Der Blick der Polen und der Ukrainer über ihre gemeinsame Grenze hinweg

Von Łukasz Wenerski (Institut für Öffentliche Angelegenheiten, Warschau)

Zusammenfassung
Seit den ersten Tagen der Proteste in der Ukraine haben sich polnische Politiker, Medien und gewöhnliche Bürger zugunsten einer friedlichen Lösung des Konflikts beim östlichen Nachbarn engagiert. Die polnischen Reaktionen auf die Situation in der Ukraine gehen jedoch weit über die Aktivitäten der politisch Verantwortlichen oder die Berichterstattung der Medien hinaus. Eine Antwort auf die Rechtsbeugung beim östlichen Nachbarn waren und sind Hunderte Aktionen von Bürgern und Nichtregierungsorganisationen, die mit den prodemokratischen Aktionen der Ukrainer sympathisieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was die polnische und die ukrainische Gesellschaft verbindet, wie sie sich wahrnehmen und welchen Platz sie für einander in Europa sehen. Diesen Fragen ging das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) in repräsentativen Befragungen von Polen und Ukrainern im Juli und August 2013 nach. Danach können die Beziehungen als gut bezeichnet werden, was aber starke Divergenzen bei der Beurteilung von tragischen Ereignissen in der gemeinsamen Geschichte nicht ausschließt. Die aktive Rolle Polens als Fürsprecher der Ukraine in der EU wird in der Ukraine positiv bewertet. Dagegen ist die Einschätzung des polnischen Einflusses auf das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland einerseits und den USA andererseits deutlich zurückhaltender.

Seit den ersten Tagen der Proteste in der Ukraine haben sich die politisch Verantwortlichen Polens, die Medien und Bürger zugunsten der Lösung des Konflikts beim östlichen Nachbarn engagiert. Polnische Politiker unterschiedlicher Couleur waren wiederholt auf dem Majdan in Kiew anwesend, und der polnische Außenminister Radosław Sikorski begleitete zusammen mit seinem deutschen und seinem französischen Kollegen, Frank-Walter Steinmeier und Laurent Fabius, die Erarbeitung und Unterzeichnung der Kompromissvereinbarung zwischen der ukrainischen Opposition und Staatspräsident Viktor Janukowitsch am 21. Februar 2014. Polnische Journalisten berichteten live vom Majdan und die Nachrichtensendungen widmeten viele Tage lang einen wesentlichen Teil ihrer Sendezeit den Ereignissen in der Ukraine. Die polnischen Reaktionen auf die Situation in der Ukraine gehen jedoch weit über die Aktivitäten der Politiker oder die Berichterstattung der Medien hinaus. Eine Antwort auf die Rechtsbeugung beim östlichen Nachbarn waren und sind Hunderte Aktionen von gewöhnlichen Bürgern und Nichtregierungsorganisationen, die mit den prodemokratischen Aktionen der Ukrainer sympathisieren. Daher stellt sich die Frage, was die polnische und die ukrainische Gesellschaft verbindet, wie sie sich wahrnehmen und welchen Platz sie für einander in Europa sehen. Diese Fragen stellte das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) im Rahmen einer Umfrage im Juli und August 2013 einer repräsentativen Gruppe von Polen und Ukrainern. Nach den Umfragen in den Jahren 2000 und 2010 war dies die dritte Untersuchung dieser Art.

»Zwei minus« für die bilateralen Beziehungen

Über 20 Jahre lang blieb die Ukraine im Verhältnis zu Polen die »jüngere Schwester«, die »Schülerin«, die ihre Hausaufgaben nicht besonders gut macht, was sowohl Frustrationen bei den politischen Eliten Polens, die sich für die polnisch-ukrainischen Beziehungen engagierten, hervorrief als auch eine gewisse Enttäuschung in der polnischen Gesellschaft. Im Bereich der bilateralen Beziehungen stießen hier zwei Konzepte aufeinander. Das eine forderte, dass sich Polen teilweise aus der Rolle des Anwalts der Ukraine zurückziehen solle, da bisher kein einziger wichtiger Erfolg zu verzeichnen gewesen sei. Das andere wies darauf hin, dass jedwede Reduzierung des Engagements als Verrat an der Ukraine aufgefasst werden könne, da sich der ukrainische Staat dann in einem noch größeren Chaos verstricken würde.

