Die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska – RAŚ) setzt sich seit ihrer Gründung kurz nach dem politischen Umbruch für die Wiedererlangung der Autonomie nach dem Vorbild der Zwischenkriegszeit sowie für den Schutz und die Förderung oberschlesischer Kultur und Sprache ein. Um dieses Ziel zu erreichen, bemüht sich die Bewegung auch, politische Mandate zu erlangen. Spätestens mit dem ersten Wahlerfolg von 2010 (8,49 Prozent der Stimmen in der Woiwodschaft Schlesien), dem der Einzug in den schlesischen Woiwodschaftstag (Sejmik) folgte, wurde die Bewegung für die Autonomie Schlesiens zu einer politischen Kraft, mit der die polnische Parteienlandschaft umzugehen hatte. Dies gilt umso mehr, als die RAŚ eine Koalition mit der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) einging. In der dabei erarbeiteten Koalitionsvereinbarung wird vor allem durch die Betonung der »lokalen Traditionen« die Handschrift der Autonomisten sichtbar. Auffällig ist, dass vom Schutz sprachlicher Vielfalt (das ist ein Bezug auf die 2010 aktuellen Bemühungen um die Anerkennung des Idioms der Oberschlesier als Regionalsprache), vom Vorhaben, ein Lehrbuch für einen oberschlesischen Regionalunterricht, vom Schutz des industriellen Kulturerbes, vor allem aber von der Absicht eines gemeinsamen Eintretens für eine weitere Dezentralisierung die Rede ist. So sehr solche Vereinbarungen im Vergleich zu anderen Regionen und früheren Absichtserklärung der Zusammenarbeit im schlesischen Sejmik als innovativ und einzigartig gelten können, so wenig wurden sie im alltäglichen politischen Betrieb wieder aufgegriffen. Anders verhält es sich bei einem zentralen Teil dieses Koalitionsvertrages. In der Aufzählung der notwendigen Investitionen, die als Voraussetzung für die Entwicklung einer modernen Region identifiziert wurden, wurden an erster Stelle nicht etwa Infrastrukturmaßnahmen, sondern zwei Projekte genannt, die der RAŚ seit Jahren ein besonders Anliegen sind: Die Modernisierung des für ganz Polen bedeutenden Schlesischen Stadions sowie der Bau des Schlesischen Museums. Beide Unterfangen wurden während der Koalition vorangebracht und beide haben das immense Konfliktpotenzial zwischen oberschlesischen und polnischen Befindlichkeiten offengelegt. So waren es die symbolische Frage der Farbgebung der Sportstätte in Chorzów (die RAŚ plädiert gegen weiß-rote und stattdessen für oberschlesische, d. h. gelb-blaue Bestuhlung) sowie die Form der Ausstellung im Schlesischen Museum, die maßgeblich zum Ende der Koalition beitrugen – im letztgenannten Fall war zumindest der Bau des architektonisch beeindruckenden Objekts erfolgreich. Das Scheitern dieser Kooperation auf regionaler Ebene mag im Nachhinein nicht überraschen, zumal das Verhältnis zwischen Autonomisten und Parteipolitikern bis zum Beginn dieser Zusammenarbeit (2010) von Misstrauen, gegenseitigen Vorwürfen und Distanz geprägt war und sich auch mit dem Einzug in die regionale Selbstverwaltungskörperschaft nur bedingt veränderte. Für die Dauer der Koalition mit der PO, die nicht die gesamte Legislaturperiode, sondern nur bis 2013 hielt, schien sich diese zwar der Autonomiebewegung anzunähern bzw. stellte zumindest ihre öffentlich geäußerte Kritik ein, doch kehrte die PO seit dem Austritt der RAŚ aus der Koalition zu ihrer abweisenden Haltung zurück. Die Autonomiebewegung wird wieder von allen anderen Parteien gleichermaßen kritisiert, mit Separationsabsichten in Verbindung gebracht und ihr wird die Loyalität zum polnischen Staat abgesprochen.
