Die Wahl zum Europäischen Parlament in Polen

Von Janusz A. Majcherek (Pädagogischen Universität, Krakau)

Zusammenfassung
Bei der Wahl zum Europäischen Parlament konnte die regierende konservativ-liberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) einen minimalen Vorsprung vor der oppositionellen konservativ-nationalen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) erhalten. Die sinkende Unterstützung für die PO, die auch auf die Ermüdung der Wähler angesichts der langjährigen politischen Dominanz dieser Partei zurückzuführen ist, wurde durch die Zustimmung zu den internationalen Aktivitäten der Regierung in der Ukraine-Krise aufgefangen. PiS kann insofern von einem Erfolg sprechen, da ihr Abstand zur PO nur minmal ist und sie ihren Besitzstand im Europäischen Parlament deutlich verbessert hat. Die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) sah sich damit konfrontiert, dass sich die sozial benachteiligten Wähler eher an PiS orientieren. Einen unerwarteten Wahlsieg erzielte die eskapistische Neue Rechte von Janusz Korwin-Mikke (Nowa Prawica Janusza Korwin-Mikke), die einen extremen ökonomischen Liberalismus mit einem kulturellen Ultrakonservatismus und Antietatismus verbindet, der sich antieuropäisch darstellt.

Nach einem schläfrigen Europa-Wahlkampf und bei niedriger Wahlbeteiligung bezwang die in Polen in der zweiten Legislaturperiode regierende konservativ-liberale Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) mit minimalem Abstand die oppositionelle konservativ-nationale Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS). Die Linke erlebte eine weitere Niederlage, die Sensation der Wahl war jedoch der exzentrische Ultralibertin Janusz Korwin-Mikke, dessen Gruppierung die 5-Prozent-Hürde mit über 7 Prozent deutlich überstieg und vier Mandate für sich gewann.

Wenige Monate vor der Wahl gab es die weit verbreitete Erwartung, dass sich der Wahlkampf auf landesspezifische und nicht auf europäische Probleme konzentrieren würde, nur wenige wählen gehen und die Oppositionspartei PiS siegen würde, was dem Überdruss in Anbetracht der langen Regierungszeit der PO geschuldet gewesen wäre. Die Wahlbeteiligung ist in Polen bei allen Wahlen niedrig und bei den Europawahlen schon traditionell am niedrigsten (am höchsten ist sie bei den Präsidentschaftswahlen, die direkt und allgemein sind). In dieser Hinsicht haben sich die ursprünglichen Erwartungen erfüllt, nur knapp 24 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Die so hohe Wahlabsenz kontrastiert krass mit der sehr hohen Akzeptanz der Mitgliedschaft in der Europäischen Union in der polnischen Gesellschaft, mit der großen Zufriedenheit und dem großen Vertrauen gegenüber den Institutionen der EU, das deutlich höher als dasjenige ist, was den Politikern und staatlichen Organen im Land entgegen gebracht wird (eine Ausnahme ist das Amt des Staatspräsidenten). Eine der am stärksten pro-europäischen Gesellschaften in der EU ist also eine der am wenigsten bei der Wahl des Europäischen Parlaments engagierten (bei den vorangegangenen EP-Wahlen war die Beteiligung nur ein Prozent höher). Diesen Widerspruch kann man mit der bei den Polen allgemein geringen Bereitschaft, die eigenen Ansichten und Überzeugungen in konkretem Handeln und persönlichem Engagement auszudrücken, erklären. Dies gilt auch für die geringe Beteiligung in Nicht-Regierungs-Organisationen, Gewerkschaften und bei Demonstrationen. Die Passivität in öffentlichen Angelegenheiten ist eine der charakteristischen Eigenschaften der heutigen Polen und die Wahl zum Europäischen Parlament hat diesen Befund bestätigt.