Einige Monate vor Ausbruch der Proteste in der Ukraine gestalteten sich die Beziehungen zwischen dem polnischen »Lehrer« und dem ukrainischen »Schüler« sowohl nach Meinung von Polen als auch von Ukrainern gut, so das Urteil von 85 Prozent der vom ISP befragten Ukrainer und 65 Prozent der Polen (s. Grafik 1 auf S. 7). Der Vergleich dieser Ergebnisse aus dem Jahr 2013 mit denen aus dem Jahr 2000 zeigt allerdings, dass sich der Anteil der negativen Bewertung der polnisch-ukrainischen Beziehungen auf Seiten der befragten Polen vergrößert hat. Im Jahr 2000 bezeichneten 13 Prozent der Einwohner Polens die Beziehungen als »eher schlecht«, 1 Prozent als » »sehr schlecht«. 13 Jahre später stieg die Häufigkeit auf 29 bzw. 2 Prozent. Ein solcher Anstieg der negativen Bewertung war sicherlich der Enttäuschung geschuldet, dass sich die mit der »orangenen Revolution« verbundenen Hoffnungen aufgelöst hatten. Auch die Sackgasse, in die die Bemühungen um Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der Europäischen Union geraten waren, sowie die immer ernsteren Probleme mit der Demokratie in der Ukraine, inklusive die Inhaftierung politischer Opponenten, dienten ganz bestimmt nicht dem Image der Ukraine in den Augen der Polen und einer positiven Wahrnehmung der polnisch-ukrainischen Beziehungen. Eine größere Anzahl negativer Antworten tauchte auch auf ukrainischer Seite auf. Während in den Befragungen des ISP in den Jahren 2000 und 2010 4 bzw. 3 Prozent angaben, dass die bilateralen Beziehungen nicht gut seien, stieg dieser Anteil im Jahr 2013 auf 10 Prozent. Sicherlich bestand diese Gruppe aus zwei gegensätzlichen Lagern von Unzufriedenen. Die Vertreter des einen sind der Ansicht, dass Polen mit allen Mitteln versucht, die Rolle des »Betreuers« und »älteren Bruders« der Ukrainer einzunehmen. Das andere dagegen meint, dass sich die Polen zu wenig für die Ukraine und ihre Interessen in Europa und weltweit einsetzen.

In beiden Ländern waren regionale Unterschiede bei der Bewertung der polnisch-ukrainischen Beziehungen festzustellen. Interessanterweise zeigten die Einwohner der Zentralukraine den größten Optimismus – 92 Prozent gaben den ukrainisch-polnischen Beziehungen eine gute Note. Ihnen folgte die westliche Region der Ukraine mit 88 Prozent positiver Bewertungen. In Polen sahen die regionalen Differenzierungen etwas anders aus: Am häufigsten beurteilten die Einwohner der von der Ukraine am weitesten entfernten Regionen, das heißt des polnischen Südwesten, die Beziehungen positiv, und zwar 74 Prozent. Der Durchschnittswert der positiven Urteile der Einwohner der Grenzregion zur Ukraine wich dagegen nicht vom Durchschnittswert der polnischen Gesellschaft ab, wobei da die Bewertung »sehr gut« fehlte. Die Befragten wählten die Antwort, die Beziehungen seien »eher gut«.

