Belarus-Analysen

Ausgabe 68 (30.11.2023) — DOI: 10.31205/BA.068.02, S. 6–10

Von der Zensur zum Kampf um Wählerstimmen:
 Wie das Regime in Belarus mit sozialen Netzwerken arbeitet

Von Alesia Rudnik (Zentrum für neue Ideen, Warschau)

Zusammenfassung
Autoritäre Regime versuchen, die eigene Stabilität mit unterschiedlichen Mitteln zu gewährleisten: durch Repressionen, Zensur oder Säuberung des zivilgesellschaftlichen und politischen Raumes. Für viele Regime besteht das Hauptziel jedoch nicht darin, nur zu bestehen, sondern die Legitimität sichtbarer zu machen. In einer Zeit, in der sich die sozialen Netzwerke schnell entwickeln, in der der öffentliche Raum für alternative Meinungsäußerungen größer geworden ist, greifen Autokraten für ihre Zwecke auf den Einsatz digitaler Plattformen zurück. Das Regime in Belarus ist hier keine Ausnahme, stellt aber einen interessanten Fall dar. An ihm kann der Übergang von den Repressionen als Reaktion auf die Proteste 2020 hin zu einem proaktiven Kampf um die Wählerschaft nachverfolgt werden. Der Beitrag untersucht, wie und zu welchem Zweck das Regime in Belarus die digitalen Plattformen Telegram und TikTok nutzt.

Wie setzt das Regime in Belarus »oppositionelle« Plattformen für sich ein?

2020 wurde Telegram zu einer der zentralen Kommunikationsplattformen, mit deren Hilfe die Arbeit der Freiwilligen der zivilgesellschaftlichen Kampagne »ByCovid« koordiniert wurde. Die sollte das medizinische Personal und die Bevölkerung während der Pandemie unterstützen. Telegram kam auch bei den Wahlkämpfen von Wiktar Babaryka, bei den Wahlbeobachtungsinitiativen von »Honest People« und bei der alternativen digitalen Stimmauszählung von »Golos« zum Einsatz. Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes waren diejenigen Telegram-Kanäle am populärsten, die über die Wahlkämpfe der oppositionellen Kandidat*innen berichteten, vor möglichen Blockaden des Internets warnten und über Methoden informierten, mit denen man diese umgehen kann. Die großen Telegram-Kanäle begannen am Vorabend des Wahltages, von möglichen Wahlfälschungen zu berichten und die Leute dazu aufzurufen, die Verkündung der Wahlergebnisse vor Ort in den Wahllokalen abzuwarten. Der Wahltag entwickelte sich auf organische Weise zu einer Mobilisierung der Belarus*innen auf den Straßen des Landes. In diesem Moment wandelte sich die Rolle der großen Telegram-Kanäle wie NEXTA (»Jemand«), «Belarus holownoho mosga« (»Belarus des Gehirns«), »Maja kraina Belarus« (»Mein Land Belarus«) und die schnell populärer werdenden lokalen Kanäle (Bresz97, Hrodna97, Homel97 usw.). Sie koordinierten und mobilisierten nun die Belarus*innen. Von da an füllten auch unabhängige Medien, oppositionelle Politiker*innen, Aktivist*innen und spontan organisierte »Compunities« von Bürger*innen die Telegram-Kanäle mit einer regimekritischen Agenda und entsprechenden Narrativen.

Nach Angaben von »Netobservatory« haben die Behörden in Belarus in den ersten drei Tagen der Proteste über 150 Millionen IP-Adressen blockiert und damit für rund 80 Prozent der belarusischen Bevölkerung den Zugang zum Internet gesperrt. Diese Maßnahme kam das Regime in Belarus recht teuer zu stehen, sowohl im direkten wie im übertragenen Sinne. Zum einen kostete die dreitägige Abschaltung des Internest mit Hilfe der DPI-Technologie des US-amerikanischen Unternehmens »Sandvine« Schätzungen zufolge mindestens 57 Millionen US-Dollar. Zweitens ist es dem Regime nicht gelungen, den Zugang zum Internet vollständig zu unterbinden. Und eine der Plattformen, die weiterhin funktionierten (wenn auch mit Unterbrechungen und über VPN) war Telegram. Dadurch gelangten Millionen Belarus*innen auf die eine oder andere Weise auf der Suche nach Informationen zur Plattform Telegram. Als das Internet wieder eingeschaltet wurde, nutzten bereits Millionen Belarus*innen die Plattform, und zwar nicht nur für direkte Kommunikation zur Koordinierung der Proteste, sondern auch, um alternative Nachrichten zu lesen.

