1989 zählt zu den Schlüsseldaten des 20. Jahrhunderts – auch und gerade in Polen. In jenem Jahr wurden die Weichen für den Systemwechsel gestellt. Ziel der Transformation war es, den Einparteienstaat durch eine demokratische Republik mit einem frei gewählten Parlament und einem pluralistischen Parteiensystem zu ersetzen. Bis dato war der absolute Führungsanspruch der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) verfassungsrechtlich legitimiert und wurde in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft durchgesetzt. Die ebenfalls existierenden sogenannten Blockparteien Demokratische Partei (SD) und Vereinigte Volkspartei (ZSL) spielten keine eigenständige Rolle. Allerdings hatte die PZPR schon in den 1980er Jahren ideologisch und politisch abgewirtschaftet. Nach Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 gewährleistete das Militär zunehmend die Aufrechterhaltung der Strukturen des sozialistischen Staates.
Die Volksrepublik Polen war darüber hinaus auch kein Rechtsstaat, in dem Gleichheit vor dem Gesetz herrschte und die Menschen- und Bürgerrechte für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlich galten. Vielmehr bestimmten ideologische Grundsätze das sozialistische Rechtssystem, die dazu führten, dass wichtige Grundrechte wie das der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nicht gegeben waren. Im Jahr 1989 stand also auch der Aufbau eines wirklichen Rechtsstaats auf der Tagesordnung.
Außerdem ging es darum, das sozialistische System der Staatswirtschaft, in dem die PZPR und die von ihr gestellte Regierung die wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen trafen, durch eine moderne Marktwirtschaft zu ersetzen, in der privates Unternehmertum die wichtigste Form wirtschaftlicher Tätigkeit ist und der Markt bzw. die Konkurrenz die ökonomische Entwicklung bestimmen. Das freie Wirken des Marktes sollte auf der anderen Seite durch ein modernes Sozialsystem ausgeglichen werden.
Ein Jahr großer politischer Dynamik
Zunächst stand im Frühjahr 2014 der »Runde Tisch« im Zentrum der kollektiven Erinnerung in Polen. Mit einer Vielzahl von Analysen, Erinnerungen und Berichten in den Medien, mit öffentlichen Ansprachen, Konferenzen, Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen bemühten sich Politiker, Wissenschaftler und Publizisten, das historische Geschehen erneut ins Bewusstsein der Gesellschaft und besonders der jungen Generation zu holen.
Im Februar, März und April 1989 waren am Runden Tisch die ersten Schritte der Transformation in Polen ausgehandelt worden. Politisch bedeutete »rund« nichts anderes, als dass sich Vertreter der Gewerkschaft Solidarität (Solidarność) und anderer wichtiger Strömungen der politischen Opposition gemeinsam mit Repräsentanten der kommunistischen Staats- und Parteiführung unter der Moderation der katholischen Kirche an einen Tisch setzten, um auf friedlichem Weg den Übergang vom Sozialismus zu einer parlamentarischen Demokratie auszuhandeln. Nach zweimonatigen Verhandlungen hatte man sich darauf verständigt,
die Solidarność wieder legal arbeiten zu lassen,schrittweise zu freien Parlamentswahlen zu kommen,einen Senat zu bilden, der den Sejm als erste Parlamentskammer kontrollieren sollte, undeinen Staatspräsidenten zu wählen.
Adam Michnik, einer der Protagonisten der Opposition am Runden Tisch und seit 1989 Chefredakteur der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, bezeichnete zum diesjährigen Jahrestag die damaligen erfolgreichen Verhandlungen als eine der größten Errungenschaften des modernen Polen. In einem vom Aufständen, Kriegen und blutigen Niederlagen geprägten Land, so Michnik, hätten beide Seiten den friedlichen Dialog gewählt. Die führende Wochenzeitung Polityka erinnerte daran, dass der britische Historiker Timothy Garton Ash den Runden Tisch als »refolucja« (eine Mischung aus Revolution und Reform – R.V.) bezeichnet hatte. Und der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski, der in einem Interview mit Polityka freimütig eingeräumt hatte, dass er damals den Gesprächen am Runden Tisch misstraut und diese nur als taktische Variante der Kommunisten zum Erhalt ihrer Macht betrachtet habe, sagte während einer Konferenz in seinem Amtssitz, eben dieser Runde Tisch sei eine außerordentlich wichtige Etappe auf dem Weg Polens zu Freiheit und Souveränität gewesen.
