Worauf die Stabilität eines autokratischen Regimes beruht
Die Lebensdauer eines nichtdemokratischen Regimes wird von vielen Faktoren bestimmt. Betrachtet man die internen Aspekte, zeigt sich, dass ein solches Regime am besten überlebt, wenn es sich auf einen effizienten Repressionsapparat, loyale Eliten und eine im Wesentlichen gefügige Bevölkerung stützt (siehe Gerschewski et al., 2013). Ein stabiler Repressionsapparat und treue politische Eliten sind dabei unerlässlich. Wenn diese beiden Säulen vorhanden sind, kann eine Nicht-Demokratie ohne die Loyalität der breiten Bevölkerung bestehen. Dieses Phänomen scheint seit 2020 in Belarus zu beobachten zu sein: Lukaschenka blieb in den letzten vier Jahren vor allem dank seines Repressionsapparats und der disziplinierten Eliten an der Macht.
Allerdings dürfte ein Autokrat, der seine Macht allein auf Repression und Eliten stützt, nur eingeschränkt zufrieden sein. Seine Abhängigkeit von den Sicherheitskräften und Technokrat:innen ist dadurch groß, insbesondere da diese genau wissen, wie es um die Unterstützung durch die allgemeine Bevölkerung steht. Dass Lukaschenka mit dieser Situation kaum zufrieden sein dürfte, zeigt sich an seinen intensiven Bemühungen, seine Akzeptanz innerhalb der belarusischen Gesellschaft wiederherzustellen (siehe Rudnik, 2024). Hierbei dürfte er eine Form der Anerkennung anstreben, die sich in einem politischen Denken der Bürger manifestiert, das ohne den Zwang des Sicherheitsapparats zu regierungstreuem politischem Verhalten führt. Gleichzeitig würde dies den Sicherheitskräften und Beamten signalisieren, ihre eigene Bedeutung nicht überzubewerten.
Lukaschenkas Legitimierungsversuche zielen demnach darauf ab, das politische Denken der meisten Belarus:innen zu beeinflussen, mit dem Ziel, die vorherrschende, seine Allmacht in Frage stellende bzw. überwiegend demokratische Denkweise der Bürger:innen zu überwinden und die Stabilität seines Regimes um eine weitere Säule zu erweitern. Doch wie können wir wissen, dass das politische Denken der Belarus:innen tatsächlich überwiegend demokratisch geprägt ist? Diese Annahme lässt sich derzeit eher aus indirekten Indikatoren ableiten, etwa aus den prodemokratischen Protesten im Jahr 2020 sowie aus den weiterhin bestehenden Unterdrückungs- und Legitimierungsstrategien des Lukaschenka-Regimes.
Um die These über die demokratische Prägung des politischen Denkens der Belarus:innen zu überprüfen, wurden 82 Items und 240 Antwortmöglichkeiten aus belarusischen (IISEPS – Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies) und internationalen (WVS – World Values Survey; EVS – European Values Survey) Umfragewellen der 2010er Jahre einer deduktiv-induktiven qualitativen Inhaltsanalyse mittels Extraktion und einer anschließenden quantitativen Aufbereitung unterzogen (siehe Merzlou, 2024). Dieser Artikel fasst die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen.
Politische Vorstellungen als verlässlichere Form des politischen Denkens der Bürger:innen in autokratischen Regimen
Politisches Denken lässt sich auf empirischer Ebene entweder durch qualitative Interviews mit Einzelpersonen oder durch standardisierte Umfragen großer Gruppen erfassen. Trotz ihrer Mängel ermöglichen Letztere oft eine Verallgemeinerung der Aussagen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung. Seit Jahrzehnten zielen Umfragen darauf ab, zwei Formen des politischen Denkens der Bürger:innen zu erfassen: ihre Einstellungen gegenüber dem bestehenden politischen Regime und ihre Vorstellungen von einem idealen politischen Regime. So können Umfragen in Belarus beispielsweise aufzeigen, welcher Anteil der Bevölkerung Lukaschenka als Staatsoberhaupt vertraut (politische Einstellung) oder sich ein ideales politisches System auf der Grundlage eines ‚starken Führers‘ wünscht (politische Vorstellung).