Auffällig ist auch, dass die Einführung des Euro in Polen im Wahlkampf nicht thematisiert wurde. Dies erklärt sich durch die ebenfalls überraschende Tatsache, dass die deutliche Mehrheit der pro-europäischen Polen die Einführung der europäischen Währung in Polen nicht will, was vor allem darauf beruht, dass die letzte Krise mit der Eurozone und eben ihrer Währung assoziiert wird: Die Wirtschaftskrise in Europa wird von vielen Polen als Krise der Eurozone wahrgenommen. Es herrscht die Überzeugung, dass es Polen gelang, sich vor dieser Krise dank einer eigenen Währung zu verteidigen, deren Kursschwankungen die ungünstigen Einflüsse der europäischen Wirtschaft amortisierten (der Fall des Polnischen Zloty erleichterte den Anstieg des Exports, auf den sich die Anti-Krisenpolitik stützte). Darüber hinaus stellen sich viele Polen recht naiv vor, dass die Übernahme der gemeinsamen Währung die Einführung vergleichbarer Preise wie in den anderen Euroländern bedeute, das heißt vor allem wie in Deutschland, wo die Preise aktuell mehrheitlich höher sind als in Polen. Die Politiker, die die Ablehnung der Polen gegenüber einer raschen Einführung des Euro kennen, haben dieses Thema im Wahlkampf vermieden. Ernstzunehmende Experten und Kommentatoren machen jedoch darauf aufmerksam, dass die wachsenden Bestrebungen Polens, eine größere Rolle in der Europäischen Union zu spielen, die sowohl aus dem Bevölkerungspotential resultieren (Polen stellt die sechstgrößte Bevölkerung in der EU) als sich auch aus dem steigenden wirtschaftlichen Potential ergeben, keine Substanz haben und nicht verwirklicht werden, solange Polen außerhalb der Eurozone bleibt, was im übrigen auch die Perspektive, wichtige Posten in der EU zu besetzen, einschränkt. Die Notwendigkeit, eine klare Strategie für den Beitritt zur Eurozone auszuarbeiten und vorzustellen, unterstrich vor den Europawahlen Staatspräsident Bronisław Komorowski – aber bitte erst nach den Wahlen!

Die Ereignisse in der Ukraine änderten jedoch die Thematik des Wahlkampfes und beeinflussten letztendlich das Wahlergebnis. Zum beherrschenden Thema wurde statt der erwarteten landesspezifischen Problematik die internationale und die Geopolitik. Die Ukraine-Frage hat für Polen und die Polen eine ganz wesentliche Bedeutung, denn die versuchte Unterordnung der Ukraine durch Russland würde bedeuten, dass Russland durch diese einen imperialen Status erlangt und den Weg des Expansionismus einschlägt, was für Polen eine tödliche Bedrohung darstellt, die schon manches Mal in der Geschichte Wirklichkeit geworden ist. Die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland ist daher ein Bestandteil der polnischen Staatsräson. Der europäische Kontext, insbesondere die Beziehungen zwischen der EU und Russland und der EU und der Ukraine, hat für den aktuellen und den zukünftigen Status der Ukraine eine sehr große Bedeutung, weshalb er Gegenstand lebhafter Diskussionen und Debatten in der Zeit des Wahlkampfes wurde, der zeitgleich mit der Eskalation der Krise in der Ukraine stattfand. Dies war für die regierende PO von Vorteil, denn Ministerpräsident Donald Tusk und Außenminister Radosław Sikorski waren in dieser Zeit intensiv auf internationaler Ebene tätig, trafen sich mit den wichtigsten europäischen Politikern, verkündeten weitere Initiativen, brillierten in den europäischen politischen Salons und waren deshalb die am häufigsten in den Medien präsenten polnischen Politiker, noch dazu in positiven Kontexten. Dies erhöhte ihre Umfragewerte, und die Unterstützung für die Ukraine und die Suche nach europäischen Verbündeten gegen Russland erlangten allgemeine Akzeptanz.