Es war der ehemalige polnische Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, der schon im sozialistischen Polen Karriere gemacht und sich später zum Sozialdemokraten gemausert hatte, der bei eben dieser Konferenz im Warschauer Präsidentenpalais daran erinnerte, dass der Runde Tisch ein originär polnisches Konzept gewesen war, das später aber auch in Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei Nachahmung gefunden hatte.
Repräsentanten der damaligen Opposition wie Henryk Wujec gaben offen zu, dass in jener Zeit in ihren Reihen große Unsicherheit geherrscht habe, ob »die Kommunisten« den Runden Tisch wirklich ernst nähmen oder ob sie vielleicht planten, die Opposition zu überrumpeln. Sein Kollege Władysław Frasyniuk, ebenfalls Teilnehmer am Runden Tisch, berichtete, wie schwer es ihm damals gefallen sei, Vertretern der kommunistischen Macht wie dem damaligen Innenminister Czesław Kiszczak vor Beginn der Verhandlungen die Hand zu geben.
Auf jeden Fall, so der polnische Soziologe Edmund Wnuk-Lipiński in dem polnisch-deutschen Magazin Dialog, sei sich wohl keiner der Teilnehmer des Runden Tisches, weder aus den Reihen der Machthaber noch der Opposition, vollkommen dessen bewusst gewesen, welche radikalen Folgen dieser für das System in Polen noch im selben Jahr haben würde.
»Herz der polnischen Demokratie«
Im Frühsommer 2014 rückte die Parlamentswahl vom Juni 1989 ins Zentrum des Gedenkens, was vor allem auf die Einflussnahme von Staatspräsident Bronisław Komorowski zurückging. In einem Interview mit Polityka begründete er dies mit dem Hinweis, dass der plebiszitäre Charakter dieser Wahl ganz entscheidend für die weitere politische Entwicklung gewesen sei. Polens Volksheld Lech Wałęsa kommentierte diese Schwerpunktsetzung des Staatsoberhaupts mit dem süffisanten Hinweis auf die Tatsache, dass Komorowski damals nicht zur Wahl gegangen war, weil er sie als mögliches kommunistisches Betrugsmanöver eingeschätzt hatte.
In der ersten Runde der »halbfreien« Wahl am 4. Juni 1989 errangen die Solidarność und die ganze Opposition einen grandiosen Sieg. Auf Anhieb erzielten ihre Kandidaten 160 von 161 möglichen Mandaten im Sejm und 92 von 100 Mandaten im Senat. Demgegenüber scheiterten fast alle Kandidaten der PZPR und der Regierung wegen ihres niedrigen Wahlergebnisses. »Halbfrei« bedeutete, dass aufgrund der Absprachen am Runden Tisch 65 Prozent der Sitze im Sejm (299 von insgesamt 460) der PZPR und ihren Blockparteien vorbehalten blieben – unabhängig vom Wahlergebnis. Diese Regelung sollte den bisherigen Machthabern den Übergang in die neue Demokratie erleichtern. Erst nach einer Wahlrechtsänderung, die für erhebliche Kontroversen innerhalb der Opposition sorgte, erzielten diese Parteien in einer zweiten Wahlrunde am 18. Juni die für sie reservierten Mandate.
Zum 25. Jahrestag räumten führende Köpfe beider Seiten von damals ein, dass man von diesem Wahlergebnis völlig überrascht gewesen sei. Die bald nach der Wahl einsetzende Diskussion, ob die Solidarność nun Regierungsverantwortung übernehmen solle, habe, so Lech Wałęsa, ihn und seine Mitstreiter völlig unvorbereitet getroffen. Wałęsa wies andererseits aber auch darauf hin, dass der damalige Wahlerfolg weltweit Aufsehen erregt habe. Adam Michnik zog sogar einen Vergleich zur Niederschlagung des Bürgerprotestes auf dem Tiananmen-Platz in Peking im Juni 1989, um die internationale Bedeutung des friedlichen Wandels im damaligen Polen hervorzuheben.
