Die Bilanz der polnischen Wirtschaft für die letzten Jahre lässt sich als gut bewerten. Trotz der globalen Krise konnte sie das Wirtschaftswachstum halten, eine Leistung, die in der Europäischen Union seit dem Jahr 2008 recht selten ist. Die Optimisten glauben, dass sich Polen nun auf dem Weg einer Entwicklung befindet, die im Laufe von zehn Jahren zu einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf führen wird, das fast dem EU-Durchschnitt entsprechen wird. Die Skeptiker sagen, dass die relative Hochkonjunktur der vergangenen Jahre nur der Schwanengesang auf ein Wachstum sei, das sich auf die niedrigen Arbeitskosten stütze. Immer mehr polnische Branchen sind von der Verlagerung an billigere Standorte in Rumänien oder der Ukraine bedroht, von Asien ganz zu schweigen. Vor einer solchen Konkurrenz kann man nur mit Hilfe einer größeren Innovation der Firmen fliehen. Diese stellt sich allerdings nicht ohne den Faktor des good governance ein. Der Internationale Währungsfonds versteht unter diesem Begriff beispielsweise ein gut funktionierendes Rechtssystem, die Effektivität des öffentlichen Sektors, die Bekämpfung der Korruption. Vereinfacht gesagt, geht es um die Qualität der Steuerung, dank derer sich die Unternehmen mit der Entwicklung neuer Produkte befassen können und sich nicht mit den Anforderungen einer unfähigen Bürokratie und eines schwachen Rechts beschäftigen müssen.
Eine lästige Tradition
Erfüllt Polen diese Bedingung? Spontan würde man dies schnell verneinen, denn Polen wurde nie als Land mit einer Tradition guten Regierens beurteilt. Vor Jahrhunderten gründete sich seine Entwicklung auf die Landgüter und nicht auf die Städte, die in Westeuropa die Geburtsstätten guter Verwaltung und Lenkung waren. Ab Ende des 18. Jahrhunderts hatten es die Polen außerdem vor allem mit einem Staat zu tun, der ihnen von den Teilungsmächten und Besatzern aufgezwungen worden war und der fremd und außergewöhnlich beklemmend war. Gegen ihn kämpften sie nicht nur in den Aufständen, sondern vor allem mit den Mitteln der täglichen Improvisation – kleinen Betrugsmanövern, dem Umgehen von Gesetzen, dem Aufbau paralleler Untergrundstrukturen, auch im Bereich der Wirtschaft. In der Zeit des kommunistischen Systems haben sie darin eine bewundernswerte Gewandtheit entwickelt. Der Pole wurde der Phönizier des Ostblocks, der die ausgehungerten Märkte mit türkischen Jeans und taiwanesischer Elektronik belieferte. Dabei bestach er die Zollbeamten und wusste die rechtlichen Schlupflöcher pfiffig auszunutzen. Diese »Fähigkeiten«, manchmal auch Gewohnheiten, wurden erst nach 1990 problematisch, als die Zeit kam, einen eigenen, freien Staat aufzubauen. Die Begründer der Transformation fürchteten sich zu Recht nicht vor dem durch die Plattenbausiedlungen schleichenden homo sovieticus, sondern vor dem Phönizier, der dem Staat gegenüber ebenfalls feindlich eingestellt ist.
Diese Befürchtungen haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Im Laufe von zwei Jahrzehnten hat die polnische Wirtschaft einen enormen Sprung gemacht. Beispielsweise stieg der Durchschnittslohn von zirka 30 Euro auf 700 Euro monatlich und das BIP verdoppelte sich. Dies wäre bei hoffnungsloser Lenkung und einem katastrophalem Rechtssystem schwierig gewesen. Rückblickend kann man sagen, dass Polen einen gewissen Standard im Bereich governance erreicht hat. Dies ermöglichte ein schnelles, extensives Wachstum und einen recht unproblematischen Beitritt zur Europäischen Union. Reicht das aber für den Übergang von einer »billigen« Wirtschaft zu einer wissensbasierten Wirtschaft?