Die Bewegung für die Autonomie Schlesiens kann als die bedeutendste und einflussreichste Organisation gelten, die sich für eine politische wie auch kulturelle Emanzipation Oberschlesiens und der Oberschlesier einsetzt. Gegründet 1990 in Rybnik, hat sie von Beginn an das polnische Verständnis von Oberschlesien herausgefordert. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert entwickeln Autonomisten Gegenentwürfe zu der offiziellen Interpretation der Geschichte und Gegenwart Oberschlesiens. In der Folge werden die über Jahrzehnte im öffentlichen, politischen wie auch wissenschaftlichen Diskurs etablierten Deutungsmuster (teilweise) radikal hinterfragt. Unabhängig davon, ob in konkreten Streitfragen die institutionalisierte (polnische) Interpretation oder die – häufig von Laien erarbeiteten – Alternativnarrative überzeugender sind, wird das Bild eines zweifelsfrei (ur-)polnischen Oberschlesiens, das sich im kommunistischen Polen zum »Masternarrativ« entwickeln konnte, durch die Autonomisten und ihnen nahe stehende Aktivisten in seinen Grundsätzen erschüttert. Wenn beispielsweise der Dritte Schlesische Aufstand (1921) nicht im Sinne einer polnisch-romantischen Aufstandsmetaphorik affirmativ als Ausdruck eines intrinsischen Wunsches, Teil des wiederentstandenen Polens zu werden, sondern als von außen initiierter Bürgerkrieg und damit als Katastrophe interpretiert wird, treffen zwei scheinbar unversöhnliche Geschichtsauffassungen aufeinander.
Dabei war der Gegensatz zwischen oberschlesischer Autonomiebestrebung und polnischer Abwehrhaltung bereits zum Zeitpunkt des Übergangs zwischen der Volksrepublik Polen und der Dritten Republik ein fester Bestandteil der politischen Kultur. Schließlich war es das kommunistische Polen, das die Autonomie Oberschlesiens der Zwischenkriegszeit formal-rechtlich beendete, die ethnische Vielfalt offen bekämpfte und dabei nicht nur deutsche, sondern auch autochthone Elemente ins Visier nahm. Zudem war die Volksrepublik Polen im Sinne eines Zentralismus streng hierarchisch organisiert. Insofern überrascht es nicht, dass der kommunistische stellvertretende Ministerpräsident in der Regierung von Tadeusz Mazowiecki, General Czesław Kiszczak, die Forderungen nach Wiederherstellung der Autonomie im Jahr 1990 wie folgt ironisch kommentierte: »Schlesisch kann eine Wurstsorte, nicht aber eine Autonomie sein.« Eine solche Sichtweise auf die Forderungen aus Oberschlesien scheint unter Entscheidungsträgern – zumindest in Teilen – weiterhin aktuell zu sein, auch wenn das politische System der Republik Polen relativ erfolgreich den Weg der Systemtransformation beschritten hat. So wurde zwar versucht, Diversität als förder- und schützenswerten Grundsatz gesellschaftlichen Miteinanders zu etablieren, doch im Gegensatz etwa zur deutschen Minderheit, die in Polen weitgehende Rechte genießt, haben Oberschlesier trotz ihrer intensiven Bemühungen bislang keine Aufnahme in das Minderheitengesetz – weder als Nationalität, ethnische Minorität noch aufgrund des Schlesischen als Regionalsprache – erwirken können. Dasselbe gilt auch für die Forderung nach einem Umbau der Staatsordnung, die bereits im Namen der Autonomiebewegung verankert ist. Auch wenn Polen unter den neuen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten der EU auf dem Feld der Dezentralisierung als Primus gelten kann, scheint das Misstrauen gegen eine wie auch immer ausgestaltete Autonomie Oberschlesiens eine Konstante zu sein, welche die politischen Entscheidungsträger über Parteigrenzen hinweg vereint. Inwieweit die Positionen unter den Parteien, aber auch zwischen Politikern der zentralen und der regionalen Ebene divergieren, wird im Folgenden detailliert herausgearbeitet.
Verhüllte deutsche Option?