In einer Rede vor der Nationalversammlung (Sejm und Senat) am 4. Juni dieses Jahres betonte Staatspräsident Bronisław Komorowski, dass das Parlament mit der Wahl vor 25 Jahren seine Rolle als »Herz der polnischen Demokratie« wiedererlangt habe. Aber er nutzte seinen Auftritt auch, um künftige Aufgaben seines Landes zu benennen, insbesondere eine sozialpolitische Reform zur Vermeidung von Massenarmut und eine baldige öffentliche Debatte über den Beitritt Polens zur Eurozone. Die Abgeordneten beider Kammern verabschiedeten außerdem die »Warschauer Freiheitserklärung« (Warszawska Deklaracja Wolności), in der es unter anderem hieß, dass der damalige Sieg der Solidarność am Anfang der großen Systemveränderungen in allen Staaten Ostmitteleuropas gestanden habe.
Glaubt man den Reden vieler Politiker und dem dominierenden Tenor in den großen Medien des Landes, dann wertete die Mehrheit der polnischen Gesellschaft den Auftritt des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am 4. Juni dieses Jahres in Warschau als große Anerkennung für den Weg, den Polen in den letzten 25 Jahren gegangen ist.
Der dritte Schwerpunkt des Gedenkens in diesem Jahr war die Erinnerung an die Bildung der ersten nicht kommunistisch geführten Regierung im August/September 1989. Das dreimonatige Tauziehen nach der Wahl im Juni hatte schließlich zur Bestätigung des neuen Kabinetts von Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki durch den Sejm am 12. September geführt. Einen wichtigen Anstoß zu diesem Erfolg hatte Adam Michnik am 3. Juli mit seinem Text »Euer Präsident, unser Ministerpräsident« (Wasz Prezydent, nasz premier) in der Gazeta Wyborcza gegeben.
Das von Michnik bis heute geführte Blatt war am 8. Mai 1989 zum ersten Mal erschienen und hatte eine enorm wichtige Rolle im Wahlkampf der Solidarność bzw. der ganzen Opposition gespielt.
Seither hat die Bedeutung der sozialliberal ausgerichteten Gazeta Wyborcza (übersetzt: Wahlzeitung) etwas abgenommen, auch wenn sie immer noch zu den drei größten polnischen Tageszeitungen zählt. Zu ihrem 25jährigen Bestehen schrieb Adam Michnik mit einem Schuss Selbstironie: »Nie haben wir uns gleichgültig verhalten; wenn die Wahrheit und die Freiheit bedroht waren, haben wir – mitunter auch überzogen – reagiert.«
Aus zeithistorischer Sicht ist es wohl nicht übertrieben, wenn man zu dem Schluss kommt, dass das Kabinett von Mazowiecki den schwierigsten »Job« aller polnischen Regierungen der letzten 25 Jahre hatte. Bahnbrechend waren vor allem die wirtschafts- und finanzpolitischen Beschlüsse dieses Kabinetts. Auf der Grundlage eines Konzepts des damaligen Finanzministers Leszek Balcerowicz, »Schocktherapie« genannt, gelang es, die horrende Inflation und Staatsverschuldung zu bremsen sowie Grundlagen für eine liberale und soziale Marktwirtschaft zu legen. Die neue Regierung konzentrierte sich aber auch auf verfassungsrechtliche und institutionelle Veränderungen. Außerdem definierte sie die polnische Außenpolitik völlig neu.