Anhand der Darstellung zweier wichtiger Bereiche soll diese Frage beantwortet werden. Der erste ist die sogenannte institutionelle Umgebung der Firmen. Hier geht es darum, wie viel Freiheit der Staat den Wirtschaftssubjekten gewährt, wie er ihre Tätigkeit reguliert und ob er in der Lage ist, ihnen Sicherheit zu garantieren. Der zweite Bereich bezieht sich darauf, dass der Gesellschaft verschiedene Güter zur Verfügung gestellt werden, in der Regel öffentliche. Manchmal entscheidet der Staat, sie selbst herzustellen, manchmal kauft er sie und übermittelt sie den Bürgern. Beide Methoden können wirksam oder ineffektiv sein, dies hängt von der Qualität der Steuerung ab.
Die Handlungsfreiheit der Firmen
Zwar erinnert sich kaum jemand daran, aber zu Beginn der Transformation hatten die polnischen Firmen eine sehr große Handlungsfreiheit. Die letzte kommunistische Regierung führte – ein wenig aus Bosheit der Opposition gegenüber, ein wenig aus Experimentierfreude – ein revolutionäres Gesetz über die wirtschaftliche Tätigkeit (das sogenannte Wilczek-Gesetz) ein, das außergewöhnlich liberal war und Polen auf eine hohe Position auf der Liste der liberalsten Länder setzte. Leider war die Regierung nicht in der Lage, öffentliche Güter von hoher Qualität zur Verfügung zu stellen. Die Inflation verwüstete die Wirtschaft, und die den Markt regulierenden Institutionen und das Gerichtswesen steckten noch in den Kinderschuhen.
Zwar traten diese Institutionen in den folgenden Jahren in Erscheinung, aber dafür wurde die Freiheit der Firmen zunehmend beschnitten. Es lässt sich schwerlich alles auf eine einzige Ursache zurückführen. Große Bedeutung hat sicherlich der Anstieg der Affären, Skandale und Wirtschaftsverbrechen, denen der junge, unerfahrene demokratische Staat nicht gewachsen war. Außerdem wuchs die Bedeutung der unterschiedlichen Lobbygruppen, die Privilegien für sich herauszuschlagen verstanden. Die Regulierungsschlaufe begann, sich unversehens wieder zuzuziehen.
Natürlich kündigte fast jede Regierung an, sie wieder zu lockern, doch hatte dies wohl nie Priorität. Für die Regierung aus Demokratischer Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD, 1993–97) und Wahlaktion Solidarność (Akcja Wyborcza Solidarność – AWS, 1997–2001) war der Beitritt zur EU von vorrangiger Wichtigkeit, der aber wiederum zu einer Verdichtung der Regulierungen führte. Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS, 2005–07) setzte auf einen unerbittlichen Kampf gegen die Korruption und begann, von einem neuen Staat zu träumen. Die liberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), die als größerer Koalitionspartner seit 2007 regiert und der der Beiname »Partei des warmen Leitungswassers« angeheftet wurde, gestattet eher vorsichtige, punktuelle Veränderungen.
Doch auch diese zeitigen deutlich ihre Wirkung. Der neueste Bericht der Weltbank, der »Doing Business Report 2013«, bewertete Polen als das Land, das im Bereich Regulierungen die schnellsten Fortschritte auf der Welt macht. Besonders hohe Bewertungen erhielt es für den Zugang zu Krediten, den Schutz der Eigentumsrechte und die Regulierungen des Außenhandels.
Entgegen der Klagen der Unternehmer sieht deren Situation im Bereich Beschäftigung gar nicht so schlecht aus. Natürlich sind die Arbeitsverträge mit zahlreichen Anforderungen abgesichert, insbesondere was Entlassungen betrifft. Diese sind aber weit von der Strenge beispielsweise des deutschen Kündigungsschutzes entfernt. Außerdem nutzen die polnischen Firmen die Möglichkeit, sogenannte Müllverträge abzuschließen, sehr stark aus – diese sind sozial kontrovers, aber für die Arbeitgeber vorteilhaft. Es lässt sich auch nicht über einen besonderen Druck seitens des Fiskus klagen. Im europäischen Vergleich beträgt die Summe der Steuern aus Einkünften und Eigentum 7 Prozent des BIP (EU 27: 12,6 Prozent, Daten von Eurostat) und der Sozialversicherungsbeitrag 11,5 Prozent des BIP (13,9 Prozent in der EU 27). Ein weiterer Schritt nach oben im Ranking der Weltbank ist nicht ausgeschlossen, denn die Regierung führt zurzeit die sogenannte Deregulierung von fast 370 Berufen durch, die verschiedenen Beschränkungen, Konzessionen und Examen unterliegen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass es immer noch Bereiche von qualitativ sehr geringer governance gibt. Polen hat außergewöhnlich ungünstige Regulierungen im Bereich der Bauwirtschaft. Im Ranking »Doing Business« nahm Polen hier nur den 161. Platz ein. Interessant ist, dass dies die polnischen Städte und Dörfer trotzdem nicht vor einer hässlichen und chaotischen Bebauung schützte und die Firmen des Bausektors nicht vor dem Bankrott.