Die Ukraine ist für die Polen wichtig, Polen für die Ukraine eine Priorität

Das Engagement Polens für die Unterzeichnung des Assoziierungsvertrags zwischen der Ukraine und der Europäischen Union und die Erwartung vieler Ukrainer, dass Polen die Ukraine in einem für sie so wichtigen Moment nicht allein lassen würde, waren die Konsequenz dessen, dass die Einwohner beiderseits der Grenze den bilateralen Beziehungen großes Gewicht beimessen. Über 80 Prozent der polnischen Gesellschaft waren überzeugt, dass die beiderseitigen Beziehungen wesentlich sind, dabei gab fast ein Viertel der Befragten an, dass man sie als prioritär behandeln solle. Auf der anderen Seite bewertete die Hälfte der Ukrainer die Beziehungen zu Polen als prioritär und ein weiteres Drittel betrachtete sie als wichtig (s. Grafik 2 auf S. 7).

Die Untersuchungen des ISP aus dem Jahr 2013 zeigen, dass in der Ukraine im Laufe weniger Jahre recht wichtige Veränderungen in der Wahrnehmung der Beziehungen zu Polen eingetreten sind. Die Bedeutung dieser Beziehungen stieg in den Augen der Ukrainer im Vergleich zu der Zeit, als ähnliche Untersuchungen durchgeführt worden waren, vehement an. Im Jahr 2010 hielten nur 22 Prozent der Ukrainer die Beziehungen für prioritär – im Vergleich zu den 50 Prozent im Jahr 2013. Diese Ergebnisse zeigen u. a., dass viele Ukrainer das Engagement Polens für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens wertschätzten und die Popularität der Westintegration in den letzten Jahren in der Ukraine deutlich anstieg. Neben dem positiven Bild des Westens als attraktiver Lebensort war hier auch die aggressive Politik Russlands von Bedeutung, das sich mit allen Mitteln bemühte, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU zu verhindern. Die Antwort der Ukrainer auf diese Politik war das wachsende Interesse an internationalen Angelegenheiten, verbunden mit der zunehmenden Unterstützung für die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union.

Die Meinungen zu internationalen Themen sind in der Ukraine regional sehr unterschiedlich (s. Grafik 9 auf S. 10). Auch bei der Bewertung der ukrainisch-polnischen Beziehungen werden diese Differenzierungen sichtbar. Der Westen der Ukraine schrieb den Beziehungen zu Polen ein deutlich größeres Gewicht zu als der Osten, was nicht weiter verwunderlich ist. Gleichzeitig betrachteten die Bewohner der Süd- und Ostukraine die Beziehungen zu Polen meistens als wenig oder überhaupt nicht wichtig – so 16 bzw. 13 Prozent der Einwohner dieser Regionen im Vergleich zu 5 Prozent der Einwohner der Westukraine. Allerdings muss hier hervorgehoben werden, dass unabhängig von den regionalen Unterschieden die Meinungen, dass die Beziehungen zu Polen wesentliches Gewicht haben, durchgängig weiter verbreitet waren als die gegenteilige Ansicht.

In Polen dagegen stellte sich die geographische Aufteilung der Meinungen zur Bedeutung der Beziehungen zur Ukraine als recht paradox dar. Als prioritär bezeichneten sie meistens die Bewohner der südwestlichen Region (27 Prozent) sowie der nordöstlichen Region (30 Prozent), während die Einwohner des unmittelbar an die Ukraine angrenzenden Gebietes diese Bewertung am seltensten teilten (19 Prozent).

Unter den polnischen Respondenten begünstigten Kontakte mit Ukrainern sowie Aufenthalte in der Ukraine, dass die Beziehungen als prioritär bewertet wurden; dieses Urteil äußerten 27 Prozent der Befragten, die die Ukraine kannten oder direkte Kontakte mit ihren Einwohnern hatten, im Vergleich zu 22 Prozent derjenigen, die solche Kontakte nicht hatten. Bei den Ukrainern vergrößerten die Kontakte mit Polen und den Polen noch deutlicher den Anteil derer, die den Beziehungen zu Polen höchste Priorität zumaßen. Dies fanden 65 Prozent derer, die in Polen gewesen waren, im Vergleich zu 48 Prozent, die noch nicht in Polen gewesen waren, sowie 57 Prozent derjenigen, die Kontakte mit Polen hatten zu 48 Prozent, die solche Kontakte nicht hatten.