Die Opposition befand sich hier in der Defensive. Zum einen deshalb, weil die Versuche, der regierenden PO verschiedene Fehler, Schwächen und Unterlassungen in der Innenpolitik vorzuhalten, keine Chance hatten, sich gegen die dominierende ukrainische Thematik durchzusetzen. Zum anderen, weil eben in dieser Thematik fast die gesamte Opposition eine ähnliche Position wie die Regierung einnimmt und sich weder durch Andersartigkeit hervorheben konnte noch durch eigene Ideen und Initiativen. Es entstand der Eindruck, dass die ganze Initiative bei der Regierung liegt, die die Unterstützung der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung und die Zustimmung der Opposition erfuhr.

Dies führte zur Umkehr eines Trends, der seit etlichen Monaten vor den Wahlen einen anhaltenden Vorsprung der oppositionellen PiS und eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese die Europawahlen gewinnen würde, anzeigte, was wiederum die Unterbrechung der fatalen Pechsträhne von PiS gewesen wäre, die sich in den Niederlagen bei sieben aufeinander folgenden Wahlen (des Parlaments, des Staatspräsidenten, Kommunalwahlen und die letzen Europawahlen) niedergeschlagen hatte. Das Ergebnis der aktuellen Wahlen zum Europäischen Parlament galt also als Prognose vor den Kommunalwahlen im Herbst dieses Jahres und den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen im kommenden Jahr.

Der minimale Sieg der PO

Das Wahlergebnis der aktuellen Europawahl ist nicht eindeutig, obgleich es symbolische Bedeutung hat, da die PO doch wieder gewonnen hat und die Serie ihrer Wahlsiege und der Niederlagen von PiS verlängerte. Es war dies jedoch ein minimaler Sieg, denn es waren kaum 25.000 Stimmen von den 7 Mio. abgegebenen, das heißt weniger als 0,5 Prozent. Das bedeutet, dass die PO und PiS beide 19 Sitze im Europäischen Parlament erhalten haben (insgesamt stehen Polen 51 Mandate zu). In ihrer Fraktion nimmt die PO allerdings eine ungleich stärkere Position ein, denn auch wenn sie durch das aktuelle Wahlergebnis sechs Mandate verloren hat (vorher hatte sie 25 Sitze inne), gehören ihre Abgeordneten zur Siegerfraktion, der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), wo sie der stärkste Bündnispartner der CDU sind und mit wichtigen Posten und entsprechendem Einfluss rechnen können. Darüber hinaus haben sie die Unterstützung der vier Europaabgeordneten der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), mit der sie in Polen die Regierungskoalition bilden und die ebenfalls zur EVP gehört. Der ehemalige polnische Ministerpräsident Jerzy Buzek war vor Martin Schulz Präsident des Europäischen Parlaments und Janusz Lewandowski der sehr wichtige Haushaltskommissar. In der beginnenden Amtsperiode sind die Ambitionen der Polen nicht geringer.

Die PO ist eine proeuropäische Partei, aber mit vielen Strömungen und folglich zurückhaltend und vorsichtig gegenüber Projekten einer stärkeren Integration innerhalb der EU, die nicht alle ihre Politiker unterstützen. Mit der CDU läuft die Verständigung und Zusammenarbeit gut.

Der Erfolg von PiS

PiS kann auch von einem Erfolg sprechen, denn sie hat nur minimal gegenüber der PO verloren und ihren Besitzstand im Europäischen Parlament deutlich verbessert. Bei der vorangegangenen Wahl hatte sie nur 15 Mandate erhalten, zudem verließen einige Europaabgeordnete während der Amtszeit die Partei und ihre Fraktion zerfiel. Dennoch ist die Position von PiS auch weiter schwach, denn sie gehört zur marginalen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR), ebenso wie die britischen Konservativen, die außerdem im Kampf mit der UKIP eine Niederlage erfuhren (zur EKR gehört außerdem die Alternative für Deutschland). Das Verhältnis von PiS zu den Torys ist kompliziert und schwierig, denn diese betrieben letztens eine Antiimmigrationskampagne, die auch gegen die auf der Insel arbeitenden Polen gerichtet war, und das nahende Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union wird die Propaganda gegen die Immigranten sicherlich noch verschärfen. Hinzu kommt, dass die britischen Konservativen eine Beschränkung der Größe des europäischen Haushaltes fordern, dessen größter Nutznießer Polen ist. Im Europäischen Parlament haben die Abgeordneten von PiS also keine starken und treuen Verbündeten, daher zählen sie im Grunde nicht und haben keine Chance, eine bedeutende Rolle zu spielen. Das Ergebnis der Europawahl behandelt die Parteiführung aber als gute Prognose für die diesjährigen Kommunalwahlen in Polen und die Parlamentswahlen im kommenden Jahr (bei den Präsidentschaftswahlen hat kein Politiker von PiS die Chance, ein erfolgreicher Rivale des populären und geschätzten Staatspräsidenten Bronisław Komorowski zu werden, der wohl ganz sicher noch einmal kandidieren wird). Die Unterstützung durch die Wählerschaft auf einem mit der PO vergleichbaren Niveau nährt die Hoffnung von PiS, der Bürgerplattform die Regierungsverantwortung abnehmen zu können.