In seiner Rede vor der Nationalversammlung am 4. Juni dieses Jahres sagte Staatspräsident Bronisław Komorowski: »Die Regierung von Tadeusz Mazowiecki genoss die absolute Unterstützung (der Bevölkerung – R.V.) und verfügte über eine gigantische Mehrheit im Sejm, sie leistete eine Pionierarbeit, wie sie vordem niemand vollbracht hatte.«
Schon der Tod von Tadeusz Mazowiecki am 28. Oktober 2013 war ein entscheidender Anlass für die polnische Öffentlichkeit gewesen, die Verdienste dieses Mannes zu würdigen, der zu den wichtigsten Akteuren des antikommunistischen Widerstandes, des Übergangs zur Demokratie und des Aufbaus eines neuen Staatswesens zählte. Charakteristisch für Mazowieckis Wirken in der Politik, so hieß es mehrfach, sei sein kategorischer moralischer Imperativ gewesen, den er aber klar abzugrenzen wusste von einem Habitus des billigen Moralisierens.
Spätestens seit 1989 genoss der Katholik Mazowiecki bei vielen Polen hohes Ansehen, auch wenn er bei der Präsidentenwahl 1990 eine schmerzliche Niederlage erlitt und später parteipolitisch nicht immer besonders glücklich agierte.
Am 30. August dieses Jahres eröffnete das Europäische Zentrum der Solidarität (Europejskie Centrum Solidarności – ECS) an seinem neuen Sitz in Danzig (Gdańsk) eine Dauerausstellung zur Geschichte der Solidarność und der Systemtransformation in Polen. Einen Tag später, 34 Jahre nach Unterzeichnung des historischen »Danziger Abkommens« zwischen den streikenden Arbeitern und der Regierung, wurde das neue ECS-Gebäude in Anwesenheit von Staatspräsident Bronisław Komorowski offiziell eröffnet. Die Ausstellung ist nun das Herzstück des im November 2007 gegründeten und von Basil Kerski geleiteten ECS, das sich als kulturelles und pädagogisches Zentrum versteht. In seinen neuen Räumen unweit der Danziger Werft befinden sich auch eine Bibliothek und ein Archiv.
Bis heute umstritten: die »Schocktherapie« und der »dicke Strich«
Die öffentliche Debatte über die Ereignisse des Jahres 1989 zeigt, dass innerhalb der politischen Klasse Polens bis heute vor allem zwei Phänomene umstritten sind: die vom damaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz initiierten marktwirtschaftlichen Reformen sowie die Art und Weise, wie die Regierung von Tadeusz Mazowiecki mit den politischen und juristischen Hinterlassenschaften des vormaligen kommunistischen Regimes umging.
In Sachen Balcerowicz sagte Staatspräsident Komorowski in der Polityka, es sei notwendig gewesen, den Kapitalismus aufzubauen, wie man ihn damals verstanden habe. Und wörtlich: »Ohne den Balcerowicz-Plan […] hätten wir uns in eine Position gebracht, aus der heraus wir uns nur langsam vom ökonomischen Kollaps geheilt hätten.« Die Gegenposition formulierten vor allem Vertreter der politischen Rechten, etwa der Gruppierung Solidarna Polska. Sie sprachen davon, dass die Anliegen der Gesellschaft im Denken von Balcerowicz keine Rolle gespielt hätten. Aber auch die Sozialdemokraten der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) sahen Balcerowicz eher kritisch und forderten die Bildung eines Fonds für Ausgleichszahlungen (Fundusz Rekompensat Transformacji Ustrojowej) an diejenigen, die damals ihre Arbeit verloren hatten.
Wirtschaftswissenschaftler aus Ost und West sind sich heute darin einig, dass die von Balcerowicz im Dezember 1989 durch den Sejm gebrachten Gesetze sinnvoll waren. Andererseits waren bestimmte Folgen dramatisch. Schon bald fielen die Reallöhne, die Produktion ging zurück, die Arbeitslosigkeit stieg an, Polen geriet in eine sogenannte Transformationsrezession.