Polen als Fürsprecher

Polen bemühte sich in den letzten Jahren, für die Ukraine nicht nur »Lehrer« zu sein, sondern auch »Anwalt« vor der Europäischen Union. Dies äußerte sich im deutlichen Engagement Polens für den Europäisierungsprozess der Ukraine, was bedeutete, einerseits die Ukraine näher an die EU heranzuführen und andererseits die EU-Mitgliedsländer zu sensibilisieren. Die Untersuchungen des ISP haben überprüft, wie die Rolle des polnischen »Anwalts« von den Ukrainern und von den Polen selbst wahrgenommen wurde. Darüber hinaus wurde auch die Rolle Polens beim Aufbau von Beziehungen zwischen der Ukraine und anderen großen Akteuren auf der internationalen Bühne angesprochen. Die Respondenten beider Länder wurden um Antwort gebeten, ob Polen bei der Intensivierung der Beziehungen der Ukraine zur Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika hilft oder schadet. Es stellte sich heraus, dass die polnischen und die ukrainischen Bewertungen dieser Frage recht ähnlich sind. Nach Meinung der Befragten trat Polen als Fürsprecher der Ukraine in der Europäischen Union auf, während seine Rolle beim Aufbau der Beziehungen zu den beiden anderen politischen Größen mit internationaler Bedeutung deutlich begrenzter ist (s. Grafik 3 auf S. 7).

Was die positive Rolle beim Aufbau guter Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU betrifft, erwiesen sich die Antworten der Polen und der Ukrainer als recht ähnlich. Allerdings glaubten die Polen stärker an den positiven Einfluss Polens auf die Beziehung Ukraine – EU; diese Meinung teilten 57 Prozent der Polen und 51 Prozent der Ukrainer (s. Grafik 4 auf S. 8).

Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig sowohl in den Augen der Polen als auch der Ukrainer die Rolle Polens bei der Entwicklung eines Bewusstseins für die Situation in der Ukraine in den anderen EU-Mitgliedsländern ist. Die Polen engagierten sich aktiv für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine. Nach dem Fiasko dieses Vorhabens und dem einsetzenden Widerstand gegen die ukrainische Regierung engagierte sich Polen mit noch größerer Bestimmtheit zum einen um die Lösung des Konflikts, zum anderen aber auch um die Internationalisierung der ukrainischen Krise. Sowohl Politiker als auch gewöhnliche Bürger wurden mit dem Ziel aktiv, anderen Staaten und Bürgern der EU bewusst zu machen, was sich tatsächlich auf dem Majdan in Kiew und in anderen Städten der Ukraine ereignete.

Kontakte und Fahrten ins Nachbarland förderten sowohl bei den Polen als auch bei den Ukrainern eine positivere Bewertung der Rolle Polens für die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU. Allerdings war dieser Zusammenhang bei den Ukrainern deutlicher ausgeprägt. Dabei ist ein Zusammenhang zwischen den Meinungen und dem Wohnort festzustellen. Die größten Unterschiede traten zwischen den Meinungen der Bewohner der Westukraine und der Süd- und Ostukraine auf: 66 Prozent der Westukrainer meinten, dass Polen bei der Intensivierung der Zusammenarbeit mit der EU hilft, gegenüber nur 42 Prozent der Bewohner der Süd- und Ostukraine. Dagegen waren sowohl Polen als auch Ukrainer der Ansicht, dass Polen wenig hilfreich beim Aufbau der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland ist (s. Grafik 5 auf S. 8). Die Mehrheit der Polen und der Ukrainer fand, dass Polen keine allzu wichtige Rolle in diesen Beziehungen spielt. Über die Hälfte der Befragten in beiden Ländern wählte für die Anknüpfung einer engeren Zusammenarbeit mit Russland die Antwort »weder hilfreich noch störend«. Interessant ist hier, dass mehr Polen als Ukrainer meinten, dass Polen einer Intensivierung der ukrainisch-russischen Beziehungen eher hinderlich ist.