PiS ist eine europaskeptische Partei, aber keine antieuropäische, wenn auch eine antiföderalistische und gegen eine stärkere Integration. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten zu bewahren und wiederholt den alten Begriff de Gaulles des »Europa der Vaterländer«, was als Kooperation der Nationalstaaten zu verstehen ist.

Die Niederlage der SLD

Eine Niederlage erfuhr zum wiederholten Male die polnische Linke. Die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Leszek Miller geführte Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), die im Wahlkampf von Martin Schulz unterstützt wurde, erhielt knapp 10 Prozent der Stimmen und fünf Abgeordnetenmandate. Die Krise der polnischen Linken dauert also weiter an und es helfen ihr auch keine Image- oder Propagandamaßnahmen, wozu auch Versuche gehörten, Stars aus dem Showbusiness auf die Wahllisten zu setzen. Die grundlegende Ursache dafür ist das Fehlen eines erkennbaren und sinnvollen programmatischen und ideellen Angebots. In wirtschaftlichen Schlüsselfragen hat die Linke nichts anzubieten, sie wiederholt Allgemeinplätze vom Schutz der Schwächsten, sozialer Gerechtigkeit und dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit oder soziale Ausgrenzung. Dabei kam die polnische Wirtschaft gut in der Krise zurecht und befindet sich aktuell auf einer Welle hohen Wachstums (über 3,5 Prozent im 1. Quartal 2014 mit Indizien, dass es so weitergehen wird), was nicht den Boden für soziale Parolen bereitet. Die Linke hat außerdem die Entstehung und die Stärkung der Mittelschicht in Polen verpasst, die nun beginnt, das öffentliche Leben zu dominieren und gleichgültig gegenüber den Slogans für Arbeitslose oder schlecht verdienende Arbeiter ist, die seit Jahren von der Linken wiederholt werden. Außerdem wurde die sozial orientierte und fordernde Wählerschaft in einem deutlichen Maße von PiS abgefangen, was mit dem gesamteuropäischen Trend übereinstimmt, dass sich die Unzufriedenen an der Rechten orientieren. In Polen sind darüber hinaus die Ärmeren mit einem niedrigeren sozialen und materiellen Status im Allgemeinen eng mit der katholischen Kirche verbunden, die in sittlichen Fragen konservativ und weit von den weltanschaulichen Forderungen der Linken entfernt ist. Die Slogans der Linken landeten also in einem gesellschaftlichen Vakuum.

Mit einem Fiasko endete das speziell für die Europawahl initiierte Projekt einer alternativen Mitte-Links-Formation, die sich auf Janusz Palikot und den ehemaligen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski stützte. Palikot, ehemaliger PO-Abgeordneter, war der Urheber der großen Überraschung vor drei Jahren, als er an der Spitze der ad hoc gegründeten Palikot-Bewegung (Ruch Palikota) in den Parlamentswahlen über 10 Prozent erlangte und damit die drittgrößte Fraktion stellte. Deren Hauptmerkmal war, außer der Mitgliedschaft der ersten Transsexuellen im Sejm, ein scharfer Antiklerikalismus, der allerdings immer sonderbarere und geschmacklosere Form annahm und mit einer völlig unklaren Haltung zu anderen Fragen, insbesondere wirtschaftlichen, verknüpft war. Die Schirmherrschaft des ehemaligen und weiterhin allgemein geschätzten Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski und die von ihm auf die Wahlliste beförderten politischen Freunde (darunter auch bisherige Europaabgeordnete) stärkten diese Formation nicht, sondern verwischten ihr Profil, was ihr Angebot noch unklarer werden ließ. Die Wähler gaben ihrer Desorientierung und Enttäuschung Ausdruck, indem sie die Gruppierung unter dem Namen Europa Plus – Deine Bewegung (Europa Plus Twój Ruch) unter der 5-Prozent-Hürde landen ließen, so dass sie keine Mandate für das Europäische Parlament erlangte. Das Wahlbündnis hat sich bereits aufgelöst.

Ein Exzentriker sorgt für eine Sensation

Die Überraschung und Sensation der Wahl zum Europäischen Parlament wurde der exzentrische Veteran Janusz Korwin-Mikke. Dieser 72-jährige Politiker und vielschreibende Publizist (und gefragte Bridge-Spieler), politisch aktiv und für seine antikommunistische Tätigkeit schon 1964 mit Repressionen konfrontiert, inhaftiert auch 1968, begründete in den 1970er Jahren die organisierte antikommunistische Opposition mit, und zwar an ihrem extrem wirtschaftsliberalen und konservativem Rand, fasziniert von Margret Thatcher und Ronald Reagan. An der Spitze unterschiedlicher Gruppierungen nahm er am politischen Leben auch nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems teil, geriet aber als unberechenbarer und nicht ernstzunehmender Sonderling ins Abseits. Ein solches Image verdankte er nicht nur seinem fortgeschrittenen Libertarianismus und Engagement für immer kuriosere Kampagnen (zum Beispiel gegen die Gurtpflicht beim Autofahren als Beschränkung der persönlichen Freiheit) sowie seinen propagierten empörenden Ansichten (beispielsweise über die Entbehrlichkeit des Frauenwahlrechtes, weil Frauen ähnlich wie die Männer wählen und eine Doppelung der Stimmen nicht notwendig sei), sondern auch seinem Aussehen und seiner Lebensart (immer mit Fliege, spitzer Zunge und charakteristischem Stottern). Über Jahre hatte er eine Gruppe faszinierter Anhänger, die treffender als Jünger zu bezeichnen sind, aber bei keiner Wahl überschritt er die 5-Prozent-Hürde. Gegenwärtig steht er an der Spitze der Partei Kongress der Neuen Rechten (Kongres Nowej Prawicy), deren politisch-ideelles Profil und Programm der amerikanischen Tea-Party-Bewegung am nächsten kommt. Sie verbindet einen extremen ökonomischen Liberalismus mit einem kulturell-sittlichen Ultrakonservatismus und Antietatismus, der sich auch als antieuropäisch offenbart. In den vergangenen Jahren erhielt er insbesondere die Sympathien der jüngsten Wähler (und unter den jungen Polen, die das Wahlalter noch nicht erlangt haben, ist er der beliebteste Politiker) und dank ihrer Stimmen trug er aktuell einen Wahlsieg davon. Dies ist insofern überraschend, als Korwin-Mikke weder ein junger noch ein neuer Akteur in der polnischen Politik ist. Die Unterstützung der Jugend verdankt er nicht nur deren natürlicher Bereitschaft, einfache und radikale Lösungen zu akzeptieren, sondern auch seiner Antiestablishment-Rhetorik, seiner beständigen Existenz außerhalb der Hauptströmung der polnischen Politik und auch dem Umstand, dass er nie irgendwelche Posten besetzt hat, was ihm erlaubt, sich als unabhängiger, in nichts verwickelter, nicht kompromittierter und alternativer Politiker darzustellen. Auch die Verwunderung hervorrufenden Verständniserklärungen gegenüber Putins Aktivitäten bestätigten seine Andersartigkeit, seinen Charakter und seine Unabhängigkeit vor dem Hintergrund der anderen polnischen Politiker und Gruppierungen. In der Unterstützung für ihn kam außerdem die den jungen Wählern eigene Neigung zu Trotz und Albernheit zum Ausdruck, ähnlich der, die in Italien dem Komiker Beppe Grillo Erfolg beschert hatte. Diese Analogie ist auch insofern begründet, als Korwin-Mikke manchmal den Eindruck eines Possenreißers macht, der in seinen Äußerungen und Handlungen nicht ganz ernst zu nehmen ist. Vor dem Hintergrund der radikalen, antieuropäischen und Anti­establishment-Rechten in Europa sind die von Korwin-Mikke erlangten 7 Prozent allerdings ein relativer und moderater Erfolg und eher als ein unerwartetes Übersteigen der 5-Prozent-Hürde nach vielen Jahren zu werten, als dass davon auszugehen ist, dass er tatsächlich Einfluss und Positionen in der polnischen und umso weniger in der europäischen Politik erlangen wird.

