Außerordentlicher IX. Parteikongress der Polnischen Bauernpartei. Ideologische Erklärung der Polnischen Bauernpartei

Warschau, 15. April 2007

[…]

I. Einleitung

1. Siebzehn Jahre nach Beginn der Einführung der Prinzipien und Regeln der freien Marktwirtschaft in Polen, die sich aus der Doktrin des Neoliberalismus herleiten, unternimmt der Außerordentliche IX. Parteitag der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) eine Bewertung der sozioökonomischen und politischen Situation im Land und darüber hinaus eine Bewertung der Aktualität der bisherigen ideologisch-programmatischen Grundsätze der PSL und ihrer Umsetzung sowie die Bewertung ihrer Adäquatheit in Bezug auf die heutigen und zukünftigen Bedürfnisse und das Wohl der polnischen Nation.

2. Der Außerordentliche IX. Parteitag der PSL stellt fest, dass sich die Ergebnisse des Marktkapitalismus, der in Polen eingeführt wurde – entgegen den Hoffnungen der Gesellschaft auf das System der sozialen Marktwirtschaft –, in vielen Bereichen des sozialen Lebens der Nation und des persönlichen Schicksals der Polinnen und Polen als katastrophal erwiesen haben.

Die Mehrheit der Polen lebt in Mangel und Armut. Sie befinden sich in einer solchen Situation aufgrund niedriger Einkünfte oder weil diese infolge des Verlustes der Einnahmequelle oder der Arbeit vollständig fehlen und ohne gebührende Hilfe von Seiten des Staates. Die staatlichen Vertreter dagegen, die im Namen der Nation über das Eigentum der Polen verfügen, das der Befriedigung der grundlegenden sozialen und individuellen Bedürfnisse der Bürger dienen sollte, haben im Verlauf der räuberischen Privatisierung dessen Verlust mehrheitlich zugunsten ausländischer privater und staatlicher Eigentümer zugelassen.

Von Jahr zu Jahr öffnet sich die Einkommens- und Eigentumsschere der polnischen Gesellschaft weiter, was die Chancen auf Entwicklung verringert und rasch den Kreis der von Armut und Elend Betroffenen erweitert. Dies führt zu einer fortschreitenden sozialen wie auch biologischen Auszehrung eines bedeutenden Teils der Nation. Besonders beunruhigend ist die sich verschlechternde demografische Situation, die die Aufrechterhaltung der historischen Beständigkeit der Nation bedroht.

3. Die Polnische Bauernpartei sprach sich seit Beginn der Systemtransformation des Staates für die Stärkung des demokratischen Systems der Machtausübung und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft aus, die auf das gemeinsame Wohl ausgerichtet ist. Wir wandten uns gegen die Einführung der Prinzipien des »liberalen Kapitalismus«. Der größte Wahlerfolg, den die Polnische Bauernpartei im Jahr 1993 erlangte, ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Zustimmung zu der prinzipientreuen Haltung der PSL, die den »liberalen Marktdarwinismus« und die Ignoranz der Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit durch die rechte Regierung kritisierte. Dies war ein Ausdruck der Anerkennung für den entschiedenen Aufruf, Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft und Demokratie im politischen, ökonomischen und sozialen Bereich einzuführen.

4. Die Phase, in der die Polnische Bauernpartei realen Einfluss auf die Einführung der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft hatte, war, als Waldemar Pawlak die Führung der Regierung innehatte (Oktober 1993 bis März 1995) und anschließend während der zweimaligen Beteiligung an der Regierungskoalition mit der Linken. Der Hauptpunkt des koalitionsinternen Streits war der Charakter der polnischen Systemveränderungen. Schrittweise siegte die liberale Option und trat der Verlust der sozialen Sensibilität ein. Dies war die Ursache dafür, dass die PSL die Koalition verließ.

5. Die Polnische Bauernpartei war nie und ist nicht mit der Einführung einer neoliberalen Politik einverstanden, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre begann und von den folgenden Regierungen fortgesetzt wurde. Sie akzeptiert auch nicht das aktuelle Konzept des »Solidarischen Staates« [so das Motto von Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość – PiS, Anm.d.Übers.], das der Versuch der Dominanz des Staates über jegliche Regungen gesellschaftlichen Lebens ist. Dieser Konzeption stellen wir unsere des »Solidarischen Polen« entgegen, die von einem harmonischen Zusammenwirken der Strukturen des Staates und seiner Organe mit der sich organisierenden Zivilgesellschaft ausgeht.

6. Passend, richtig, vorteilhaft für die Nation und nach wie vor aktuell sind die von der Polnischen Bauernpartei postulierten ideologisch-programmatischen Grundsätze, die sich aus den Werten und Voraussetzungen ergeben, die der wahren sozioökonomischen Entwicklung Polens dienen, formuliert auf der Grundlage der Regeln der sozialen Marktwirtschaft, der Regeln des Humanismus sowie der christlichen Ethik und der Soziallehre der Kirche.

7. Gegenwärtig, unter den Bedingungen der Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union, stimmen diese zusätzlich mit den ideellen Fundamenten des vereinten Europa überein – übereinstimmend mit den grundsätzlichen Werten des vereinten Europa, das im Verlauf der europäischen Integration anstrebt, Europa eine dauerhafte und ausgeglichene Entwicklung zu gewährleisten, wozu Vollbeschäftigung, die Schaffung eines Territoriums der Sicherheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit und Solidarität, des Wohlstands und der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte gehören; – übereinstimmend mit den grundlegenden Prinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die in den Ländern der EU im Rahmen der Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft realisiert wird.

Die Umsetzung dieser Prinzipien in Polen hängt allerdings gegenwärtig zu einem bedeutenden Grad von der Politik der Europäischen Union gegenüber diesen Bedürfnissen der polnischen Gesellschaft ab.

8. Der Außerordentliche IX. Parteitag der PSL bestätigt folglich nachdrücklich die Aktualität der beständigen ideologisch-programmatischen Werte der Bauernbewegung, die während unserer über ein Jahrhundert währenden Tätigkeit ausgearbeitet wurden, insbesondere in den vergangenen siebzehn Jahren der Systemtransformation. Diese Werte und Ziele kommen in Gänze den Bedürfnissen und Bestrebungen der Polen nach einem würdigen Leben, Entwicklung und einer erfreulichen Zukunft entgegen. Ihre Umsetzung ist eine der dringendsten Aufgaben, die alle verfolgen sollten, die sich der Verantwortung für eine vielversprechende Zukunft der Nation sowie für die eigene Zukunft bewusst sind.

[…]

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: Polskie Stronnictwo Ludowe: Nadzwyczajny IX Kongres PSL. Deklaracja ideowa Polskiego Stronnictwa Ludowego. Warszawa, 15 kwietnia 2007 r. [Polnische Bauernpartei: Außerordentlicher IX. Parteikongress der PSL. Ideologische Erklärung der Polnischen Bauernpartei. Warschau, 15. April 2007]. <http://www.psl.org.pl/upload/pdf/dokumenty/deklaracja_ideowa_1_.pdf> (abgerufen am 13.02.2015)

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Analyse

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Von Stefan Garsztecki
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