Die Unbeständigkeit der Regulierungen
Betrachtet man die immer besseren Benotungen Polens in den internationalen Statistiken, darf man allerdings nicht vergessen, dass viele wichtige Einzelheiten nicht abgebildet werden. Dazu gehört das Problem der Stabilität und Transparenz der Spielregeln. Um die war und ist es in Polen leider nicht zum Besten bestellt.
In den letzten zwei Jahrzehnten waren ständig neue Regulierungen für die polnischen Unternehmer ein Ärgernis. Häufig unklar formuliert und ohne Ausführungsvorschriften und Interpretationsanleitungen, überließen sie einen großen Grenzbereich der Willkür der Beamten. Die Ursache dafür ist die geringe Qualität bei der Aufstellung und Ausarbeitung von Rechtsvorschriften, beginnend vom Parlament bis hin zu den lokalen Behörden.
Leider wurden diese Lücken häufig zum Nachteil der Firmen ausgenutzt, die sich im Dickicht der Vorschriften verliefen und Fehler begingen. So verstärkte sich das alte Bild des »feindlichen Staates«, der den Bürgern misstraut und ihnen auflauert. Dazu passte auch die Anforderung, Bescheinigungen beizubringen. Es reichte nicht, dass der Petent eine Erklärung über seine tatsächliche Rechtslage vorlegte, er musste den Behörden verschiedene von anderen Behörden bestätigte Bescheinigungen vorweisen, beispielsweise über seine Straflosigkeit. Dank dieses Vorgehens konnte sich die polnische Bürokratie jahrelang die Autonomie ihres Ressorts bewahren, deren Kosten auf die Bürger abgewälzt wurden. Glücklicherweise kann man über viele dieser Phänomene allmählich in der Vergangenheitsform sprechen. In der letzten Zeit wurden die lästigen Bescheinigungen durch Erklärungen ersetzt, was für ein größeres Vertrauen seitens des Staates steht. Neueste Reformen zwangen die Behörden auch zur termingerechten Antwort auf gestellte Anträge. Nach Ablauf einer bestimmten Frist werden sie standardmäßig als angenommen betrachtet. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der polnische Staat noch lange um das Vertrauen seiner Bürger wird kämpfen und Änderungen, die er im Rechtsbereich vollzieht, wird begründen müssen. Wie sensibel dieser Bereich ist, zeigte die Diskussion um die Radarfallen. Im Jahr 2012 kündigte die Regierung einen entschiedenen Kampf gegen Verkehrsrowdys an. Da auf den polnischen Straßen jährlich 3.500 Menschen ums Leben kommen, was statistisch gesehen dreimal so viel ist wie in der EU, ist dieser Schritt vollkommen berechtigt. Aber statt dieses Vorhaben unter dem Stichwort steigender Sicherheit auf den Straßen zu »verkaufen«, gaben die politisch Verantwortlichen halblaut zu, dass sie mit großen Einkünften aus Strafen und Mandaten rechnen. Angesichts dieses Ausspruchs erschienen in den Medien Dutzende Beispiele absurd aufgestellter Verkehrsschilder, deren Funktion eher darin lag, die Autofahrer zu bestehlen, als deren Sicherheit zu vergrößern. Und hier erwacht erneut der polnische Phönizier, der den eigentlich sinnvollen Schritt als feindliche Handlung des Staates interpretiert.
Sichere Makroebene, unsichere Mikroebene
Fehler im Bereich der Regulierung können von den Bürgern bis zu einem gewissen Grad durch ein hohes Gefühl von Sicherheit kompensiert werden. Haben die Polen dieses Gefühl? Eher ja, wenn es um die Stabilität der Gesamtwirtschaft geht. Man muss anerkennen, dass alle polnischen Regierungen einen sehr beständigen Konsens hinsichtlich Geld und öffentlicher Finanzen aufgebaut haben. Die unabhängige Zentralbank und ein stabiler Geldwert sind im polnischen institutionellen System eine Selbstverständlichkeit. Seit den 1990er Jahren ist auch per Verfassung eine Schuldenbremse festgeschrieben, die den Verschuldungsphantasien der Politiker Grenzen setzt. Heute ahmt ganz Europa diese Lösung nach.