Die eindeutigste, markanteste und wohl einflussreichste Äußerung der letzten Jahre findet sich im 2011 veröffentlichten »Bericht über den Zustand der Republik« (Raport o stanie Rzeczypospolitej), einem Dokument der größten Oppositionspartei, Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS). Oberschlesiern, die für eine oberschlesische und nicht polnische nationale Identität eintreten, wird hier pauschal eine »verhüllte deutsche Option« unterstellt. Das Manifestieren einer oberschlesischen Identität ist damit in der Wahrnehmung der PiS nicht nur mit einer Distanzierung von einem ausschließlich polnischen Nationalgefühl gleichzusetzen, sondern zudem mit der Annahme einer deutschen Identität, die verheimlicht wird und damit als gefährlich, weil ›hinterlistig‹ einzustufen sei. Diese Einschätzung ist vor allem deshalb so bedeutend, weil sie den Rahmen der öffentlichen Debatte über die Oberschlesier nachhaltig bestimmen konnte. Als größte Oppositionspartei kann PiS nämlich eine Breitenwirkung entfalten, die oberschlesischen Aktivisten bislang verwehrt geblieben ist.
Bezeichnend ist in diesem Kontext, dass PiS ihr Dokument nach einer teilweise kritischen medialen Berichterstattung korrigierte. In der ursprünglichen Textfassung handelt es sich um ein Desavouieren oberschlesischer Eigenart im Allgemeinen: »Es kann hinzugefügt werden, dass das Schlesiertum einfach eine Art des sich Distanzierens vom Polentum darstellt und vermutlich schlicht mit der Annahme einer verhüllten deutschen Option gleichzusetzen ist.« Diese harsche Abwertung oberschlesischer Alterität findet sich nun in dem Bericht in einer abgeschwächten Variante wieder. In der überarbeiteten Version heißt es, dass von einer »verhüllten deutschen Option« dann die Rede sein kann, wenn Oberschlesier ihre polnische Nationalität negieren. Damit soll in dem Dokument offensichtlich nicht mehr alles Oberschlesische, sondern der Teil der Oberschlesier kritisiert werden, der sich weder der deutschen noch der polnischen Nation zugehörig fühlt und für die Anerkennung einer selbständigen oberschlesischen Nationalität eintritt. Trotz dieser Korrektur hielt die mediale Kritik an und so hat sich der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński dazu genötigt gefühlt, mehrfach klarzustellen, dass es sich vor allem um eine Kritik an der Bewegung für die Autonomie Schlesiens im Allgemeinen und deren Vorsitzenden, Jerzy Gorzelik, im Besonderen und nicht an Oberschlesiern polnischer Nationalität handele. In einer Pressekonferenz am 2. April 2011 sagte Kaczyński dazu: »In unserem Bericht finden sich kritische Worte über die Bewegung für die Autonomie Schlesiens, wobei diese kritischen Worte einem bestimmten Kontext eingeschrieben sind. Uns ging es um die Einstellung zur Kategorie der Nation […], um die RAŚ, ihre Beteiligung an der Macht, um die Übertragung der Verantwortung für kulturelle Angelegenheiten in Schlesien an einen Herren [gemeint ist Jerzy Gorzelik], der offen sagt, dass er kein Pole ist, der sich nicht mit Polen identifiziert, für den Polen nicht das Wichtigste ist. […] Diese Art des Schlesiertums, die Behauptung, dass eine schlesische Nation existiert, betrachten wir seinem Wesen nach natürlich als verhüllte deutsche Option.«
Für den hier angesprochenen Vorsitzenden der Autonomiebewegung, Jerzy Gorzelik, ist eine solche Darstellung in mehrfacher Weise beleidigend. Zunächst desavouiere Kaczyński solche Oberschlesier, die ausschließlich eine oberschlesische (und nicht eine polnisch-oberschlesische, oberschlesisch-deutsche oder nur deutsche) Identität deklarieren. Darüber hinaus beleidige PiS in ihrem Dokument – so Gorzelik weiter – Mitglieder der deutschen Minderheit. Immerhin versuchte hier die größte polnische Oppositionspartei, welche die Bürgerplattform als Regierungspartei beerben wollte, mit dem ›heimtückischen‹, weil sich als Oberschlesier ›tarnenden‹ Deutschen Angst zu schüren. Deshalb hat sich in diesem Zusammenhang auch die deutsche Minderheit kritisch zu Wort gemeldet. So konstatierte einer ihrer führenden Köpfe, der im Kattowitzer Schlesien aktive Dietmar Brehmer: »Der Vorsitzende von PiS fällt ein sehr ungerechtes Urteil über uns. Das haben wir nicht verdient. Als Minderheit haben wir immer öffentlich unsere Loyalität zum polnischen Staat erklärt und wir pflegen diese explizit.« Damit zeigen die Reaktionen Gorzeliks und Brehmers, dass es im multiethnischen Oberschlesien für Verstimmungen sorgt, wenn mit ›verhüllten Deutschen‹ gedroht bzw. denjenigen Oberschlesiern, die sich zu einer oberschlesischen (nicht-polnischen) Identität bekennen, eine manipulative Absicht unterstellt wird.