In der oben erwähnten Studie wurden ausschließlich die politischen Vorstellungen der Bürger:innen als Ausdruck ihres politischen Denkens ausgewertet.
Der direkte Bezug der politischen Einstellungen zu den Elementen des bestehenden politischen Regimes erlaubt es, sicherer zu schlussfolgern, ob und in welcher Richtung die Bürger:innen möglicherweise gegenüber ihren demokratisch gewählten Regierenden würden handeln wollen. Politische Vorstellungen hingegen, die abstrakter sind, lassen größere Ungewissheiten bei der Vorhersage des politischen Handelns zu. Selbst wenn beispielsweise 80 Prozent der Bürger:innen der Meinung sind, dass eine ideale politische Herrschaft auf einer starken und unabhängigen Judikative basieren sollte, kann nicht sicher angenommen werden, dass sie sich tatsächlich gegen ihre Regierung auflehnen würden, falls diese die Unabhängigkeit der Justizeinschränkt.
Im Kontext einer Autokratie verlieren politische Einstellungen allerdings im Vergleich zu politischen Vorstellungen als Indikator des politischen Denkens an Aussagekraft. Zum einen ist es in einer Autokratie nur unter seltenen Rahmenbedingungen möglich, politisches Handeln direkt aus dem eigenen politischen Denken abzuleiten. Zum anderen sind die Einstellungen der Bürger:innen gegenüber dem nichtdemokratischen Regime, unter dem sie leben, stark durch den verzerrenden Effekt der sozialen Erwünschtheit beeinflusst. Zum Beispiel fürchten viele Bürger Repressalien, wenn sie Ablehnung gegenüber dem politischen Regime oder seinen Elementen zum Ausdruck bringen. Die Befürwortung eines abstrakten demokratischen Prinzips ist dagegen in einer Autokratie für die Befragten weniger gefährlich, da die Autokratie dieses Prinzip auch selbst deklaratorisch unterstützen kann. Daher ist zu erwarten, dass der Anteil der Bürger:innen, die beispielsweise das abstrakte Prinzip der Gewaltenteilung unterstützen, besser den tatsächlichen Anteil der demokratisch denkenden Bürger:innen in einer Autokratie widerspiegelt als der Anteil der Bürger:innen, die dem regierenden Autokraten wenig Vertrauen entgegenbringen.
Ein weiterer Grund, sich in der Studie auf die politischen Vorstellungen der Bürger:innen als Ausdruck ihres politischen Denkens zu konzentrieren, besteht darin, dass sich politische Wertevorstellungen langsamer verändern bzw. weniger anfällig für kurzfristige Schwankungen sind. Dies begründet auch die Entscheidung, das politische Denken der Belarus:innen auf der Grundlage von Umfragedaten aus den 2010er Jahren zu untersuchen, die zudem zahlreicher und repräsentativer sind als jene aus den 2020er Jahren.
Normative Legitimität des Lukaschenka-Regimes in den 2010er Jahren
Die politischen Vorstellungen der Bürger:innen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Zum einen gibt es Vorstellungen, die dem Charakter des politischen Regimes, in dem die Bürger:innen leben, grundsätzlich entsprechen. Im Fall von Belarus sind dies Vorstellungen, die auf eine Befürwortung der autokratischen Herrschaft Lukaschenkos hinauslaufen. Zum anderen gibt es politische Vorstellungen, die im Widerspruch zum jeweiligen Regime stehen. In Bezug auf Belarus liegt der Fokus hier auf Vorstellungen, die auf die Befürwortung einer demokratischen Form politischer Herrschaft hinauslaufen.