Auch die Politik des »dicken Strichs«, wie der damalige Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki seinen Umgang mit den kommunistischen Hinterlassenschaften umschrieb, sorgt bis heute für Widerspruch. Mazowiecki meinte damit den Vorrang der politischen und ökonomischen Erneuerung Polens vor der ideologisch-politischen und juristischen Abrechnung mit dem früheren System und dessen Repräsentanten. Vertreter der politischen Rechten betonten jetzt, »viele Verbrecher aus kommunistischen Zeiten« seien straffrei ausgegangen, der Staatsapparat sei zu wenig von Kadern aus alten Zeiten gesäubert werden. Bei politischen Demonstrationen der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) von Jarosław Kaczyński wurden gerade in diesem Zusammenhang auch Parolen laut, das Jahr 1989 sei letztendlich »nationaler Verrat« gewesen.
Tatsache ist, dass die polnische Gesellschaft überfordert gewesen wäre, wenn sie neben den harschen politisch-ökonomischen Reformen der Jahre 1989/90 auch noch eine radikale »Dekommunisierung« samt all der damit verbundenen Konflikte hätte aushalten müssen. Andererseits haben es die auf Mazowiecki folgenden Regierungen versäumt bzw. waren nicht daran interessiert, das Problem anzugehen und die einschlägigen Akten aus kommunistischen Zeiten, wie in Deutschland die sogenannte Gauck-Behörde, der polnischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Eine Reihe von Umfragen und Analysen verschiedener Meinungsforschungsinstitute gibt wieder, was die polnischen Bürger heute über die Transformation des Jahres 1989 denken. So bewerten laut dem Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung (Centrum Badania Opinii Społecznej – CBOS) 42 Prozent der Gesellschaft die Beschlüsse des Runden Tisches mehr oder weniger positiv. 10 Prozent lehnen sie ab und 48 Prozent interessieren sich nicht dafür oder sehen sich zu keinem Urteil in der Lage. Dabei fällt auf, dass die Bewertung stark von den jeweiligen Parteipräferenzen der Befragten abhängt. So haben 69 Prozent der Anhänger der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und 56 Prozent der SLD eine positive Meinung über den Runden Tisch, während nur 37 Prozent der Wähler von PiS diese Ansicht vertreten. Bemerkenswert ist außerdem, dass 52 Prozent meinen, der Runde Tisch sei hauptsächlich ein Kompromiss zwischen den damaligen Eliten der Solidarność und den kommunistischen Machthabern gewesen, während nur 17 Prozent das damalige Geschehen für eine demokratische Revolution halten, bei der gesellschaftlicher Druck das totalitäre System zum Einsturz gebracht habe.
Vermutlich stimmt die Einschätzung, die der verstorbene Mittelalterhistoriker, Bürgerrechtler und Außenminister Bronisław Geremek bereits 2009 vortrug. Geremek meinte, die Transformation habe drei Schwächen gehabt:
Man habe damals die Bürger zu wenig in die Debatte über die Konzepte des Systemwechsels miteinbezogen,die Menschen seien nicht ausreichend von der absoluten Notwendigkeit der »Schocktherapie« überzeugt worden unddie Mehrheit der Elite der Solidarność habe die Langlebigkeit kommunistischer und postkommunistischer Denk- und Verhaltensweisen auch nach der Transformation unterschätzt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine 2014 publizierte Liste »wichtiger Persönlichkeiten«, die auf Grundlage einer Befragung zusammengestellt wurde. Auf die Frage, wer den größten Einfluss auf die Entwicklung der Dritten Polnischen Republik, also der Zeit seit 1989, ausgeübt habe, nannten 55 Prozent der Befragten Lech Wałęsa. Auf Platz 2 und 3 folgten Aleksander Kwaśniewski mit 24 Prozent und Tadeusz Mazowiecki mit 23 Prozent. Leszek Balcerowicz (Platz 7) und Wojciech Jaruzelski (Platz 8) kamen auf 16 bzw. 15 Prozent, während Jarosław Kaczyński (Platz 12) bei 8 Prozent sowie Bronisław Geremek (Platz 13) und der SLD-Politiker Leszek Miller (Platz 14) bei jeweils 7 Prozent landeten.