Jarosław Kaczyńskis Partei hat diesen medialen Wirbel und die Irritation eines Teils der oberschlesischen Bevölkerung wohl auch aus wahltaktischen Überlegungen in Kauf genommen. Dies legt der Zeitpunkt der Äußerung nahe, die zu Beginn des Wahlkampfs zum Sejm und Senat gefallen ist. Ein Interviewpartner (siehe Anmerkung am Textende) deutete jedoch an, dass es sich nicht ausschließlich um Wahlkampfstrategie gehandelt habe. Demnach soll die Überzeugung, dass die Versuche, eine oberschlesische Identität offiziell als Minderheit zu sanktionieren, ein ›deutsches Manöver‹ darstellen, nicht nur der Weltanschauung Jarosław Kaczyńskis und des rechten politischen Spektrums, sondern eines beträchtlichen Teils der gesamten politischen Landschaft Polens entsprechen. Inwieweit eine solche Einschätzung als übertrieben oder zutreffend gelten darf, kann aus Reaktionen auf den mittlerweile als Schlagwort fungierenden Vergleich mit der ›verhüllten deutschen Option‹ abgeleitet werden, die sowohl von Vertretern anderer Parteien als auch von oberschlesischen Regionalpolitikern bzw. Parlamentariern aus der Region stammen.
Der Blick anderer Parteien auf die Forderungen aus Oberschlesien
Es mag zunächst überraschen, dass sich Parteifreunde Kaczyńskis, die in Oberschlesien selbst aktiv sind bzw. aus Oberschlesien in den Sejm gewählt wurden, von den Äußerungen des Vorsitzenden der PiS verhalten distanzieren. Beispielsweise kann auf die Sejm-Abgeordnete Ewa Malik verwiesen werden, die zwar nicht offen kritisch reagiert, jedoch unterstreicht, mit dem Bericht nicht in Verbindung gebracht werden zu wollen – nach den Loyalitätsstandards innerhalb der PiS kann dies als durchaus couragiert gelten: »Der Vorsitzende Kaczyński hat das Recht, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, die ich nicht kommentieren werde. Ich habe bei der Erstellung des Berichts nicht mitgewirkt. Schlesier haben das Recht, ihre Kultur im Rahmen der Verfassung zu pflegen. Die Forderungen nach Autonomie gehen jedoch zu weit.« (zit. nach Pustułka/Minorczyk-Cichy 01.04.2011) Wer sich in Oberschlesien dem Votum der Wähler stellen muss, selbst wenn er einer rechts-konservativen Partei entstammt, scheint weniger konfrontativ auf die Identitätsdilemmata der Oberschlesier zu reagieren. Die Bewegung für die Autonomie Schlesiens bleibt zwar weiterhin ein politischer Gegner, auf die komplexe Identitätsverteilung unter Oberschlesiern wird aber vorsichtiger eingegangen.
