig ist. Gleichwohl könnte der Kontext der Ausnahmesituation aufgrund des anhaltenden Krieges in Europa zu einem Anlass für weiterreichende und überraschende Maßnahmen werden.

Eine Minirevolution bei den Sanktionen: erst zielgerichtet, dann umfassend

Die veränderte Sicherheitslage hat bereits zu einer kleinen Revolution in der Sanktionspraxis der EU geführt, da diese auf dreifache Weise von »intelligenten« oder zielgerichteten Sanktionen zu umfassenderen Maßnahmen übergeht: 1) Die EU erweitert stetig die Dimensionen ihrer Sanktionen, indem die Kriterien erweitert und aktualisiert werden. Im Fall von Belarus ist das am deutlichsten am Beispiel jener Personen abzulesen, die an der Instrumentalisierung von Migrant*innen an der belarusischen Grenze zur EU beteiligt waren und auf die Sanktionsliste gerieten. 2) Die EU greift zu Sanktionen gegen verschiedene Sektoren der belarusischen Wirtschaft. 3) Die EU setzt neue Maßnahmen ein, wie beispielsweise die SWIFT-Blockade oder das jüngste Sendeverbot für russische Fernsehkanäle. Da die belarussischen staatlichen Medien die russischen Narrative zum Krieg aufgreifen, dürfte ein entsprechendes Sendeverbot nur eine Frage der Zeit sein.

Der Übergang von zielgerichteten zu weitreichenderen Sanktionen ist angesichts der dramatischen Ereignisse in der Ukraine, der Verletzung des Völkerrechts und der wachsenden Sicherheitsrisiken für die EU nachvollziehbar. Selbst wenn die EU bei ihren Sanktionierungsmaßnahmen auf die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abzielt, indem womöglich deren negative Auswirkungen abgeschätzt und abgefedert werden, lässt sich nicht leugnen, dass breitere wirtschaftliche Maßnahmen ungewollt Folgen für die Bevölkerung in Belarus haben und auch auf Bürger*innen in der EU zurückfallen könnten. Man denke nur an die Maßnahmen im Energie- und Düngemittelbereich. Die anhaltende Diskussion über die Nahrungsmittelsicherheit wirft Fragen auf, unter anderem, ob die Sanktionen gegen Kaliprodukte aus Belarus und Russland aus humanitären Gründen aufgehoben werden sollten. Die negativen Folgen der Restriktionen beim Import von Düngemitteln werden nicht nur auf hoher politischer Ebene diskutiert, sondern dienen auch als eines der Argumente vor dem Europäischen Gerichtshof.

Belaruskali hat dagegen geklagt, dass es auf die Sanktionsliste der EU gesetzt wurde, und beruft sich unter anderem auf den Umstand, dass die Sanktionen nicht zielgerichtet seien. Das Unternehmen argumentiert, dass die Sanktionserlasse der EU gegen das Prinzip der Zielgerichtetheit verstoßen, weil sie in Wirklichkeit »die Zivilbevölkerung nicht nur in Belarus, sondern in der ganzen Welt treffen«. Das ist eindeutig das erste Mal, dass der Gerichtshof diesen speziellen Vorwurf hinsichtlich der Zielgerichtetheit von Sanktionen zu verhandeln hat. Und etwas mehr Klarheit bei diesem Konzept wäre sehr zu begrüßen.

Fazit

Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, die EU habe ihre außenpolitischen Ziele hinsichtlich Belarus mit den Sanktionen in der Vergangenheit nicht erreicht. Die EU kann auf eine lange Geschichte ihrer Sanktionen gegen Belarus zurückblicken. Die ersten Maßnahmen wurden 1996 als Reaktion auf das Referendum verabschiedet, das den belarusischen Präsidenten mit einer größeren Machtfülle ausstattete.

Seit 2004 und bis heute haben die Beziehungen zwischen Belarus und der EU verschiedene Zyklen erlebt, in denen Sanktionen verhängt wurden und die Zusammenarbeit dann nach einiger Zeit im Gegenzug für eine Freilassung politischer Gefangener wieder aufgenommen wurde. Die EU hat es nie vermocht, irgendwelche bedeutsamen Zugeständnisse von Minsk zu erwirken, die zu einer Transformation des politischen Systems in Belarus führen würden.

Sanktionen sind ein wichtiges außenpolitisches Instrument der EU, doch bleibt ihr Potenzial begrenzt, die gewünschten Verhaltensänderungen zu erzielen. Angesichts einer zunehmenden Harmonisierung der EU-Sanktionen gegen Belarus mit jenen gegen Russland besteht das Risiko, dass Belarus nicht als ein eigenständiges Thema der EU-Politik behandelt wird, sondern wie ein integraler Bestandteil der EU-Agenda zu Russland. Um dies zu vermeiden, sollte die EU in Bezug auf Belarus einen präziseren, strategischen und länderspezifischen Ansatz verfolgen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

https://www.laender-analysen.de/belarus-analysen/54/die-antwort-der-eu-auf-die-krise-in-belarus-solidaritaet-oder-untaetiges-zusehen/

Zum Weiterlesen


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS