Der Regierungswechsel infolge der Wahl Donald Tusks zum Präsidenten des Europäischen Rates und der Abgang des Duetts Donald Tusk – Radosław Sikorski, das die polnische Außenpolitik sieben Jahre gestaltet hatte, traf die polnische Diplomatie in einem besonders schwierigen Moment. Der russisch-ukrainische Konflikt hatte nicht nur zur Folge, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft Polens erstzunehmende Bedrohungen für die Sicherheit des Staates auftraten. Er offenbarte auch die Beschränkungen der polnischen Diplomatie und ihrer Fähigkeiten, auf die Politik der Europäischen Union Einfluss zu nehmen. Zwar hatte Warschau in der ersten Phase der Krise, Anfang 2014, nicht nur in den Verhandlungen in Kiew (gemeinsam mit Deutschland und Frankreich) eine Schlüsselrolle gespielt, sondern auch durch die unnachgiebige Mobilisierung der EU-Partner zugunsten entschiedenerer Aktivitäten angesichts des russischen Vorgehens gegenüber der Ukraine. Dessen ungeachtet wurde die Rolle Polens im Laufe der Zeit schwächer, was seinen symbolischen Ausdruck im sogenannten Normandie-Format fand, den im Juni 2014 initiierten Gesprächen zwischen den Vertretern Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine. Diese wurden das Hauptdiskussionsforum über die Lösungsmöglichkeiten des Konfliktes – ohne Beteiligung Polens, trotz seiner offenkundigen Bemühungen, diesem Kreis anzugehören.
Dass Warschau nicht eingeladen worden war, war im Sommer 2014 Gegenstand scharfer Kritik in den Medien, an der sich auch Politiker und Anhänger der Regierungskoalition beteiligten. Sie zielte vor allem auf Deutschland, das als Architekt der europäischen Politik und daher als verantwortlich für das Gesprächsformat mit Moskau galt. Dieses käme, so die Argumentation, den russischen Erwartungen entgegen, da es diejenigen Akteure ausschloss, die Russland gegenüber kritischer eingestellt seien als Berlin und Paris. Darüber, dass die Politik Deutschlands »eine Bombe unter dem Fundament Europas« sei und dass »man sich nicht auf Deutschland verlassen« könne, schrieben renommierte polnische Politiker und Kommentatoren. Der Ton dieser Diskussion wurde zusätzlich durch polnisch-deutsche Diskrepanzen vor dem Hintergrund der Entscheidungen des NATO-Gipfels in Newport im September 2014 verschärft. Während sich Warschau u. a. für die Stärkung der Ostflanke der NATO mit Hilfe der ständigen Stationierung von Truppen der Bündnispartner aussprach, wollte Berlin um jeden Preis Schritte vermeiden, die Russland allzu sehr zum Antagonisten machen könnten, beispielsweise indem die Grundsätze der NATO-Russland-Grundakte von 1997 verletzt würden (die Russland übrigens selbst vergewaltigt hatte). Die polnisch-deutsche Führung in der EU-Ostpolitik stand unter einem Fragezeichen.
Im »Normandie-Format« wurde das Waffenstillstandsabkommen vom 5. September 2014 vereinbart, das jedoch keine dauerhafte Stabilisierung der Situation und Wahrung der Interessen der Ukraine zeitigte. Polen stellte diesen Prozess nicht in Frage, auch wenn in Warschau insbesondere die Verschiebung der Implementierung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine auf den 1. Januar 2016 kritisch als Geste gegenüber Moskau betrachtet wurde. Über die Fortschritte der Gespräche wurde Polen auf dem Laufenden gehalten und entgegen der zitierten Kommentare bestätigten diese nicht den Verdacht, dass versucht werden sollte, hinter dem Rücken Polens und der EU und auf Kosten der Ukraine eine Übereinkunft mit Russland zu erreichen. Die deutsche Politik gegenüber Russland, und unter dem Einfluss Berlins auch die Politik der gesamten EU, verschärfte sich deutlich im Sommer 2014, was die Verhängung der zweiten Runde von Sanktionen infolge des Abschusses eines malaysischen Flugzeugs durch prorussische Separatisten im Juli 2014 nach sich zog. In Schlüsselfragen des Konfliktes in der Ukraine wich die Haltung Polens nicht von der von Deutschland unterstützten Politik ab. Dennoch blieb das Gefühl politischer Marginalisierung in für Polen wichtigen außenpolitischen Bereichen. Hinzu kam, dass nicht nur die Zusammenarbeit im »Weimarer Dreieck« mit Deutschland und Frankreich, sondern auch in der Visegrád-Gruppe, deren Länder in der Frage der Ukraine andere Positionen als Polen vertraten, viel zu wünschen übrig ließ. Wichtiger ist jedoch, dass das »Normandie-Format« gegenwärtig nicht so sehr als problematisch aufgefasst wird, weil Polen keinen Platz darin hat, sondern vielmehr, weil die Vereinigten Staaten dort nicht anwesend sind. Die Festigung dieses Formats, so die Argumentation, kann dazu führen, dass es das Hauptforum für Gespräche mit Russland auch über Themen wird, die über die Fragen der Ukraine hinausgehen und die europäische Ordnung im Allgemeinen betreffen. Wenn in Schlüsselfragen der Sicherheit Europas die Vereinigten Staaten außerhalb des Entscheidungskreises blieben, würde dies einen Erfolg für Russland bedeuten, dessen Ziel es sei, die USA aus Europa zu verdrängen, sowie auch eine wichtige geopolitische Änderung auf dem Kontinent zum Nachteil der Europäischen Union.