Anders ist das Verhältnis der Postkommunisten zur Autonomiebewegung. Auch wenn linke Politiker tendenziell für gesellschaftliche Toleranz und die Akzeptanz auch ethnischer Diversität einstehen, ist wohl der bereits erwähnte historische Kontext dafür verantwortlich zu machen, dass die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) sich am schärfsten in der Debatte um das Schlagwort der ›verhüllten Option‹ zu Wort meldete – und zwar ganz in der Tradition des in der Volksrepublik angelegten Homogenisierungsdrucks kritisch der RAŚ gegenüber. Der SLD-Chef in der Woiwodschaft Schlesien, Zbyszek Zaborowski, hat nicht nur den Vorsitzenden von PiS für seine Aussage nicht kritisiert, sondern PO und RAŚ als Schuldige ausgemacht, die durch ihre (mittlerweile beendete) Zusammenarbeit auf regionaler Ebene die Verantwortung für die gesellschaftspolitische Polarisierung in Oberschlesien tragen sollen: »Diese Ansicht [Oberschlesier hätten eine ›verhüllte deutsche Identität‹] ist das Ergebnis der Anstachelung der Atmosphäre während der Volkszählung, die als eine Art neues Plebiszit die Oberschlesier den Polen gegenüberstellte. Ich habe davor gewarnt, wie gefährlich das ist. Aber es ist nicht Kaczyński, der diese Situation hervorgerufen hat, sondern die PO und RAŚ, die eingeladen worden waren, die Woiwodschaft gemeinsam zu regieren.« (zit. nach Pustułka/Minorczyk-Cichy 01.04.2011) Es wird also nicht das scharfe Urteil im Bericht der PiS oder ihres Vorsitzenden, sondern die Einbindung der RAŚ in die Regierungsverantwortung auf regionaler Ebene oder das Werben der RAŚ für die Anerkennung einer oberschlesischen Nationalität kritisiert. Eine solche Argumentation der SLD hängt sicherlich damit zusammen, dass die Autonomisten eine Alternative für die PO bei der Suche nach einer Mehrheit und damit eine direkte Konkurrenz zur SLD darstellen. Dies bestätigt etwa eine Aussage in einem Radiointerview, die der damalige Vorsitzende der SLD, Grzegorz Napieralski, kurz nach den Regionalwahlen von 2010 machte, als die oberschlesische PO Koalitionsverhandlungen mit den Autonomisten einleitete: »Die Bewegung für die Autonomie Schlesiens möchte natürlich eine Autonomie Schlesiens erreichen, was ich für eine sehr gefährliche Angelegenheit erachte, weil sie die territoriale Integrität des polnischen Staates bedroht.« Die Verknüpfung zwischen der damals noch potentiellen Kooperation der PO mit der RAŚ auf der Ebene der Woiwodschaft Schlesien mit der Gefahr einer Sezession stellt damit eine der schärfsten öffentlichen Reaktion auf den zwischenzeitlichen Bedeutungsgewinn der Autonomisten dar.
Anders reagierte die PO. Der wohl prominenteste Politiker der Bürgerplattform, der hier das Wort ergriffen hat, ist der damalige Vorsitzende des Europaparlaments, Jerzy Buzek. In einem Radiointerview nahm er kritisch und direkt Bezug auf die Worte Jarosław Kaczyńskis: »Ich bin Schlesier und fühle mich als Schlesier. Nicht viele Menschen wissen, wie viel Oberschlesien für seine Rückkehr nach Polen nach dem Ersten Weltkrieg bezahlen musste. Erinnern Sie sich bitte auch an die ›Solidarność‹ – schließlich starben doch in dem Bergwerk Wujek Schlesier für ihr Polentum. Dort gab es die größten Opfer. Das ist eine Aussage, die alle Schlesier verletzt und sie haben Grund, sich beleidigt zu fühlen.