Telegram hat auf organische Weise die Assoziation von einer regimekritischen Plattform erzeugt. Daher haben Forscher*innen die Proteste in Belarus auch als »Telegram-ed Revolution« bezeichnet und der Plattform eine zentrale Rolle für die sehr wichtige Kommunikation innerhalb der Protestbewegung zugeschrieben. Auf jeden Fall wandten sich die Belarus*innen auf der Suche nach einer alternativen medialen Agenda an Telegram-Gruppen und -Kanäle.

Als sich die Proteste entfalteten, ließ sich die Präsenz regimefreundlicher Akteure auf der Plattform höchstens durch ein Ausspionieren von Führungspersonen der Proteste auf nationaler oder lokaler Ebene erklären. Nach einigen Monaten tauchten allerdings auf Telegram auch verschiedene Kanäle regimefreundlicher Stimmen auf. So registrierte beispielsweise Ryhor Asaronak, einer der notorischen Sprecher*innen des Regimes im Dezember 2020 dort seinen Kanal. Ihar Tur, ein anderer Moderator propagandistischer Programme im staatlichen Fernsehen, tat das im Juli 2021. Heute nutzt fast jede staatliche Behörde (angefangen von städtischen Exekutivkomitees bis hin zu den Kammern des Parlaments) Telegram als Alternative zu Internetauftritten und veröffentlichen dort Presseerklärungen über ihre Tätigkeit sowie ideologische Publikationen. Außerdem ist zu beobachten, dass es eine Zunahme propagandistischer Kanäle von Einzelpersonen gibt, deren Rhetorik auf eine offene Unterstützung des Regimes abzielt.

Dadurch wird Telegram – anders als 2020 – nicht mehr ausschließlich als Plattform wahrgenommen, die im belarusischen Segment des Internet regimekritische Inhalte verbreitet. Regimefreundliche Akteure nutzen nun die Plattform ganz ungezwungen, um ihre alternative Agenda voranzutreiben.

Die Chronologie des regimefreundlichen Segments auf TikTok unterscheidet sich hiervon. Anders als bei Telegram hatten oppositionelle Kräfte diese Plattform 2020 nicht als zentrales Koordinationsmittel für die Proteste und als Kanal für ihre Narrative genutzt. Dem Regime ist jedoch bewusst, dass die Kommunikation mit den Bürger*innen eines Landes, in dem die Internetnutzung zunimmt, sich unter anderem auf neue und wachsende Plattformen stützen muss. TikTok ist eine davon. Die Plattform ist das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk in Belarus. Heute nutzen rund 38 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre TikTok. Zum Vergleich: Instagram nutzen 46 Prozent und Facebook nur 9 Prozent. Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Strategien der regimefreundlichen Stimmen bei der Nutzung von Telegram und TikTok.

Strategien der regimefreundlichen Stimmen auf Telegram und TikTok

Im Rahmen einer gemeinsamen Studie des »Zentrums für neue Ideen« und der »Friedrich-Ebert-Stiftung« zur Digitalisierung des prodemokratischen Widerstands in Belarus hat das Forschungsteam des Zentrums für neue Ideen ein Monitoring des prodemokratischen und des regimefreundlichen Segments bei TikTok und Telegram durchgeführt. Über 12 Wochen hinweg, von Mai bis Juli 2023 wurde beobachtet, wie und wofür des Regime Telegram und TikTok einsetzt. Die Aufmerksamkeit galt Tausenden Videos und Publikationen von jeweils 35 Telegram-Kanälen und TikTok-Accounts sowie Tausende Videos unter 30 regimefreundlichen Hashtags. Das wichtigste Fazit des Monitorings besteht darin, dass sowohl Telegram wie auch TikTok in hohem Maße regimefreundliche Agenden beherbergen. Regimefreundliche Akteure nutzen die Plattformen als Arena für ihre öffentlichen Erklärungen, für Reaktionen auf Ereignisse in anderen Ländern, zur Diskreditierung ihrer politischen Opponenten und zur Verbreitung ihrer Narrative.

