Belarus-Analysen

Ausgabe 75 (29.11.2024) — DOI: 10.31205/BA.075.01, S. 2–6

Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition

Von Boris Ginzburg (Freie Universität Berlin)

Zusammenfassung
Nachdem das Lukaschenka-Regime im Februar 2022 den Kreml bei seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine logistisch unterstützt hatte, wäre es erwartbar gewesen, wenn die Ukraine auf eine engere Zusammenarbeit mit der belarusischen (Exil-)Opposition gesetzt hätte. Doch obwohl beide Seiten nun dasselbe Feindbild hatten, ist dies nicht geschehen. Im Gegenteil: Kyjiw vermeidet sogar, mit der belarusischen Exilopposition rund um Swjatlana Zichanouskaja assoziiert zu werden. Woher kommt Kyjiws strategische Distanz zur belarusischen Opposition?

Die Wahl des belarusischen Kooperationspartners

Mitte Oktober 2022 wurde die ukrainische Onlinezeitung »Ewropejska Prawda« zum Austragungsort einer lebhaften Debatte. Thema war der Umgang des offiziellen Kyjiws mit der belarusischen Exilopposition und dem Lukaschenka-Regime seit dem vollumfänglichen russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022, in welchem Minsk als Ko-Aggressor agiert hat. Als Hauptkontrahenten der Diskussion fungierte auf der einen Seite der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit, Bohdan Jaremenko[1], auf der anderen Seite stand der Redakteur der »Ewropejska Prawda«, Jurij Pantschenko[2].

Jaremenko vertrat die Position, dass es für Kyjiw angebracht sei, auf belarusische Akteur:innen zu setzen, die eine reale Bedrohung für das Lukaschenka-Regime darstellen würden. Die belarusische Exilopposition rund um ihre Anführerin Swjatlana Zichanouskaja müsse hingegen als ineffektiv und kraftlos angesehen werden. Dies sei unter anderem ihrem Exil und der daraus resultierenden fehlenden Einflusskanäle auf die belarusische Innen- und Außenpolitik geschuldet. Folglich müsse Kyjiw deshalb verstärkt das sogenannte »Kastus-Kalinouski-Regiment (KKR)« fördern. Diese paramilitärische Gruppe – bestehend aus Exilbelarus:innen – kämpft als Bestandteil der ukrainischen Streitkräfte gegen Russlands Armee. Die Aufgabe Kyjiws sei es daher, so Jaremenko, das KKR von einer militanten Gruppierung zusätzlich in eine politische Partei zu transformieren.

Im Gegensatz dazu argumentierte Pantschenko, dass der von Jaremenko vorgeschlagene Ansatz nicht ausreichend durchdacht sei. Er berge das Risiko, der belarusischen Autokratie unbewusst in die Karten zu spielen. Denn er habe drei inhärente Schattenseiten: Erstens, das offizielle Kyjiw könne hierdurch die belarusische Exilopposition (zu denen Pantschenko sowohl den politischen Flügel der belarusischen Opposition – das Übergangskabinett unter Leitung von Zichanouskaja, den Koordinierungsrat – als auch den bewaffneten Flügel – das KKR – zählt) weiter spalten und somit schwächen. Zweitens, dies könne fatale Implikationen auf die zukünftigen Beziehungen zwischen der Ukraine und eines post-Lukaschenka Belarus haben. Die Belarus:innen könnten dies nämlich als ein Aufzwingen eines bestimmten politischen Modells bzw. Einmischung von außen auffassen. Dies ähnele der Außenpolitik des russländischen Aggressors gegenüber dem »nahen Ausland«. Daraus folge, drittens, ein internationaler Imageschaden für die Ukraine. Vor allem in den westlichen Demokratien seien die ukrainischen Soft Power-Kapazitäten seit Beginn des ukrainischen Verteidigungskrieges im Februar 2022 stark gestiegen. Diesen Vorteil dürfe man nicht einfach riskieren zu verlieren, so Pantschenko.

Diese Debatte liegt nun zwei Jahre zurück. Durch aufmerksame Beobachtungen der Kyjiwer Belarus-Politik kann festgehalten werden, dass sich der Jaremenko-Ansatz (nicht in allen, so doch) in vielen Aspekten der ukrainischen Außenpolitik durchgesetzt hat. Doch wie genau sieht die Politik Kyjiws gegenüber der belarusischen Opposition aus? Und auf welchen Grundlagen beruht sie?