« Dabei hat Jerzy Buzek in keinster Weise auf die Autonomisten oder die Bemühungen um die Aufnahme in das Minderheitengesetz Bezug genommen und stattdessen – dem polnischen »Masternarrativ« entsprechend unter Verweis auf Aufstände – das Polentum der Oberschlesier exponiert. Demgegenüber hat der Vorsitzende der oberschlesischen PO, Tomasz Tymkiewicz, die mediale Auseinandersetzung nicht für einen Angriff auf PiS, sondern auch für eine Argumentation genutzt, die etwas vom sonst üblichen Überbetonen des Polentums der Oberschlesier abweicht: »Die Aussage von Herrn Kaczyński ist einfach niederträchtig und zeugt davon, dass er keine Ahnung von Schlesien hat. Einer solchen Rhetorik haben sich die Bolschewiken bedient und wegen ihr sind Tausende Schlesier nach Sibirien verschleppt worden. Der Vorsitzende der PiS beleidigt alle Schlesier.« (zit. nach Pustułka/Minorczyk-Cichy 01.04.2011) Dieses eindeutige Einstehen für die identitären Belange der Oberschlesier stellt eine offensichtliche Solidaritätsbekundung der oberschlesischen PO mit der RAŚ dar. Insbesondere der Bezug zur Verfolgung der einheimischen Bevölkerung Oberschlesiens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, einem Thema, das im kommunistischen Polen weitgehend tabuisiert wurde und dem jüngst vor allem auf Initiative der Autonomisten öffentlich gedacht wird (beispielsweise mit der neuen Tradition des »Tages des Gedenkens an die oberschlesische Tragödie«), zeigt ein weitgehendes Verständnis für regionale Befindlichkeiten, die aus einer patriotisch-polnischen Perspektive wenig Akzeptanz finden können. Die Bürgerplattform ist dabei jedoch keineswegs konstant als ›Schutzpatronin‹ der RAŚ aufgetreten. Es ist ein mehrfacher Wandel in ihrer Einstellung zu den oberschlesischen Belangen zu beobachten. Die rechtskonservative PiS und die postkommunistische SLD dagegen sind ihrer ablehnenden Haltung auch auf der regionalen Ebene bislang treu geblieben.
Bei der PO hängt dieser Wandel stark mit der Zeit zusammen, in der gemeinsam mit der RAŚ im Sejmik der Woiwodschaft Schlesien eine Koalition bestand. Nur während dieser Zusammenarbeit, also in den Jahren 2010 bis 2013, haben Regionalpolitiker der PO ihre Kritik an den Autonomisten, die den verbalen Angriffen der anderen Parteien in nichts nachstand, eingestellt. So haben alle Interviewpartner die Einstellung der PO als opportunistisch bezeichnet. Dabei kann beobachtet werden, dass die Verbesserung des Umgangs mit der RAŚ auf der regionalen Ebene auch auf die zentrale Ebene zurückwirkt. So haben sich in diesem Zeitraum auch Vertreter der PO in Warschau mit kritischen Aussagen über die Autonomisten zurückgehalten. Exemplarisch sind hier Aussagen des damaligen Ministerpräsidenten. Donald Tusk reagierte auf die Worte Jarosław Kaczyńskis zur Zeit des Bestehens der Zusammenarbeit in der schlesischen Woiwodschaft nicht nur kritisch, sondern nahm die RAŚ in gewisser Weise in Schutz: »Der Vorsitzende der PiS ist durch seine Aussagen paradoxerweise zum ersten Autonomisten geworden, dem Anführer einer echten Bewegung zur Desintegration des Staates.« Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die RAŚ keine wirklich separatistische Bewegung ist, womit der Regierungschef die Autonomisten vor dem regelmäßig vorgetragenen Vorwurf in Schutz nimmt, sie würden die territoriale Integrität Polens bedrohen. Nach dem Austritt der RAŚ aus der Koalition verschärfte sich die Haltung der PO gegenüber den Autonomisten wieder. So reagierte Donald Tusk auf die Frage nach der Forderung nach Autonomie kurz nach dem Ende der Koalition seiner oberschlesischen Parteifreunde mit der RAŚ anders: »Die Diskussion über eine Autonomie polnischer Regionen ist eine Sackgasse. Sie führt nirgendwohin, sie löst keine realen Probleme, sie steigert allein die Emotionalität in der politischen Debatte.« Nach Einschätzung der Interviewpartner sei die Rückkehr hin zu einer kritischen Einstellung den Autonomisten gegenüber noch expliziter bei den lokalen und regionalen Vertretern der PO zu beobachten.