Der wichtigste Unterschied besteht darin, auf welche Weise das Regime Telegram TikTok nutzt, was in der Struktur und in den Möglichkeiten der jeweiligen Plattform begründet ist. So überwiegen etwa bei Telegram Textnachrichten, im Format von Analysen und der Erörterung von Nachrichten durch populäre Akteure. Gleichzeitig überwiegen bei TikTok Inhalte, die von individuellen Nutzern produziert wurden, als Videos mit kurzen Überblicken zu konkreten, eng gefassten Themen. Das ist in der Struktur von TikTok angelegt. Die Plattform bietet keine Möglichkeit, längere Textdokumente zu veröffentlichen. Gewöhnlich sprechen die Nutzer*innen in die Kamera. Außerdem kann jeder individuelle Nutzer auf TikTok populär werden, der angesagte Musik, Filter und Hashtags verwendet, weil nämlich die Algorithmen Inhalte bevorzugen, die als aktuell eingestuft werden. Bei Telegram erfolgt die Förderung von Kanälen über eine Verknüpfung von Posts und Weiterleitungen von einem Kanal zum anderen. Auf diese Weise wird jeweils die Reichweite der Inhalte auf den beiden Plattformen bedingt. Wenn wir im Fall von Telegram im Schnitt von Tausenden Views einer Publikation sprechen, erreichen die populären regimefreundlichen Videos auf TikTok Tausende oder gar Millionen Viewer. Und einige Hashtags, unter denen Videos gepostet werden, erreichen Milliarden Views. Zu diesen »milliardenschweren« Hashtags gehören #лукашенко (#lukaschenko; 6,2 Mrd. Views) und #забеларусь (#fürbelarus;154 Mio.). So erreichte der Hashtag #lukaschenka während des Monitoringzeitraums 500 Millionen zusätzliche Views und wurde an rund 5.000 neue Videos angehängt.

Gestützt auf die Daten des Monitorings lassen sich einige Hauptaspekte des Einsatzes von Online-Plattformen durch das Regime beschreiben.

1. Diskreditierung politischer Opponenten

Ein großer Teil der Inhalte von regimefreundlichen Kanälen entfällt auf Diskussionen über Krisen in den Reihen politischer Opponenten und des belarusischen demokratischen Kräfte. So haben regimefreundliche Nutzer auf Telegram im Sommer die Spaltung in der Organisation ByPol diskutiert, einer Organisation emigrierter ehemaliger Sicherheitskräfte. In der Folge waren daraus zwei neue Organisationen entstanden, ByPol und BelPol. Die regimefreundlichen Nutzer*innen begründeten das mit einer angeblichen »Unterschlagung von Budgetmitteln«, einer »Finanzierung von Zichanouskaja durch den Westen« und dem Vorwurf an demokratische Politiker*innen, sie hätten die Belarus*innen für ihre persönlichen Zwecke manipuliert und ausgenutzt. Die Strategie der Diskreditierung politischer Gegner*innen überwiegt bei Telegram und nutzt oft eine aggressive Rhetorik, vulgäre Ausdrücke oder Hassrede. Das Forschungsteam hob hervor, dass vor dem Hintergrund dieses Kommunikationsstils die Äußerungen von Lukaschenka und anderer Politiker*innen des Regimes nicht mehr ganz so radikal erscheinen. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass die regimefreundlichen Nutzer*innen unter politischen Opponent*innen nicht nur die demokratischen Kräfte verstehen, sondern auch die EU-Staaten und die USA. Im Fokus der Telegram-Nutzer*innen standen die Wahlen in Polen sowie Proteste in Frankreich und den USA. Besondere Aufmerksamkeit galt der Interpretation politischer Ereignisse in westlichen Ländern durch das Prisma »gescheiterter Staat«, in dem die Regierung angeblich nicht in der Lage sei, die Migrationsströme und die Unzufriedenheit der Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen.