(Zu) Späte Abwendung vom Kreml

Schon während der Massenproteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 blieb in Kyjiw nicht unbemerkt, dass sich selbst führende belarusische Oppositionelle nicht vom Kreml distanzierten. Im Gegenteil, diese versuchten, Moskau nicht gegen sich aufzubringen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Proteste einen anti-Kreml Charakter haben könnten. Es war auch ein präventives Bemühen der demokratischen Kräfte in Belarus, Moskau davon abzuhalten, sich an der Niederschlagung der Proteste zu beteiligen, wozu Wladimir Putin im September 2020 seine Bereitschaft erklärt hatte. So äußerte sich Zichanouskaja lange Zeit nur äußerst vage zum Thema Krim-Annexion. Die Krim sei »de jure ukrainisch« aber »de facto russisch«, so Zichanouskaja im September 2020. Logischerweise ist diese Aussage in Kyjiw kritisch aufgefasst worden. Der damalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba riet deshalb Zichanouskaja im Dezember 2020, ihre Aussagen zur ukrainischen territorialen Integrität ab sofort »genauer« zu formulieren.[3]

Auch andere führende belarusische Oppositionelle zu dieser Zeit hatten einen eher gemischten Ruf in der Ukraine. Dem ehemaligen Chef der »Belgazprombank« – einer Tochtergesellschaft des vom Kreml kontrollierten Energiekonzerns »Gazprom« – und späteren Präsidentschaftsanwärter Wiktar Babaryka, wurde oft eine Verbindung zum Kreml nachgesagt, ohne dass es dafür jedoch ernsthafte Beweise gibt. Seit Juni 2020 sitzt Babaryka jedoch als politischer Gefangener in belarusischer Haft (ein Indiz für das schwierige Verhältnis zwischen Lukaschenka und Putin).

Erst nach Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022, welcher von Swjatlana Zichanouskaja und ihrer Anhängerschaft scharf verurteilt worden ist, nahmen die belarusischen Demokratiekräfte im Exil allmählich eine klare Haltung gegen Moskau ein. Diese politische Kursänderung traf aber nicht auf Reziprozität seitens Kyjiws.

Die fehlende Differenzierung der politischen Systemumstände

Die innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine sind ebenso relevant. Sowohl 2004/05 als auch 2013/14 gelang es der ukrainischen Zivilgesellschaft bekanntermaßen erfolgreich, gegen ihre politischen Eliten zu protestieren.

Sobald das offizielle Kyjiw oder auch »einfache« Ukrainer:innen auf die Opposition in Belarus angesprochen werden, lässt sich oft Unverständnis für die angebliche Machtlosigkeit der Oppositionsbewegung heraushören – schließlich hätten die Menschen in der Ukraine ja schon zweimal erfolgreich bewiesen, dass Massenproteste Machtwechsel bewirken können.

Wenn der außenpolitische Berater des ukrainischen Präsidenten Mychajlo Podoljak auf X/Twitter[4] das Nobelpreiskomitee dafür kritisiert, dass der Friedensnobelpreis 2022 nicht nur an das ukrainische »Zentrum für bürgerliche Freiheiten« verliehen wird, sondern zusätzlich an den belarusischen inhaftierten Menschenrechtler Ales Bjaljazki und die russische Menschenrechtsorganisation »Memorial«, wirkt das auf viele wie eine Art Überlegenheitsgefühl.

Ein solches Auftreten ist aber vor allem aus folgendem Grund problematisch: Im Gegensatz zur Ukraine waren im belarusischen politischen System keine oppositionellen Akteur:innen und Parteien verankert, die – wie in der Ukraine – im Kontext zentraler innenpolitischer Wandlungsprozesse in der Lage gewesen wären, ihre Anhängerschaft effektiv gegen die Regierung zu mobilisieren. Podoljaks Rhetorik ignoriert daher den politischen Kontext, denn es gibt große systemische Unterschiede zwischen der »defekten Demokratie« in der Ukraine und der personalistischen Autokratie in Belarus, was direkte Auswirkungen auf die Mobilisierungskapazitäten der Oppositionskräfte hat.

Aufbau eines politischen Profils der bewaffneten belarusischen Exilopposition

Die Ukraine fokussiert ihre Politik eher auf diejenigen Akteure der belarusischen Opposition, die aus ukrainischer Sicht nicht nur rhetorisch Kritik äußern, sondern auch militärisch agieren. Gemeint ist vor allem das bereits erwähnte »Kastus-Kalinouski-Regiment« mit bis zu 1.500 Soldaten, welches seit März 2022 an der Seite Kyjiws gegen Russland kämpft.