Sieht man einmal davon ab, ob dieses Umfrageergebnis dem realen Einfluss der Genannten tatsächlich entspricht, zeigt sich doch ein buntes Bild von antikommunistischen und postkommunistischen Politikern sowie führenden Akteuren rechter und linker Parteien. Nur recht und billig war es dann, dass Adam Michniks Gazeta Wyborcza Anfang Juni 2014 den Spitzenreiter, eben Lech Wałęsa, zum »Mann des Vierteljahrhunderts« kürte.
Kurz zuvor, am 25. Mai, war Wojciech Jaruzelski verstorben. Der Tod des Generals war zum wiederholten Mal Anlass einer scharfen öffentlichen Auseinandersetzung über diesen Mann, dessen Name sich für die meisten Polen vor allem mit der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 verbindet. Und wie so oft folgte das Gros der Stellungnahmen dem bekannten ideologischen Strickmuster. Entweder wurde der General nur als kommunistischer Diktator, Verräter an der Nation oder gar als Mörder tituliert, so vor allem von Seiten konservativer und nationalistischer Politiker, Historiker und Publizisten, oder man stilisierte ihn ausschließlich als verantwortungsvollen Patrioten, der Polen vor einer sowjetischen Invasion bewahrt habe, so insbesondere in Kreisen der sozialdemokratischen SLD, deren Wurzeln bis zur alten kommunistischen Staatspartei PZPR reichen.
Eine der wenigen differenzierten Stellungnahmen veröffentlichte Polityka, in der einerseits die Rede von den schwarzen Flecken in der Biographie Jaruzelskis war, also seine Beteiligung am militärischen Kampf gegen den antikommunistischen Widerstand 1944–45, seine militärische Karriere im Stalinismus, seine Verantwortung für die antijüdischen Säuberungen in der Armee 1967 und die gewaltsame Niederschlagung der Arbeiterproteste im Dezember 1970, andererseits seine Verdienste auf Seiten der machthabenden Kommunisten für die friedliche Transformation 1989 hervorgehoben wurden.
Was wurde seit 1989 erreicht?
Erinnern bedeutet immer auch Bilanz ziehen. In den vergangenen 25 Jahren hat sich Polen zu einer respektablen demokratischen Republik entwickelt, das Parteiensystem und der Parlamentarismus funktionieren, Machtwechsel durch demokratische Wahlen sind gewährleistet. Der Rechtsstaat existiert, bedarf aber weiterer Entwicklung. Es bleibt abzuwarten, welche Gefahren für die Dreiteilung der Staatsgewalt, die Minderheitenrechte und den Pluralismus in Kultur, Wissenschaft, Erziehung und Medien drohen, sollten der nationalistisch denkende Jarosław Kaczyński und seine Partei PiS im Jahr 2015 die Regierungsverantwortung übernehmen.
Seit einigen Jahren wird die polnische Volkswirtschaft sogar im Westen gelobt. Sie hat eine beachtliche Leistungsfähigkeit entwickelt, operiert aber noch nicht auf dem Niveau westeuropäischer Volkswirtschaften. Der Ökonom Dariusz Filar vertritt zu Recht die Auffassung, dass Polen inzwischen nicht mehr nur auf den Zufluss ausländischer Technologien angewiesen sei, sondern über eine wachsende Zahl eigener Unternehmen verfüge, die, global gesehen, auf den modernsten Standards produzierten und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig seien.
Zur Bilanz der vergangen 25 Jahre gehört auch, dass Polen aufgrund der 1999 und 2004 vollzogenen Mitgliedschaft in die NATO bzw. die Europäische Union international gesehen in einem vergleichsweise sicheren Umfeld agiert. Die Mehrheit der Polen spürt, dass ihr Land an Ansehen auf der internationalen Bühne gewonnen hat. Allerdings hat die Krise zwischen Russland und der Ukraine dieses Sicherheitsgefühl etwas ins Wanken gebracht.