Das große Gefühl von Sicherheit auf der Makroebene schwindet allerdings, wenn man es mit dem Risiko auf der Mikroebene vergleicht. Dabei geht es gar nicht um den Stand der Straftaten, der eigentlich nicht vom europäischen Durchschnitt abweicht, sondern darum, dass es in Polen sehr schwierig ist, seine Vertragsrechte durchzusetzen. Nach den Daten der Weltbank dauert dies durchschnittlich 685 Tage und umfasst 33 Verhandlungen, wobei sich die Kosten auf 19 Prozent des verhandelten Gegenstands belaufen. In Deutschland bedarf es im Vergleich 394 Tage, 30 Verhandlungen und die Kosten liegen bei 14,4 Prozent des Verhandlungsobjekts. Trotzdem ist festzuhalten, dass die aktuelle Situation sehr viel besser ist als noch vor einigen Jahren. Im Jahr 2006 dauerte es sogar 830 Tage, weshalb Polen auch wiederholt von seinen eigenen Bürgern vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt wurde. Eine besonders deutliche Verbesserung lässt sich im Wirtschaftsgerichtswesen feststellen.
Einen Grund zum Feiern gibt es dennoch nicht. Experten beklagen weiterhin die komplizierten Gerichtsverfahren und die Erfolglosigkeit der Rechtsprechung. Sehr brutal wurde dies bei der seit Jahren geräuschvollsten Affäre in der polnischen Wirtschaft deutlich, in die das Finanzunternehmen Amber Gold verwickelt war.
Dieses Unternehmen hatte ab dem Jahr 2009 Investitionen in Edelmetalle angeboten und Gewinne im zweistelligen Prozentbereich versprochen. Es begann ein Ansturm auf seine Produkte. Der Ausschuss für Finanzaufsicht informierte die Staatsanwaltschaft, dass Amber Gold Bankgeschäfte tätigt, ohne eine entsprechende Lizenz zu besitzen. Als regulierendes Organ hat die Staatsanwaltschaft also korrekt gehandelt. Das Problem bestand darin, dass sie aber nicht weiter aktiv wurde und weitere Beschwerden des Ausschusses für Finanzaufsicht ablehnte. In der Zwischenzeit hatte Amber Gold das Flugunternehmen OLT übernommen und eine aggressive Werbekampagne für Billigflüge begonnen. Im Juli 2012 stürzte das ganze Gebäude mit einem lauten Knall zusammen: Sowohl OLT als auch Amber Gold gingen Bankrott, und mit ihnen gingen einige Hundertmillionen Zloty als Ersparnisse Tausender Polen verloren. Heute ist bekannt, dass der Firmengründer Marcin Plichta mehrmals verurteilt worden war, allerdings war keines der Urteile jemals vollstreckt worden. Diese Affäre weckte eine Welle der Kritik an der Staatsanwaltschaft und den Gerichten, deren Beamte sich im besten Fall der Fahrlässigkeit, im schlimmsten Fall der Korruption schuldig gemacht haben. Auf alle Fälle macht der Skandal das immense Potential für die Reform des Systems und die Korrektur einer der schwächsten Bereiche der polnischen governance deutlich.
Der Staat produziert, der Staat kauft
Zu den Aufgaben einer Regierung gehört nicht nur, eine gute institutionelle Umgebung für Firmen zu schaffen. Sie ist auch dafür verantwortlich, den Bürgern verschiedene Güter zugänglich zu machen. Nicht anders ist es in Polen, das ähnlich wie die Mehrheit der europäischen Staaten in den Bereichen Transport, Bildung und Gesundheit sehr aktiv ist. Es stellt sich dabei die Frage, auf welche Weise dies vonstatten geht – durch das Einsetzen öffentlicher Monopole oder durch den Markt und private Firmen, von denen die betreffenden Güter und Dienstleistungen geliefert werden?