Interessant ist hier, wie die Ukraine versucht das KKR – wie im Jaremenko-Ansatz gefordert – nicht nur in ihrer militärischen Form, sondern auch politisch zu etablieren. So veranstaltet das offizielle Kyjiw (unter der Ägide des Militärgeheimdienstes HUR) in regelmäßigen Abständen »Konferenzen« der belarusischen Exilopposition (beider Flügel) auf seinem Territorium. Die letzte Zusammenkunft dieser Art verlief unter dem Namen »Der Weg zur Freiheit« in Kyjiw im November 2023. Ziel ist es hier offenbar, dem KKR ein »demokratisches« Gesicht in der Öffentlichkeit zu verleihen. Reputationsbelastend für das KKR ist nämlich, dass einzelne ihrer Mitglieder ihren Ursprung in rechtsnationalen Kreisen hatten. Zwar werden die Führungspersonen der Exilopposition – wie Zichanouskaja – nicht explizit ausgeladen, aber auch nicht offiziell eingeladen. Dementsprechend haben Mitglieder aus Zichanouskaja’s Team bei der Konferenz in Kyjiw mehrfach signalisiert, dass jegliche unterschriebenen Vereinbarungen zwischen beiden Oppositionsflügeln keine rechtliche Bindung hätten. Hierfür müssten führende Politiker:innen aus der belarusischen Exilopposition anwesend sein – gemeint war vor allem Zichanouskaja.

Diese betonte in mehreren Interviews, sie sei jederzeit bereit, nach Kyjiw zu reisen. Jedoch erfordere ihr zufolge das diplomatische Etikett, dass Kyjiw ihr als gewählte belarusische Volksvertreterin eine offizielle Einladung zusende. Dieser Forderung kam die Ukraine bisher nicht nach. Denn das wiederum könnte in Minsk als Kyjiws indirekte Anerkennung Zichanouskajas als belarusische Präsidentin gedeutet werden. Es ist somit nicht verwunderlich, dass es bisher kein offizielles bilaterales Treffen zwischen Zichanouskaja und Selenskyj gab. Das letzte sporadische Aufeinandertreffen erfolgte bei der letzten Zusammenkunft der »Europäischen Politischen Gemeinschaft« in Großbritannien im Juli 2024. Wie auch beim ersten zufälligen Treffen bei der Aachener Karlspreis-Verleihung im Mai 2023 begrüßten sich beide nur kurz per Handschlag. Während Zichanouskajas Team Aufnahmen vom ersten Aufeinandertreffen in ihren Social-Media-Kanälen teilte, war das auf ukrainischer Seite aufgrund realpolitischer Motive nicht der Fall.

Der »Don’t lose Luka«-Ansatz

Mit dem »Don’t lose Luka«-Ansatz könnte man das – basierend auf realpolitischen Erwägungen – bis heute zu beobachtende selektive Engagement Kyjiws mit dem Lukaschenka-Regime beschreiben. Ziel ist hierbei, Lukaschenka nicht endgültig an den Kreml zu verlieren. Hauptmotive hierfür sind politische, humanitäre und ökonomische Aspekte. Aus Platzgründen wird dieser Aufsatz nur die politischen Motive kurz beleuchten. Sie verdeutlichen, warum das offizielle Kyjiw es meidet, zu sehr mit den belarusischen Demokratiekräften assoziiert zu werden. Zur selben Zeit stellt dieser außenpolitische Ansatz auch die wichtigste Änderung im beschriebenen Jaremenko-Konzept dar. Denn dort war von einem partiellen und parallelen Engagement Kyjiws mit dem Lukaschenka-Regime nicht die Rede.

Seit der Maidan-Revolution 2013/14 und der darauffolgenden ersten Invasion des Kremls in die Ukraine operierte Minsk als Austragungsort für die Vermittlungsbemühungen zwischen Kyjiw und Moskau. Dies erlaubte Lukaschenka, nicht nur Reputationsgewinne innerhalb der westlichen Staatenwelt zu machen. Er erntete zugleich innerhalb der ukrainischen Gesellschaft Lorbeeren. Der belarusische Autokrat genoss in der Ukraine vor 2022 lange Zeit hohe Zustimmungswerte bei den Ratings der beliebtesten ausländischen Politiker:innen. Das war auch seiner Ablehnung zu verdanken, die russländische Krim-Annexion anzuerkennen. Eine zu große Nähe Kyjiws zu Zichanouskaja und Co. barg somit vor der russischen Vollinvasion die Gefahr, die »Kommunikationsplattform Minsk« zu gefährden und im schlimmsten Fall Lukaschenka im Konflikt zwischen Kyjiw und Moskau dadurch endgültig auf die Seite Russlands zu treiben.