Die Kontakte mit den Nachbarn oder Fahrten in das andere Land hatten keinen Einfluss auf die Beurteilung der Rolle Polens beim Ausbau der Zusammenarbeit mit der Ukraine. Der Wohnort hatte ebenfalls keine wesentliche Bedeutung, obgleich die Bewohner des Ostens und des Nordens der Ukraine am wenigsten angaben, dass Polen beim Ausbau hilft (9 bzw. 8 Prozent im Vergleich zu 14 Prozent unter den Respondenten der Südukraine und 12 Prozent der Respondenten im Westen).

Sowohl Ukrainer als auch Polen schätzten auch die Rolle Polens beim Aufbau guter Beziehungen zwischen der Ukraine und den USA als weniger wichtig ein als in Bezug auf die Beziehungen zur EU (Grafik 6 auf S. 8).Obgleich zweimal so viele Befragte in beiden Ländern der Meinung waren, dass Polen hilft, gute Beziehungen zu den USA aufzubauen, als bei der entsprechenden Frage in Bezug auf Russland, war dennoch die Mehrheit überzeugt, dass Polen keinen Einfluss auf diese Beziehungen hat. Die Ukrainer fanden deutlich häufiger, dass Polen eine positive Rolle in diesen Beziehungen spielt, aber ebenso häufig hatten sie keine Meinung in dieser Frage.

Betrachtet man die regionalen Unterschiede, gaben die Einwohner der westlichen Gebiete der Ukraine der Rolle Polens mehr Gewicht (31 Prozent) als die Bewohner der Regionen im Osten (22 Prozent), Süden (22 Prozent) und Norden (21 Prozent) der Ukraine.

Ist die Geschichte von Bedeutung?

Die gegenwärtigen polnisch-ukrainischen Beziehungen, das Engagement Polens in Sachen »Östliche Partnerschaft«, zu der die Ukraine gehört, die Unterstützung der Annäherung der Ukraine an die Europäische Union sowie der aktive Anteil Polens an der friedlichen Lösung des aktuellen Konflikts in der Ukraine lassen Hoffnung schöpfen, dass sich die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine hervorragend weiterentwickeln werden, sobald sich die Situation beruhigt haben wird, und die bilateralen Beziehungen für beide Staaten Priorität haben werden. Allerdings ist für den Aufbau langfristiger Beziehungen nicht nur der Blick in die Zukunft notwendig, sondern auch Bemühungen, die gemeinsame Geschichte zu verarbeiten, in der Polen und Ukrainer viele schwierige Momente erlebt haben. Beide Nationen lebten über viele Jahrzehnte in einem gemeinsamen Staat, wobei ein Teil der heutigen Ukraine sowohl zur Ersten als auch zur Zweiten Polnischen Republik gehörte, was allerdings nicht bedeutet, dass dies die Koexistenz immer erleichterte, was der Chmelnyckyj-Aufstand zeigt. Eine besondere Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Nationen brachten der Zweite Weltkrieg und seine Folgen mit sich – bis heute wecken das »Massaker von Wolhynien« und die »Aktion Weichsel« viele Kontroversen. Da es aber auch in den polnisch-deutschen Beziehungen gelungen ist, komplizierte Fragen der gemeinsamen Vergangenheit zu klären, zeitigt der gute Wille in den polnisch-ukrainischen Beziehungen möglicherweise ähnliche Wirkungen.