Die Betrachtung der letzten 20 Jahre der polnischen Transformation ergab folgende Ergebnisse: Zweifellos unterlagen die polnischen Regierungen der Faszination des freien Marktes. Dessen Lösungen bewerteten sie als am wenigsten kostenintensiv und sehr effektiv. Andererseits fürchteten sie immer den Kontrollverlust, weshalb sie in der Realität Lösungen vermieden, die auf vollständiger Konkurrenz mit eindeutig zugewiesenen Verantwortlichkeiten basierten. Stattdessen gab es ein wenig Markt und ein wenig Staatsbesitz sowie eine Menge buchhalterischer Logik, die mit der Notwendigkeit der Kostenreduzierung begründet wurde. Diese Herangehensweise war bereits in den ersten Jahren nach 1989 sichtbar, als man statt der Privatisierung der staatlichen Unternehmen gern deren Kommerzialisierung betrieb. Auf diese Weise sollten die staatlichen Betriebe wie Firmen auf dem freien Markt agieren, die Regierung aber verlor nicht die Kontrolle und gewann Zeit für strategische Entscheidungen in der betreffenden Branche. Nebenbei und praktischerweise boten die Vorstände und Aufsichtsräte Parteifunktionären etliche Arbeitsplätze.
Die Bilanz dieses Experimentierens ist nicht sehr ermutigend. Das aktuellste Beispiel sind die Probleme der Polnischen Fluggesellschaft LOT. Die nationale Luftfahrtgesellschaft sollte im Ansatz ein staatlicher, den Binnenmarkt dominierender Betrieb bleiben. Als aber die Konkurrenz begann, die Position von LOT zu schwächen, und sich eine Umstrukturierung als notwendig erwies, traten Gewerkschaftler und Politiker in Erscheinung. Im Laufe einiger Jahre durchliefen viele Vorsitzende den Vorstand der nationalen Fluggesellschaft, von denen jeder letztendlich das Kräftemessen mit der gut organisierten Belegschaft verlor. Der Effekt war, dass der Betrieb heute eigentlich am Rande des Abgrunds steht und vergeblich nach Kaufwilligen gesucht wird. Die letzte Hoffnung ist die Wahl eines neuen Direktors, dem dieses Mal entsprechende Prärogative und Handlungsfreiheit wiedergegeben werden. Ein Schritt in die richtige Richtung, aber verspätet.
Ähnlich hat sich die Situation der Polnischen Post und der Polnischen Eisenbahnen entwickelt. Beide Unternehmen haben lange Jahre der Stagnation und Schwäche hinter sich. Auf der einen Seite hat sie der Staat einer immer stärkeren Konkurrenz ausgesetzt und die Zuschüsse gekürzt, auf der anderen Seite aber wurden die Vorstände in der Konfrontation mit den Gewerkschaften und Politikern allein gelassen, sodass ernstzunehmende Umstrukturierungspläne keine Chance hatten. Heute sieht die Situation etwas anders aus. Die an den Rand des Abgrunds geführte Polnische Post hat endlich einen stabilen Vorstand und richtet sich schrittweise wieder auf. Die Polnischen Eisenbahnen wiederum werden zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht von Eisenbahnern geführt, was ein gutes Zeichen ist.
Dass langfristige Strategien durch eine giftige Mischung aus Konkurrenz, verschwommenen Verantwortlichkeiten und buchhalterischer Kontrolle ersetzt werden, ist auch in zwei anderen Schlüsselbereichen des staatlichen Aufgabenfeldes zu sehen, im Bereich der Bildung und der Gesundheit. Im Bildungswesen trat der Staat die Verantwortung für die Verwaltung der Schulen an die Ebene der Selbstverwaltungen ab. Gleichzeitig aber legte er den Selbstverwaltungen das Kuckucksei der sogenannten Charta des Lehrers ins Nest. Dies bedeutet hohe Gehälter für die Pädagogen, wofür die Gemeinden aber einfach kein Geld haben. Der Effekt ist, dass die Selbstverwaltungen begonnen haben, die traditionellen öffentlichen Schulen durch sogenannte Gemeinschaftsschulen zu ersetzen, die schlicht und einfach Subjekte des Marktes sind. Diese Situation hätte vermieden werden können, wenn hinterher die »Charta des Lehrers« reformiert worden wäre, aber die politisch Verantwortlichen scheuten hier die Verantwortung für einen Konflikt mit der Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa Polskiego – ZNP).