2. Konzentration der Inhalte auf ideologische Narrative

Den meisten Inhalten, die über regimefreundliche Kanäle und Profile verbreitet werden, liegt die Strategie zugrunde, die eigenen ideologischen Narrative zu transportieren. Fasst man die Beobachtungen zu den ideologischen Pfeilern der regimefreundlichen Inhalte zusammen, so wird Belarus dort als ein Nachfolgestaat des Russischen Reiches und der Sowjetunion mit einem hohen Grad an Unabhängigkeit dargestellt. Das Land unterhalte freundschaftliche Beziehungen zu Russland, sei nicht durch westliche Werte von Freiheit verdorben, verfüge über eine starke Wirtschaft und Verteidigungsfähigkeit. Das derzeit herrschende Regime, die große russische Kultur und der orthodoxe Glaube würden geachtet. Ideologische Narrative durchziehen oft auch die Videos regimefreundlicher Nutzer auf TikTok. So sind beispielsweise unter den Hashtags »#sabelarus« und »#ямыбатька« (»#ichwirbatka«; Batka ist ein Spitzname von Lukaschenka; d. Red.) Erklärvideos zu finden, in denen die weiß-rot-weiße Flagge als Erbe des Nazismus und die lateinbasierte belarusische Schrift als Folge einer Polonisierung der belarusischen Länder bezeichnet wird. Eine besondere Rolle kommt in den ideologischen Narrativen der Religion zu. Anders als das belarusische staatliche Fernsehen sind die sozialen Netzwerke mit Skizzen zur Rolle der orthodoxen Kirche in Belarus überfüllt. Die Werte der Orthodoxie werden in einen Kontrast zur westlichen Kultur gesetzt und als einziger, richtiger Weg für die Entwicklung von Belarus dargestellt.

3. Kontextualisierung der Ereignisse in Belarus mit dem Krieg in der Ukraine

Der Krieg in der Ukraine fungiert als Prisma zur Analyse der politischen Ereignisse innerhalb und außerhalb von Belarus. Die regimefreundlichen belarusischen Nutzer*innen kritisieren die Regierung der Ukraine für deren »Verrat am eigenen Volk und an den slawischen Brüdern«, loben die Absichten Putins zur »Befreiung und Entnazifizierung der Ukraine« und werfen den demokratischen Kräften vor, die Ukraine zur eigenen Bereicherung öffentlich zu unterstützen, und damit den eigenen politischen Status aufwerten zu wollen. Dabei erinnern regimefreundliche Nutzer*innen beim Thema Krieg an die Stabilität in Belarus, die als persönliche Leistung Lukaschenkas dargestellt wird. Besonders deutlich war diese Tendenz vor dem Hintergrund der Meuterei von Jewgenij Prigoschin im Juni 2023 und der Abmachungen über eine Verlegung der Wagner-Gruppe nach Belarus. Die öffentlichen Propagandist*innen in Belarus haben die Situation um die Meuterei zwar vorsichtig beschrieben – wobei mal Putin glorifiziert, mal die Hoffnungen auf einen Sieg im Krieg unter Prigoschins Führung gesetzt werden –, doch wurde die »friedensstiftende« Rolle Lukaschenkas in den regimefreundlichen Kanälen unisono lobgepriesen. Narrative dieser Art dominieren in erster Linie in den regimefreundlichen Kanälen auf Telegram. Allerdings sind im Kontext des Krieges in der Ukraine mildere Formate der belarusischen Agenda auch bei TikTok zu finden. So veröffentlichen z. B. die die Kanäle des Innenministeriums und einiger individueller Nutzer*innen kurze Videos, in denen Angehörige der russischen Streitkräfte als Helden auftreten, die fähig sind, ihre Heimat bei potenzieller Gefahr zu verteidigen. Solche Videos zeigen in der Regel eine Gruppe von Militärs, die Parolen über die Bereitschaft zur Verteidigung von Belarus rufen sowie patriotische sowjetische Lieder und die offizielle belarusische Hymne singen.

4. Unterstützung regimefreundlicher Führungspersonen über eine Objektivierung und Romantisierung

In regimefreundlichen Telegram-Kanälen erscheint Lukaschenka als einzig möglicher Herrscher sowie als Garant der Unabhängigkeit und Entwicklung von Belarus. Leistungen auf lokaler und nationaler Ebene – von einer guten Ernte in einer Kolchose bis hin zu gestiegenen Löhnen und Gehältern – werden in den Augen regimefreundlicher Nutzer*innen als persönlicher Verdienst Lukaschenka zugeschrieben. Bei TikTok ist ein weniger deutlicher Fokus auf Lukaschenka zu beobachten. Auf dieser Plattform nimmt allerdings Lukaschenkas Sohn Mikalaj den Platz eines erfolgreichen und Hoffnung spendenden Politikers ein. Bei TikTok finden sich Tausende Videos mit großen Klickzahlen, die berichten, wie sich Mikalaj Lukaschenka von einem Kind zu einem jungen Erwachsenen entwickelt habe, der Eishockey spielt und bei wichtigen politischen Treffen zugegen ist. Verschiedene visuelle Darstellungen von Mikalaj werden oft von romantischer Musik, Inschriften zur Beschreibung seines Äußeren, sowie von Kuss- und Herzchen-Emojis begleitet. Da es diese Videos auf TikTok zu Tausenden gibt, und ein Teil davon von staatlichen Accounts verbreitet wird, und nicht von individuellen Nutzer*innen, lässt sich das als Werbung für die Figur Mikalaj Lukaschenka mittels Romantisierung betrachten.