Je nachdem, wie viele Bürger:innen in Belarus autokratische oder demokratische politische Vorstellungen teilen, lassen sich die Anteile derjenigen bestimmen, die am wahrscheinlichsten Sympathisant:innen bzw. Gegner:innen des Regimes Lukaschenkas sind, und diese zueinander ins Verhältnis setzen. Dieses Verhältnis kann als Maß für die wertebasierte bzw. normative Legitimität des Regimes von Lukaschenka interpretiert werden. Um den Zustand und die Dynamik der normativen Legitimität des Regimes in den 2010er Jahren zu erfassen, wurden zwei Untersuchungszeiträume festgelegt: Der erste Zeitraum umfasst die Zeit rund um die Präsidentschaftswahl von 2010 (»Anfang der 2010er Jahre«), der zweite die Zeit rund um die Präsidentschaftswahl von 2015 (»Ende der 2010er Jahre«).
Auf Grundlage von Umfragedaten aus den 2010er Jahren wurde festgestellt, dass die normative Legitimität des Regimes Lukaschenkos in diesem Jahrzehnt einen leichten Rückgang erfuhr. Quantitativ gesehen sank der Anteil der Belaruss:innen, deren politische Vorstellungen auf eine Befürwortung der Autokratie Lukaschenkas hinauslaufen, im Vergleich zu den potenziellen Regimegegner:innen um 2 Prozentpunkte. Dieses Ergebnis bestätigt die These, dass sich die politischen Vorstellungen der Bürger:innen nur langsam wandeln. Hierbei war der Anteil der »Demokrat:innen« innerhalb der belarusischen Gesellschaft sowohl zu Beginn als auch am Ende der 2010er Jahre größer als der Anteil der »Autokratieanhänger:innen«. Zu beiden Zeitpunkten betrug der Anteil der »Autokratieanhänger:innen« etwa drei Viertel des Anteils der »Demokrat:innen«.
Darüber hinaus lassen sich politische Vorstellungen der Bürger:innen inhaltlich nach verschiedenen Aspekten politischer Herrschaft einordnen. Hierbei geht es um die Herrschaftskriterien, die der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel entwickelt hat, um »politische Herrschaft« bzw. »politische Regime« als mehrdimensionales Konstrukt beschreiben zu können (Siehe Merkel/Croissant, 2000). Politische Vorstellungen der belarusischen Bürger:innen können sich demnach auf:
- die Form und den Umfang der Legitimierung politischer Herrschaft (Kriterium »Herrschaftslegitimation«);
- die institutionelle Regelung des Zugangs zu politischer Herrschaft (Kriterium »Herrschaftszugang«);
- das Ausmaß des Eingriffs der Regierenden in die gesellschaftliche und private Sphäre (Kriterium »Herrschaftsanspruch«);
- die Umsetzung des Gewaltenteilungsprinzips (Kriterium »Herrschaftsstruktur«) und
- die Durchsetzung des Entscheidungsmonopols der Verfassungsorgane (Kriterium »Herrschaftsmonopol«) beziehen.
Im Verlauf der 2010er Jahre sank der Anteil der Belarus:innen, die nichtdemokratische Ausprägungen des Eingriffs der Regierenden in die gesellschaftliche und private Sphäre, der Umsetzung des Gewaltenteilungsprinzips und der Durchsetzung des Entscheidungsmonopols der Verfassungsorgane befürworteten, um 2, 3 bzw. 37 Prozentpunkte. Dieser Rückgang der normativen Legitimität des Regimes Lukaschenkos in Bezug auf die Kriterien »Herrschaftsanspruch«, »Herrschaftsstruktur« und »Herrschaftsmonopol« kann als gestiegene Befürwortung eines starken, funktionierenden Rechtsstaats und einer vom Staat unabhängigen Zivilgesellschaft in Belarus interpretiert werden. Gleichzeitig überwog der Anteil der demokratisch denkenden Belarus:innen in Bezug auf diese drei Herrschaftskriterien sowohl zu Beginn als auch am Ende des Jahrzehnts.