Es bleibt allerdings die Frage, wie sich diese Errungenschaften in der gesellschaftlichen Realität widerspiegeln und das Denken und Handeln der Menschen in Polen beeinflussen. Antworten lassen sich in den Analysen renommierter Soziologen wie Edmund Wnuk-Lipiński und Janusz Czapiński, in der alle zwei Jahre erarbeiteten »Gesellschaftsdiagnose« (Diagnoza społeczna) sowie in den Umfragen von Instituten wie CBOS und TNS Polska finden.
Noch immer herrscht bei vielen Menschen in Polen die tief in der Tradition verankerte Haltung vor, die genannten Errungenschaften entweder zu ignorieren oder sie als Ausdruck einer Erfolgspropaganda bzw. gar als Verfälschung der Wirklichkeit zu betrachten – ganz im Gegensatz zu Beobachtern Polens im Ausland. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn in einer Umfrage von CBOS nur 45 Prozent der Befragten meinten, die letzten 25 Jahre hätten mehr Vorteile als Nachteile gebracht, während 27 Prozent eine gemischte Bilanz zogen und 28 Prozent von überwiegenden Verlusten sprachen oder überhaupt keine Meinung dazu hatten.
Auffallend ist weiterhin das tiefe Misstrauen, das die polnische Gesellschaft prägt. Umfragen und Studien haben ergeben, dass nur 10 bis 20 Prozent der Polen Vertrauen zu ihren sie umgebenden Mitmenschen haben. Wnuk-Lipiński in Dialog (01/2014): »Das niedrige Niveau des sozialen Vertrauens (eines der niedrigsten in Europa) erhöht die Kosten aller Transaktionen, stört die täglichen zwischenmenschlichen Beziehungen und ist ein guter Nährboden für die Entwicklung von extrem partikularistischen Haltungen.«
Des Weiteren zeigen sich tiefe Risse in der Gesellschaft, die nicht selten entlang den Spaltungen zwischen parteipolitischen Sympathien und politischen Strömungen verlaufen. Die Polarisierung ist oft so stark, dass die Protagonisten und Anhänger bestimmter Gruppen die ökonomische und soziale Realität oft völlig unterschiedlich beschreiben und bewerten. Gegenseitige Abneigung bis hin zum Hass sowie lautstark zum Ausdruck gebrachte Emotionen lassen oft wenig Raum für Kompromisse und blockieren so die zukunftsträchtige Entwicklung des Gemeinwesens.
Janusz Czapiński, Professor für Psychologie an der Universität Warschau, spricht davon, dass es in der polnischen Gesellschaft viel individuelles Kapital, also Bildung, Engagement und Leistungswillen, aber wenig kollektive Ressourcen gebe, also wenig Bereitschaft, gemeinsame Interessen zu vertreten. Zwar geben die von CBOS Befragten an, die erlangte Freiheit sei die wichtigste Errungenschaft der letzten 25 Jahre, sie verstehen diese aber ausschließlich als individuelles Privileg, nicht als Raum für kollektive Anstrengungen. Gerade die vielen jungen Anhänger von Janusz Korwin-Mikke und seiner Partei Neue Rechte (Nowa Prawica) denken auf diese Weise.
Damit hängt auch zusammen, dass die meisten Polen vor allem stolz auf die eigenen Leistungen und auf ihre Familie sind, aber dem Gemeinwesen und seinen Institutionen nur sehr bedingt Anerkennung zollen. Aus einer Umfrage von CBOS geht hervor, dass die Menschen insbesondere dem Militär (74 Prozent der Befragten), der Polizei (71 Prozent) und der katholischen Kirche (64 Prozent) vertrauen, aber dem Parlament (nur 34 Prozent der Befragten), der Regierung (33 Prozent) und den politischen Parteien (17 Prozent) eher misstrauen. Die jüngste »Abhöraffäre«, von der führende PO-Politiker und Wirtschaftsvertreter betroffen sind, dürfte den politischen Institutionen noch weiter geschadet haben.