Abschließend lässt sich hervorheben, dass die Strategien der regimefreundlichen Akteure viel breiter gestreut sind, was eine längere Untersuchung erfordert. Allerdings ist bereits jetzt offensichtlich, dass das Regime in Belarus Kurs auf eine stärkere Präsenz auf digitalen Plattformen genommen hat, die von Belarus*innen im In- und Ausland genutzt werden.

Warum wechselt das Regime zu populären digitalen Plattformen?

Das Regime in Belarus ist nicht das einzige, das digitale Plattformen nutzt, und zwar nicht nur zur Identifizierung und Zensierung von Dissident*innen, sondern auch als zusätzliche Plattform zur Gestaltung seiner Narrative. Daher lässt sich – gestützt auf wissenschaftliche Untersuchungen autoritärer Regime – die zunehmende Präsenz regimefreundlicher Narrative und die Bevölkerung von einst »regimekritischen« Plattformen mit regimefreundlichen Nutzer*innen durch eine Reihe von Faktoren erklären.

  • Wie demokratische Regime haben auch autoritäre Regime einen Bedarf nach Legitimität. Und sei es nur eine scheinbare. Das ist (unter anderem) der Grund, warum die meisten autoritären Regime Ressourcen einsetzen, um Wahlen abzuhalten, mit Hilfe von GONGOs (staatlich kontrollierte Organisationen, die den Anschein einer aktiven Bürgerbeteiligung erwecken) den Anschein eines funktionierenden zivilgesellschaftlichen Sektors zu wecken und ein gewisses Maß an Meinungsfreiheit zuzulassen. Das macht es möglich, seine Position als moderner Staat zu stärken, mit dem man versuchen kann, sich auf internationaler Bühne zu einigen. Legitimierungsversuche in sozialen Netzwerken zielen darüber hinaus auf die Generierung eines scheinbaren Rückhalts in der Bevölkerung ab. Das ist auch der Grund, warum autoritäre Führer oft auf propagandistische Kampagnen zurückgreifen und sich vor Wahlen die Unterstützung durch Blogger*innen und Medienprominenz erkaufen. Indem sie Ressourcen für proaktive Online-Aktivitäten einsetzen, hoffen autoritäre Regime, einen Teil der Wählerschaft für sich zu gewinnen, was es ermöglichen würde, den Aufwand für Repressionen und Wahlfälschung zu reduzieren.
  • Die Schaffung des Anscheins eines gesellschaftlichen Rückhalts und die Gestaltung grundlegender Narrative im digitalen Raum befördert die Mobilisierung und Konsolidierung der politischen Eliten, die sich um eine gemeinsame Vision von der Entwicklung des Landes scharen sollen. Zudem hilft diese Technologie bei der Filtration der bereits ins System eingebundenen Beamten. Falls die Beobachtung zutrifft, dass der Einsatz von Telegram durch sämtliche staatliche Behörden auf einen Befehl von oben zurückgeht, hat das Regime den Bedarf nach einer öffentlichen Demonstration der Loyalität durch politische Eliten und Beamte.

Jedenfalls schafft die Präsenz des Regimes auf populären digitalen Plattformen gewisse Herausforderungen für prodemokratische Nutzer*innen. Beim Kampf um das Publikum, also die politische Wählerschaft, müssen die demokratischen Kräfte für ihre Reaktion Ressourcen aufwenden: für Anträge auf die Sperrung propagandistischer Kanäle, für die Produktion von Videos, für die Entlarvung von Mythen, die das Regime verbreitet, für die Stärkung der eigenen Medienpräsenz auf digitalen Plattformen… Angesichts der ungleichen Möglichkeiten, Einfluss auf die politische Situation in Belarus zu nehmen, zwingt die verstärkte digitale Präsenz des Regimes die demokratischen Kräfte, neue Kompetenzen zu erlangen und neue Ressourcen für die mediale und politische Auseinandersetzung zu erschließen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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