Nicht anders verhält es sich im Bereich der Hochschulausbildung, wo der Staat als Buchhalter die Ausgaben beschnitt und die Hochschulen ermunterte, sich ihre »Klienten« und Mittel zur Selbstfinanzierung zu suchen. In der Folge entstand ein Bildungsmarkt mit einem ungeheuren Angebot billiger Studiengänge und geringer Qualität. Den Arbeitsmarkt überschwemmt eine Welle arbeitsloser Absolventen von »Management und noch irgendwas«, die auf das Marketingmärchen, eine »Anstellung nach dem Studium garantiert« zu bekommen, hereingefallen ist. Die mörderische Kostenkonkurrenz, die die für die Lehre bestimmten Ressourcen vergeudet, verschärft sich gegenwärtig angesichts der demographischen Tendenzen. Der Staat hat nicht viele Mittel, um das Profil der Hochschulausbildung schnell zu ändern. In der Zeit der Transformation hatte man nicht gewagt, die Autonomie der Hochschulen anzutasten. Daher ist es heute schwierig, die alten Gewohnheiten des Lehrkörpers, Lehre von geringer Qualität anzubieten und die Forschung zu vernachlässigen, zu überwinden. Die Effekte einer vor einiger Zeit eingesetzten Institution, durch den Staat Studienrichtungen zu »bestellen«, sowie finanzielle Anreize, um die Qualität anzuheben, lassen noch auf sich warten.
Schneller fielen strategische Entscheidungen im Gesundheitssektor. Vor zirka zehn Jahren hatte die Regierung entschieden, ins Zentrum des Gesundheitssystems den Nationalen Gesundheitsfonds (Narodowy Fundusz Zdrowia – NFZ) einzusetzen, der medizinische Behandlungen untereinander konkurrierender Krankenhäuser, Polikliniken usw. finanziert. Der NFZ ist ein mit sehr starken Prärogativen ausgestattetes Subjekt. Er wendet komplizierte Kontrollen und bürokratische Prozedere an, deren Ziel es ist, die Haushaltsbeschränkungen zu beaufsichtigen. Die Buchhalterlogik verdeckte aber auch hier die Frage der Verantwortung. Das polnische Gesundheitssystem ist nicht teuer: Der Beitrag beträgt knapp 10 Prozent des Einkommens. Mit dieser Summe lassen sich aber nicht alle Behandlungen so finanzieren, dass deren Zugänglichkeit garantiert ist. Jedoch hat niemand den Mut, dies den Patienten mitzuteilen. Statt einer ehrlichen Darstellung der Angelegenheit und einer klaren Kommunikation, dass nur die kostspieligsten Krankheiten mit öffentlichen Geldern behandelt werden können, haben wir es mit einer schleichenden Unterwerfung unter den Markt und einer Spaltung des Gesundheitssektors zu tun. Diejenigen, die es sich leisten können, verzichten auf den öffentlichen Gesundheitsdienst zugunsten eines privaten, vollständig selbstfinanzierten. Der Rest in der Warteschlange ist ein Beweis dafür, dass gesellschaftliche Ungleichheit auch aufgrund fehlenden Mutes der Regierenden generiert werden kann.
Sollten noch Zweifel über die Methoden der governance bestehen, die der polnische Staat gewählt hat, um öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen, lässt sich schließlich der Bereich der öffentlichen Ausschreibungen heranziehen. Es dominiert die Regel der niedrigsten Kosten, was für die Buchhalter und die Bürokratie bequem ist. Es ist ja leichter, eine Entscheidung auf diese Weise zu begründen, als sich in schwierige Qualitätsanalysen zu begeben, wobei einem der Vorwurf der Korruption drohen könnte. Leider hat diese Lösung wesentliche Nachteile, was beim Bau des Autobahnnetzes deutlich wurde. Die Baufirmen, die das Entscheidungskriterium für die Ausführung kannten, senkten die Preise auf ein unrealistisches Niveau und führten sich selbst mehrfach an den Rand des Bankrotts. Die, die ihren Auftrag einlösten, setzten Produkte von geringer Qualität ein, was leider bei manchen Straßen oder beim Flughafen in Modlin (in der Nähe von Warschau) zu sehen ist, der wegen Fehlern bei der Ausführung der Startbahn geschlossen wurde. Manche Firmen versuchen noch auf eine andere Weise, sich an den Grundsatz der geringsten Kosten anzupassen, und zwar über Preisabsprachen und die Aufteilung des Marktes. Anfang 2013 entschied sich die Europäische Kommission als Antwort auf die Entdeckung eines solchen Falls durch die polnischen Behörden, einer Tranche der EU-Fördermittel für den Straßenbau zurückzuhalten.
Eine zweite Transformation?