Am 29. Juli 2020, nur wenige Tage vor den manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August 2020, nahmen zudem belarusische Sicherheitskräfte in Minsk 33 Söldner der privaten russischen Söldnertruppe »Wagner« fest. Diese seien angeblich vom Kreml mit dem Ziel der Destabilisierung der innenpolitischen Lage in Belarus beauftragt worden. Auch wenn dieser Vorwand womöglich ausgedacht war, war und ist es ein weiteres Indiz für die konfliktreiche Beziehung zwischen Lukaschenka und Putin. Es gibt aber zugleich bis heute Gerüchte darüber, dass Lukaschenka hier in eine laufende Operation des ukrainischen Geheimdienstes interveniert hat. Das Ziel soll gewesen sein, die Söldner – denen Kyjiw Kriegsverbrechen im Donbas vorwarf – nach einem Zwischenstopp in Belarus in die Ukraine zu bringen und diese dort vor ein Gericht zu stellen. Fakt ist, dass die Ukraine (letztendlich vergeblich) sich um eine Auslieferung der Söldner bemühte.

Doch dieses Unterfangen und der »Don’t lose Luka«-Ansatz standen mit der ausgebrochenen Protestwelle in Belarus 2020 plötzlich vor einem riesigen Dilemma: Gegenüber wem war nun die Solidarität der Ukraine größer? Gegenüber dem Lukaschenka-Regime, das jahrelang nicht bereit gewesen war, Moskaus Expansionspolitik auf Kosten der Ukraine anzuerkennen (vor allem aus Eigeninteresse natürlich)? Oder gegenüber der belarusischen Zivilgesellschaft, die – ähnlich wie die ukrainische in zwei Revolutionen – ihren Machthabern jetzt die Stirn bot?

Die Ukraine wählte einen Mittelweg: Einerseits keine offizielle Anerkennung der manipulierten belarusischen Präsidentschaftswahlen von 2020, andererseits Distanz zur Oppositionsbewegung. Einerseits eine ukrainische Teilnahme am ersten EU-Sanktionspaket gegen Minsk im Oktober 2020, andererseits keine Partizipation an darauffolgenden EU-Sanktionspaketen. Und einerseits die Gewährung von Zuflucht in der Ukraine für verfolgte Belarus:innen, aber andererseits kein offizielles politisches Asyl für die Geflohenen. Dieser diplomatische Dualismus Kyjiws ist von beiden Lagern in Belarus skeptisch gesehen worden: Lukaschenka betrachtete dies als Undankbarkeit und Verrat seitens der Ukraine. Und innerhalb der belarusischen Demokratiekräfte stieß Kyjiws Ansatz ebenso auf Unverständnis.

Folgen der russischen Vollinvasion

Seit Beginn der vollumfänglichen russländischen Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, in welcher Belarus als logistischer Kreml-Helfer diente, hält die Ukraine weitgehend an ihrem außenpolitischen Kurs gegenüber Minsk fest. Das realpolitische Gebot der Stunde ist, zum einen Lukaschenka nicht zu provozieren, direkt bzw. mit eigenen Soldaten in der Ukraine zu intervenieren, und zum anderen das Minsker Regime nicht zu sehr zu schwächen, sodass es kollabieren würde. Bei so einem Szenario ist nicht ausgeschlossen, dass Belarus vom Kreml absorbiert werden und (wieder) gegen die Ukraine »eingesetzt« werden könnte. Zu Beginn des Krieges erlaubte man Lukaschenka deshalb erneut, als Vermittler zu agieren. Dass sich die Delegationen aus der Ukraine und Russland kurz nach Kriegsbeginn am 28. Februar und danach noch zwei weitere Male im März 2022 ausgerechnet im Ko-Aggressorstaat Belarus zu Verhandlungen trafen, ist von der exilierten belarusischen Oppositionsbewegung kritisch gesehen worden. Denn diese setzt bis heute ihre Lobbyarbeit im Westen auf die völlige internationale Isolierung des Minsker Regimes.