Bezüglich der Kriterien »Herrschaftslegitimation« und »Herrschaftszugang«, die zentrale Herrschaftskriterien darstellen, zeigte sich jedoch eine andere Entwicklung der normativen Legitimität des Regimes von Lukaschenka. Hier wurde eine Zunahme des Anteils der Befürworter:innen autokratischer Vorstellungen um 59 bzw. 9 Prozent verzeichnet. Dadurch stellt sich die berechtigte Frage, ob dieser Befund den Ereignissen von 2020 widerspricht. Erstens ist zu bedenken, dass politische Vorstellungen nicht automatisch in politisches Handeln umschlagen (müssen). Im Jahr 2020 entwickelte sich ein politisches Handeln der Belarus:innen, das eher unmittelbar von konkreten politischen Einstellungen zu Personen und Ereignissen beeinflusst wurde. An den Protesten von 2020 haben mutmaßlich auch Personen teilgenommen haben, die autokratische politische Vorstellungen befürworteten (Siehe Krawatzek/Langbein, 2022).
Wenn man politische Wertevorstellungen als Grundlage für konkrete politische Einstellungen betrachtet (z. B. die wertebasierte Befürwortung freier und fairer Wahlen als Grundlage für die Empörung über Wahlfälschungen im August 2020), zeigt sich auch hier kein großer Widerspruch. Zum einen folgt der Zuwachs der Anhänger:innen des autokratischen Herrschaftszugangsmodus der Logik des bereits erwähnten langsamen Wertewandels. So beträgt er »nur« 0,09 %. Letztlich hatten die Befürworter freier und fairer Wahlen sowohl zu Beginn als auch am Ende der 2010er Jahre einen zahlenmäßigen Vorsprung in Belarus.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Demokratisierung und der überwiegend demokratische Charakter des politischen Denkens der Belarussen als Rückgang und verstärkt suboptimaler Zustand der normativen Legitimität des Lukaschenka–Regimes in den 2010er Jahren empirisch nachweisen lassen. Das Verhältnis der Befürworter:innen autokratischer politischer Vorstellungen zu den Befürworter:innen demokratischer politischer Vorstellungen verschob sich im Laufe der 2010er Jahre zugunsten Letzterer, sowohl insgesamt als auch in Bezug auf die meisten Kriterien politischer Herrschaft. Die Befürworter:innen demokratischer politischer Vorstellungen waren zahlenmäßig stets überlegen, auch wenn die Befürworter:innen autokratischer Vorstellungen einen bedeutenden Teil der belarusischen Gesellschaft ausmachten.
Die entscheidende Rolle der ideologischen Zugkraft des Westens
Auch wenn es aus methodologischen Gründen an dieser Stelle nicht möglich ist, einen empirisch fundierten Zusammenhang zu rekonstruieren (Siehe Starke, 2022), dürfte die in den 2010er Jahren geschrumpfte und suboptimale normative Legitimität des Regimes Lukaschenkos eine notwendige Bedingung für die Ereignisse von 2020 gewesen sein. Sie ist vermutlich mitverantwortlich auch dafür, dass der belarusische Autokrat seit vier Jahren intensive Repressalien gegen die und Legitimationsanstrengungen gegenüber der belarussischen Gesellschaft unternimmt.
Nun stellt sich die Frage, ob Lukaschenka damit mittel- und langfristig Erfolg haben kann, seine Legitimation gegenüber der belarusischen Bevölkerung wiederzugewinnen. Ein entscheidender begünstigender Faktor für den demokratischen Charakter und die Demokratisierung des politischen Denkens der Belarussen dürfte die jahrzehntelange ideologische Anziehungskraft der »westlichen Demokratie« gewesen sein (Siehe G. Pickel, 2016; Schubert, 2012). Daher könnte das Lukaschenka-Regime die Demokratisierung des politischen Denkens der meisten Belarus:innen nur dann dauerhaft unterdrücken, wenn der Westen selbst, zum Beispiel aufgrund innen- und außenpolitischer Überforderung, den universalistischen Anspruch seiner »rechtsstaatlichen Demokratie« aufgeben und stattdessen eine politische und ideologische Koexistenz mit dem Lukaschenka–Regime anstreben würde. Gelingt es dem Westen hingegen, seine »rechtsstaatliche Demokratie« als Exportware nicht aufzugeben und gleichzeitig die belarusische Gesellschaft und das autokratische Regime in Belarus auseinanderzuhalten, dürfte es nichts geben, was den demokratischen Charakter des politischen Denkens der meisten Belarus:innen als Grundlage für ihr künftiges demokratisches politisches Handeln gefährden kann.