Die dargestellten Probleme zeigen, dass die Versorgung mit öffentlichen Gütern nach dem Prinzip, Markt und Buchhalterlogik miteinander zu verknüpfen, aber gleichzeitig eine eindeutige Bestimmung der Verantwortlichkeiten zu vermeiden, auf wesentliche Beschränkungen stößt. Hinzu kommt, dass das ständige Ringen mit dieser inneren Inkohärenz das Denken in strategischen, langfristigen Kategorien sehr erschwert. Dies hat zur Folge, dass Anpassungen zwar eintreten, aber erst angesichts des kompletten Zusammenbruchs der Systeme und verbunden mit Kosten, die hätten vermieden werden können. Das Wesen der Veränderungen ist vor allem eine Präzisierung der Verantwortlichkeiten – ein Schritt, der zeigt, dass sich die Logik des Marktes bei der Schaffung von öffentlichen Gütern in Polen schrittweise durchsetzt. Die Bürger scheinen diesen Prozess zu unterstützen, was überraschen mag. Angesichts der Verdrossenheit über die Illusion von der Gerechtigkeit, die der große und ineffektive Staat beschwört, gewinnt aber der Wunsch Oberhand, nach klaren Regeln zu agieren. Erst diese erlauben, sich mit dem Problem der Gerechtigkeit sinnvoll auseinanderzusetzen, so die Ansicht von immer mehr Polen.
Der schrittweise Rückzug des paternalistischen Staates zugunsten des Marktes ist auch in der institutionellen Umgebung der Firmen zu sehen. Seit einigen Jahren lassen sich eine Durchforstung der Regulierungen und deren Konzentration in ausgewählten Bereichen beobachten. Sogar die Parteien haben aufgehört, vor den Wahlen davon zu sprechen, dass sie neue Gesetze in den Schubladen liegen haben; vielmehr kündigen sie Ideen für die Vereinfachung der Regulierungen an. Interessant ist, dass sie auch das populistische Stichwort vom »billigen Staat« aufgegeben haben, dessen Umsetzung im Wesentlichen eine Desorganisation der governance in Polen bedeuten würde. Es lässt sich also sagen, dass sich in ein oder zwei Wahlperioden ein überparteilicher Kompromiss abzeichnen wird, der in marktorientierten Lösungen sowie etwas weniger Staat bestehen wird. Dabei wird er sich klarerer Regeln bedienen und in der Lage sein, diese durchzusetzen.
Das erste Anzeichen dieser Veränderungen ist der Rückgang der Korruption. Noch vor zehn Jahren lag Polen auf dem abgeschlagenen Platz 67 des »Corruption Perception Index« von Transparency International. Zuletzt stieg es in den Bereich von Platz 40 auf und liegt damit vor Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Auf diesen Fortschritt hatte die harte Antikorruptionskampagne der Regierung von PiS in den Jahren 2005 bis 2007 sicherlich keinen geringen Einfluss. Allerdings zeitigte sie auch viele Nebeneffekte, beispielsweise ein verstärktes Misstrauen der Unternehmen gegenüber dem Staat. Ein viel besseres Ergebnis – und darin muss man die Ursache des Erfolgs sehen – erbrachte die »langweilige« Sichtung der Regulierungen.
Man kann die These aufstellen, dass Polen in der Zeit der Krise unbemerkt in eine Phase eintrat, die man als zweite Transformation bezeichnen kann. Die erste Transformation umfasste den Aufbau von Institutionen des Marktes, die Grenzöffnung und den Beitritt zur Europäischen Union. Diese Etappe ist im Wesentlichen abgeschlossen. Die zweite muss sich auf ausgewählte Schwächen des Systems konzentrieren, wozu auch die Qualität des Regierens gehört. Die Grundlage muss dabei die Reflexion darüber sein, unter welchen Bedingungen der Pole seinen Wohlstand besser aufbauen kann. Viele Argumente sprechen dafür, dass er einen kleinen familiären Betrieb haben möchte, dem der Staat einfache Regeln garantiert, eine gute Infrastruktur und solide Innovationen.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Quellen:
Doing Business 2013. Smarter Regulations for Small and Medium-Size Enterprises. World Bank, 2013. http://www.doingbusiness.org/~/media/GIAWB/Doing%20Business/Documents/Annual-Reports/English/DB13-full-report.pdfCorruption Perception Index 2012. Transparency International, 2012. http://cpi.transparency.org/cpi2012/