Die Mehrheit der Polen vertritt die Auffassung, dass der Lebensstandard der Gesellschaft in den letzten 25 Jahren generell erheblich angestiegen ist. Registriert wird aber auch, dass sich der Graben zwischen den Beziehern hoher und niedriger Einkommen, generell zwischen arm und reich, stetig vertieft hat. »Ich halte die offene und verdeckte Arbeitslosigkeit, die Emigration und die Ungleichheit in der Gesellschaft für unsere größte Niederlage«, betont der Historiker, Bürgerrechtler und ehemalige Politiker der Arbeitsunion (Unia Pracy), Karol Modzelewski.
Fazit
Ohne Zweifel haben die Ereignisse von 1989 die polnische Öffentlichkeit in diesem Jahr intensiv beschäftigt. Vor allem Staatspräsident Bronisław Komorowski, aber auch Ministerpräsident Donald Tusk und andere Politiker sowie Protagonisten des damaligen Geschehens und auch die Mehrheit der Medien des Landes taten alles, um eine »königliche Feiertagsstimmung« zu erzeugen, wie sich der Publizist Krzysztof Gottesman ausdrückte. 1989 ist eben ein Schlüsseljahr der polnischen Zeitgeschichte und damit der kollektiven Erinnerung.
Andererseits herrschte eine Kluft zwischen dem offiziellen »Feiertagsgeschehen« und dem eher mäßigen Interesse breiter Teile der Bevölkerung. Das kann auch gar nicht anders sein, sind doch die aktuellen Probleme des Lebens den Menschen in der Regel näher als historische Reflexionen. Außerdem erinnert man sich hauptsächlich in der eigenen Gruppe, mit der man sich identifiziert, in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, mit alten Mitkämpfern aus jenen Zeiten, nicht aber in der öffentlichen bzw. offiziellen Arena.
Hat die Erinnerung zur Versöhnung zwischen den damaligen Kontrahenten beigetragen, die ja zum Teil bis heute im politischen Kampf stehen? Eher weniger. Denn einmal mehr zeigte sich, dass Geschichtsbetrachtung und Erinnern in Polen bis heute stark politisch instrumentalisiert werden. Eine Annäherung bei der Einschätzung der damaligen Ereignisse fand kaum statt.
Positiv ist sicher, dass die Erinnerung an 1989 das Gedenken an andere historische Ereignisse nicht ganz verdrängt hat. Das gilt besonders für die dramatischen Ereignisse des Ersten Weltkrieges, die zum ersten Mal etwas stärker ins allgemeine Bewusstsein gerückt sind. Bislang war fast ausschließlich das unmittelbare Nachkriegsgeschehen ab 1918 im Denken der interessierten Polen verankert: die staatliche »Wiedergeburt«, der Kampf um die Landesgrenzen, der polnisch-sowjetische Krieg von 1920. Das ist verständlich, reicht aber natürlich nicht aus.
Große Beachtung fand in Polen, dass des Warschauer Aufstandes von 1944 in diesem Jahr erstmals auch in Berlin mit einer Ausstellung und dem gemeinsamen Auftritt von Staatspräsident Bronisław Komorowski und Bundespräsident Joachim Gauck gedacht wurde. Die Gazeta Wyborcza nannte dies sogar »ein Wunder in Berlin«. Tatsächlich war in Deutschland bislang fast ausschließlich vom Aufstand im jüdischen Ghetto in Warschau im Jahr 1943 die Rede gewesen.
Schließlich zeigte sich ganz deutlich, wie aktuelle politische Ereignisse Geschichtspolitik und kollektive Erinnerung beeinflussen können. Das galt und gilt besonders für die russisch-ukrainische Krise. In die Genugtuung über die Errungenschaften der 15jährigen Mitgliedschaft in der NATO und der zehnjährigen Zugehörigkeit zur EU mischten sich Bedrohungsängste, die nicht nur aktuelle Ursachen haben, sondern auch an leidvolle historische Erfahrungen Polens mit Russland und der Sowjetunion anknüpfen. Interessant war in diesem Zusammenhang die Diskussion, ob nicht die Ukraine heute einen Runden Tisch brauche, wie er damals als friedliche Methode des Wandels in Polen Geschichte gemacht hat. (Vgl. Polen-Analyse Nr. 147).