Die Vertreter der nationalistischen Rechten, die seit einigen Jahren immer lautstarker ihre Anwesenheit in der öffentlichen Sphäre manifestieren, erhielten die Unterstützung der Polen nicht. Die Nationale Bewegung (Ruch Narodowy) hat mit 1,4 Prozent der Stimmen eine Wahlniederlage eingefahren und den letzten Platz auf der Liste der gesamtpolnischen Gruppierungen, die an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnahmen, belegt. Der radikale Nationalismus findet bei den Polen keine politische Unterstützung und spielt keine politische Rolle.

Alles im Lot?

Die Wahl zum Europäischen Parlament führte in Polen zu keiner Erschütterung und führte nicht einmal zu einer Veränderung der politischen Situation, die sich mit den Staaten vergleichen ließe, in denen unerwartete Entscheidungen fielen und extreme und radikale Parteien triumphierten. Zum wiederholten Male gewann die PO, deren sinkende Unterstützung zum Teil das natürliche Ergebnis der Ermüdung und Langeweile angesichts ihrer langjährigen politischen Dominanz ist. Auf den Fersen folgt ihr wie schon seit Jahren PiS. Die Rivalität dieser beiden Gruppierungen ist eine beständige Achse der polnischen Politik, die die übrigen Parteien in die zweite Reihe schiebt. Zum Teil ergibt sich eben daraus die durch die Europawahl bestätigte Schwäche der polnischen Linken, die seit Jahren in der Krise und in Kraftlosigkeit versunken ist, nicht in der Lage, irgendeine interessante und attraktive Botschaft zu formulieren und den polnischen Wählern vorzustellen. Als beständig erwies sich außerdem, entgegen vieler Vorhersagen, die Präsenz der PSL in der polnischen Politik, die ihre treue ländliche Wählerschaft hat. Diese garantiert ihr 7 bis 8 Prozent Unterstützung und damit eine große Befähigung, eine Regierungskoalition einzugehen. Begünstigt wird die stabile Position der PSL durch die Zufriedenheit der polnischen Landwirte über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die trotz ihrer Ängste und Widerstände vor dem EU-Beitritt seit längerem feststellbar ist. Die dauerhaften Zuzahlungen und Subventionen sowie die aus EU-Mitteln finanzierten Infrastrukturinvestitionen machen die Landwirte und die ländliche Bevölkerung zu den größten Nutznießern der Mitgliedschaft in der EU. Dank ihrer charakteristischen Elastizität und ihrer Cleverness (von Boshaften wird dies mit der bäuerlichen Herkunft assoziiert) war die PSL schon eine Koalition mit der Linken eingegangen, jetzt ist es die PO und nicht ausgeschlossen ist ihre Beteiligung auch an anderen Konfigurationen.

Die Wahl zum Europäischen Parlament hat also keine grundsätzlichen Veränderungen der polnischen politischen Situation nach sich gezogen. Viel größere Folgen kann die Affäre um die Veröffentlichung vertraulicher Gespräche führender polnischer Politiker einige Wochen nach der Wahl nach sich ziehen – das aber ist eine andere Angelegenheit.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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