Interessant ist auch, dass Kyjiw nach Kriegsbeginn darauf verzichtete, die diplomatischen Beziehungen zu Belarus zu kappen. Der damalige ukrainische Botschafter in Belarus, Ihor Kysym, ist nicht aus Minsk zurückberufen worden. Gleichzeitig bot laut Kysym die Ukraine der belarusischen Botschaft in Kyjiw angeblich an, diese nach Lwiw zu evakuieren. Als Minsk das Angebot aus Sicherheitsaspekten ablehnte, sei der belarusische Botschafter Igor Sokol persönlich von ukrainischen Sicherheitskräften (!) an die ukrainisch-belarusische Grenze gebracht worden.[5] Ihor Kysym wurde zwar im April 2023 von Kyjiw zurückberufen (aus Protest, weil Lukaschenka einen führenden Separatistenführer aus dem besetzten Donbas empfangen hatte). Daraufhin aber ist Kysym im Februar 2024 zum »Ukrainischen Botschafter für besondere Aufgaben gegenüber Belarus« ernannt worden.

Im Übrigen beschuldigt das Zichanouskaja-Team Kyjiw seit Kriegsbeginn, im Westen für das Lukaschenka-Regime zu lobbyieren. So soll unter anderem das ukrainische Außenministerium dafür verantwortlich sein, dass bei der Sanktionspolitik gegenüber Belarus auf die Bremse gedrückt werde. Während Kyjiw diese Vorwürfe strikt von sich weist, sagten im Mai und August 2023 sowohl der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, als auch Lukaschenka persönlich, dass es weiterhin Kontakte zwischen Kyjiw und Minsk gebe. Dies sorgte sowohl in ukrainischen als auch belarusischen (Exil-)Medienkreisen für Aufruhr. Seither dementiert Kyjiw jegliche Kontakte zu Minsk.

Doch wenn der Sinn dieses Ansatzes darin besteht, Lukaschenka nicht zu (erneuten) Handlungen gegen die Ukraine zu provozieren, warum hält die Ukraine dann Kontakt zum bewaffneten Flügel der belarusischen Exilopposition? Aus zweierlei Gründen: Einerseits verleiht das Kastus-Kalinouski-Regiment der Ukraine ein höheres Drohpotenzial gegenüber dem Minsker Regime (nach dem Motto: »Man weiß ja nie«). Das KKR macht keinen Hehl daraus, das Lukaschenka-Regime stürzen zu wollen. Anderseits kann das Lukaschenka-Regime paradoxerweise auch aufatmen. Denn solange das KKR der ukrainischen Oberbefehlsgewalt untersteht und Kyjiw den bisherigen Ansatz weiterverfolgt, ist es unwahrscheinlich, dass Kyjiw das KKR gegen das Lukaschenka-Regime einsetzen wird.

Fazit

Die vorliegende Analyse der komplexen Beziehungen zwischen der Ukraine und der belarusischen (Exil-)Opposition zeigen eine strategische Distanz Kyjiws zur politischen belarusischen Exilopposition. Allerdings sind nicht die belarusischen Demokratiekräfte an sich ein Problem für das offizielle Kyjiw – vielmehr war es das Timing ihres Auftauchens als neuer politischer Akteur in den ukrainisch-belarusischen Beziehungen zu einer Zeit, in der die Ukraine auf Einflusskanäle des Lukaschenka-Regimes angewiesen war.

Die Ergebnisse offenbaren zudem ein präziseres Bild der Ukraine. Kyjiw schafft es – neben dem Aufbau des Images als eine Festung der Demokratie und ihrer Werte in Europa – gleichzeitig und im Stillen Realpolitik zu betreiben. Denn der ambivalente ukrainische Umgang mit der belarusischen Exilopposition verdeutlicht, dass die Ukraine aus pragmatischen Gründen auch konträr zu demokratischen Werten stehen kann. Für den Westen bedeutet dies, diesen politischen Kurs und die Schattenseiten des von Kyjiw adaptierten Jaremenko-Ansatzes nicht zu übersehen (siehe Jurij Pantschenko in der Einleitung).

Früher oder später wird es in Belarus eine Zeit nach Lukaschenka geben. Ob diese autoritär oder demokratisch geprägt sein wird, kann niemand vorhersagen. In beiden Fällen könnte die jetzige ukrainische strategische Distanz zur belarusischen Exilopposition sich für Kyjiw entweder als Vor- oder aber auch als sehr großer Nachteil erweisen.

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Verweise

[1] https://www.eurointegration.com.ua/experts/2022/10/12/7148565/

[2] https://www.eurointegration.com.ua/experts/2022/10/13/7148622/

[3] https://ru.krymr.com/a/news-kuleba-tihanovskaya-krym/31006943.html

[4] https://x.com/Podolyak_M/status/1578337589882650626

[5] https://www.eurointegration.com.ua/rus/interview/2022/12/29/7153251/

Lesetipps / Bibliographie

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