Aktivisten der RAŚ deuten dabei an, dass sie die programmatische Autonomistenfeindlichkeit der PiS dem sich wandelnden und teilweise unvorhersehbaren Verhältnis zur PO vorziehen. So ist die Haltung der rechtskonservativen PiS in der Überzeugung Gorzeliks Ausdruck einer ›redlichen‹, weil konstanten und inhaltlich motivierten Einstellung gegenüber dem Projekt der Autonomie. Jarosław Kaczyńskis Partei hält schlichtweg am unitarischen Staatsaufbau Polens fest und warnt vor einer – wie es ihr Vorsitzender selbst mit dem am deutschen Föderalismus angelehnten Neologismus pointiert zum Ausdruck bringt – »Landisierung (landyzacja) Polens«. Gleichzeitig äußert sich Gorzelik viel kritischer zur Haltung der PO, die in seinen Augen »entweder genauso denkt wie die PiS, jedoch etwas anderes sagt, einfach vollkommen reflexionslos ist oder aus opportunistischen Gründen bzw. Gründen der medialen Wahrnehmung ihr Verhältnis zur RAŚ und der oberschlesischen Thematik verändert.« Der Bruch der Koalition scheint auf beiden Seiten und damit auch bei der RAŚ eine weiterhin wahrnehmbare Distanz zwischen den Autonomisten und der Regierungspartei zur Folge zu haben. Die RAŚ scheint nun wieder auf sich selbst gestellt für eine weitgehende Dezentralisierung Polens und die Anerkennung einer oberschlesischen Minderheit zu kämpfen. Dabei sehen Gorzelik und seine Mitstreiter das gesamte politische Spektrum gegen sich vereint.
Ausblick
Wie sich gezeigt hat, ist die überwiegende Mehrheit der Parteien, sowohl auf der regionalen als auch auf der allgemeinstaatlichen Ebene, negativ gegenüber der Autonomiebewegung und ihren Forderungen eingestellt – vor allem gegen die der weitgehenden Dezentralisierung Polens und der Anerkennung einer oberschlesischen Minderheit. Diese Haltung ändert sich nur, wenn die RAŚ für eine Partei als Koalitionspartner in Frage kommt. Das politische Establishment Polens wird damit – in den Augen der Interviewpartner – nur dann seine Position aufgeben, wenn die Bewegung für die Autonomie Schlesiens an Bedeutung gewinnt. Hierfür müssten die Autonomisten in ihrer Eigenwahrnehmung mehr materielle (z. B. finanzielle Mittel für Wahlkämpfe) und immaterielle Ressourcen (symbolische Anerkennung oberschlesischer Eigenheiten) zur Verfügung gestellt bekommen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Szenarien. Zunächst könnte die Aufnahme der Oberschlesier in das Minderheitengesetz sowohl den Zufluss an finanziellen Mitteln als auch das Selbstvertrauen der autochthonen Einwohner Oberschlesiens stärken. In der Folge wäre eine ebenso erfolgreiche politische Selbstorganisation denkbar, wie es die deutsche Minderheit im Oppelner Schlesien vorgemacht hat. Ein anderer Weg, den die Autonomisten selbst nennen, stellt die Gründung einer polnischen Regionalpartei dar, welche Kaschuben, Oberschlesier und andere vereinen würde. Denkbar wäre dabei auch eine solche Veränderung der Wahlordnung, die die Chancen kleiner politischer Gruppierungen vergrößert und in der Konsequenz die Stellung der RAŚ stärkt. Unabdingbar erscheint auch eine größere mediale Präsenz, die den oberschlesischen Aktivisten oftmals nur über gezieltes Provozieren gelingen will. Solche teilweise als Tabubruch erreichten Aufmerksamkeitsfenster rufen wiederum die Verteidiger des Polentums Oberschlesiens und der (angeblich) durch Separatismus bedrohten territorialen Integrität Polens auf den Plan, was die Parteien in ihrer distanzierten Haltung gegenüber den Autonomisten bestätigt. Dieser Teufelskreis entspricht wohl am ehesten dem aktuellen Verhältnis zwischen der Autonomiebewegung und der polnischen Parteienlandschaft.
Anmerkung
Polnische Parteien äußern sich nur selten in ihren Dokumenten zur Autonomiebewegung und ihren Forderungen. Deshalb haben die Autoren für ihre Analyse mediale Äußerungen von Politikern herangezogen sowie mehrere Leitfadeninterviews durchgeführt. Gesprächspartner waren sowohl Experten (Politologen und Journalisten) als auch Vertreter der politischen Landschaft Oberschlesiens, darunter auch der Vorsitzende der Bewegung für die Autonomie Schlesien, Jerzy Gorzelik.