Dass bestimmte historische Ereignisse immer noch problematisch sind, zeigen die Fragen danach, ob Polen und die Polen bzw. die Ukraine und die Ukrainer den anderen um Vergebung bitten sollten (s. Grafik 7 auf S. 9). Bei den Antworten werden deutliche Kontraste sichtbar. Über 70 Prozent der Polen und 40 Prozent der Ukrainer meinten, dass es in der polnisch-ukrainischen Geschichte Ereignisse gab, derentwegen sich die Ukrainer gegenüber den Polen schuldig fühlen sollten. Die Beurteilungen, ob die Polen Schuld gegenüber den Ukrainern tragen, verteilen sich dagegen in beiden Gesellschaften sehr ähnlich (50 bzw. 52 Prozent). Im Allgemeinen tragen nach Meinung der Polen häufiger die Ukrainer Schuld und nach Überzeugung der Ukrainer die Polen – was nicht überraschend ist, wobei vor allem die Ukrainer deutlich häufiger als die Polen keine Meinung zur Frage von Unrecht und Schuld auf beiden Seiten hatten. Sie sahen auch häufiger auf keiner der beiden Seiten Schuld (Grafik 8 auf S. 9). Die Polen wiederum sahen deutlich häufiger die Schuld auf beiden Seiten. Diejenigen, die Schuld nur auf einer Seite feststellten, waren im Allgemeinen der Ansicht, dass die anderen sie zu tragen hatten – so dachten die Polen über die Ukrainer und die Ukrainer über die Polen.

Einer der wichtigen Faktoren, der die Antworten der Respondenten unterschied, war das Bildungsniveau. Je höher es war, desto häufiger wurde die Überzeugung geäußert, dass man sich in einer Schuld- und Unrechtsgemeinschaft befindet.

Das Alter der Befragten hatte ebenfalls deutlich Einfluss auf die Ausdifferenzierung der Antworten. Die Meinung, dass sowohl die Polen gegenüber den Ukrainern eine historische Schuld tragen und umgekehrt die Ukrainer gegenüber den Polen, war in beiden Ländern stärker unter den älteren Respondenten verbreitet. Wichtig ist dabei, dass sie nicht nur häufiger von der Schuld der Nachbarn gegenüber der eigenen Gesellschaft überzeugt waren, sondern sie auch eine ausgewogenere Perspektive einnahmen und Schuld auf beiden Seiten wahrnahmen. Je jünger die Befragten, desto seltener waren sie bereit, an die historische Schuld zu erinnern.

Des Weiteren muss unterstrichen werden, dass die Ukrainer, die schon in Polen gewesen waren bzw. Kontakte nach Polen hatten, eine größere Offenheit bei der Wahrnehmung des Nachbarn erkennen ließen. Deutlich häufiger waren sie der Meinung, dass die Schuld auf beiden Seiten liegt. Eine ähnliche Tendenz war in Polen festzustellen.

Zwar betraf die Frage nach der historischen Schuld nicht direkt das sogenannte Massaker von Wolhynien, aber es ist anzunehmen, dass ein deutlicher Teil der polnischen Respondenten an dieses historische Ereignis dachte. Darauf weisen die Ergebnisse der Frage hin, bei der Polen und Ukrainer gebeten wurden, die wichtigsten Assoziationen zum Nachbarland anzuführen. 11 Prozent aller Assoziationen betrafen das Wolhynien-Massaker, was fast die Hälfte (44 Prozent) der historischen Assoziationen konstituierte. Dies ergab sich vor allem daraus, dass die Befragung um den 70. Jahrestag der Tragödie von Wolhynien durchgeführt wurde, gleich nach der Debatte im polnischen Sejm, in der über die Resolution zum Gedenken dieses Ereignisses diskutiert worden war. Ein Teil der Politiker hatte gefordert, eine Formulierung in die Resolution aufzunehmen, die vom Völkermord an den Polen durch das ukrainische Volk spricht. Die Medien widmeten sowohl der Debatte im Sejm als auch den Gedenkfeierlichkeiten viel Aufmerksamkeit, wobei sich die Beiträge eher einseitig auf die Ereignisse in Wolhynien konzentrierten und Konflikte in anderen Regionen außer Acht ließen und nicht den Versuch unternahmen, den breiteren Kontext der tragischen Ereignisse zu beleuchten. Offensichtlich übte diese Botschaft Wirkung auf die polnischen Assoziationen zur Ukraine aus.

Die hier dargestellten Ergebnisse sollten zu den Umfrageergebnissen des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom Juli 2013 in Beziehung gestellt werden, die die Meinung der Polen wiedergaben, ob die Möglichkeit der Versöhnung zwischen Ukrainern und Polen bestünde. Nur ein Drittel der Polen war bereit, die historische Schuld zugunsten des Aufbaus gutnachbarlicher Beziehungen zu vergessen, während die Mehrheit der Gesellschaft (58 Prozent) der Meinung war, dass man anstreben sollte, die ganze Wahrheit über die tragischen Ereignisse von Wolhynien zu enthüllen, und sich dabei nicht vor den Konsequenzen für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern fürchten sollte. Wenn man in Betracht zieht, dass ein Fünftel der polnischen Gesellschaft davon überzeugt ist, dass die Schuld allein auf ukrainischer Seite liegt, stimmt dies nicht gerade optimistisch, dass die polnisch-ukrainische Versöhnung ohne eine gründliche Debatte möglich ist, die nicht nur die Ereignisse in Wolhynien in den Jahren 1943/44, sondern auch den breiteren historischen und geographischen Kontext thematisiert. Hoffen wir, dass die, die an der Debatte teilnehmen, bereits die Vertreter einer demokratischen Ukraine sein werden, die die Pathologien der vergangenen 20 Jahre der unabhängigen Ukraine bekämpfen und die Ukraine schnellen Schrittes an die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Standards der Europäischen Union annähern werden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Anmerkung

Die Untersuchung wurde in Polen und in der Ukraine in Form von Telefoninterviews von der Firma GfK durchgeführt. Die Probe umfasste 1.000 Personen, wobei in der Ukraine zusätzlich 300 Einwohner der Westukraine befragt wurden, was genauere Schlüsse über die Einstellungen der Einwohner dieser Regionen zu ziehen erlaubte. Auf der Grundlage der Untersuchung wurde im Rahmen des Forschungsprojektes »Wizerunek Polski, Polaków na Ukrainie oraz Ukrainy, Ukraińców w Polsce« [Das Bild Polens und der Polen in der Ukraine sowie der Ukraine und der Ukrainer in Polen] der Bericht von J. Fomina, J. Konieczna – Sałamatin, J. Kucharczyk, Ł. Wenerski »Polska – Ukraina, Polacy – Ukraińcy. Spojrzenie przez granicę« [Polen – Ukraine, Polen – Ukrainer. Der Blick über die Grenze], Instytut Spraw Publicznych, Warszawa 2013 erstellt. Der Bericht ist in polnischer und in ukrainischer Sprache veröffentlicht sowie als Zusammenfassung in englischer Sprache: <http://www.isp.org.pl/site.php?id=25&pub=638&lang=2&lang=1>

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Analyse

Polen und Deutsche – fünf Jahre gemeinsam in der Europäischen Union

Von Agnieszka Łada
Nach einer aktuellen repräsentativen Studie zu den deutsch-polnischen Beziehungen und den gegenseitigen Wahrnehmungen stellen zwei Drittel der Polen und fast die Hälfte der Deutschen das Verhältnis zum Nachbarn als positiv dar. Betrachtet man allerdings die Bewertung von einigen Aspekten des Verhältnisses wie beispielsweise die Einschätzung der Europapolitik des Nachbarn, dessen Verhältnis zu Russland und die sich daraus ergebenden Strategien sowie die gegenseitige Akzeptanz als Freund, Kollege oder Chef, so ergibt sich ein differenzierteres Bild. Dabei ist die Entwicklung der gegenseitigen Einschätzungen, die über die letzten Jahre zu beobachten ist und in Teilbereichen Verschlechterungen erkennen lässt, nicht zuletzt auf die bilaterale politische Wetterlage zurückzuführen, aber auch auf Asymmetrien in der Berichterstattung über den Nachbarn. Des Weiteren ist eine zunehmende Gewöhnung aneinander und die Wahrnehmung des anderen als Partner in verschiedenen Rollen festzustellen.
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