Die Einheit der EU über alles
Die neue Ministerpräsidentin Ewa Kopacz und der neue Außenminister Grzegorz Schetyna übernahmen ihre Ämter also in einem Moment, als die polnische Politik in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gestoßen war. Die Hoffnungen, dass eine neue Postenverteilung in der Regierung neue Energien und Ideen freisetzen würde – Außenminister Schetyna kündigte an, dass »der Platz Polens am Verhandlungstisch« sei, und suggerierte damit, dass sich Warschau um Anschluss an das »Normandie-Format« bemühen werde –, mischten sich mit Befürchtungen, dass die in internationalen Fragen unerfahrenen Nachfolger von Tusk und Sikorski diese Erwartungen nicht würden erfüllen können. Im Grunde zeigten die ersten Erklärungen der neuen Regierung nicht, dass Polen beabsichtige, in Sachen Ukraine mit größerer Aktivität in Erscheinung zu treten. Sowohl die Ministerpräsidentin als auch ihr Außenminister unterstrichen vor allem die Notwendigkeit, die polnische Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Union zu koordinieren, und verabschiedeten sich davon, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Als Schetyna die Grundsätze der Außenpolitik im Sejm präsentierte, stellte er keine neuen Ideen für eine Strategie gegenüber dem Osten vor, sondern legte stattdessen größeren Nachdruck auf die Vertretung polnischer Interessen in außereuropäischen Ländern. Doch sollten rhetorische Unterschiede nicht den Kern der Sache verdecken: Auch das Gespann Tusk und Sikorski ließ sich von der Priorität einer gemeinsamen Linie der EU gegenüber Russland und der Ukraine leiten. Sikorski selbst hatte bereits im Jahr 2009 das Ende der »jagiellonischen Politik« verkündet, d. h. der Politik, die Polen eine besondere Mission in Osteuropa zuschreibt, und gefordert, dass die polnische Ostpolitik der umfassenderen Vision vom Platz Polens und der polnischen Politik in der EU untergeordnet und in diesem Zusammenhang auch in die Beziehungen zu Deutschland und Frankreich eingeordnet werden sollte. In der Praxis bedeutete diese neue Philosophie nicht, dass die ambitionierte Politik gegenüber dem Osten aufgegeben wurde (was die Opposition der Regierung Tusk vorwarf), sondern vor allem die Anerkennung, dass die Wirksamkeit dieser Politik vom Platz Polens in Europa abhängt und sie nicht ein Ziel an sich ist.
Diese Einstellung wurde auch die Devise des Teams Kopacz-Schetyna. Die »Einheit der Europäischen Union« gegenüber dem Konflikt im Osten wurde spätestens seit Herbst 2014 eine Priorität der polnischen Politik, die nicht mit weitergehenden Initiativen in Eigenregie hervortrat, die grundsätzlich vom Mainstream der EU abwichen, der von Deutschland vorgegeben wurde. »Es ist besser, gemeinsam weniger zu machen, als mehr in Einzelinitiative«, sagte ein hoher polnischer Diplomat. Polen bezog auch in Fragen der Ausrüstung der ukrainischen Armee eindeutig Position. Während Anfang 2015 die Unterstützung für einen solchen Schritt in der medialen Diskussion dominierte (die wichtigsten Tageszeitungen Rzeczpospolita und Gazeta Wyborcza sprachen sich für die Nachrüstung der Ukraine aus), schloss die Regierung diese Möglichkeit aus, trotz offener Bemühungen von Seiten der Ukraine. »Die Lieferung schweren Geräts, der Ausrüstung von Spezialeinheiten, von Panzern oder ähnlicher Bewaffnung in die Ukraine kommt nicht in Frage. Polen hatte und hat keine Pläne dieser Art«, sagte Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak in einem Interview für die Gazeta Wyborcza am 10. Februar 2015. Gleichzeitig unterstrich er, dass es anders als in Deutschland »keine Verurteilung der Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie Polens und der Ukraine gibt. […] Wir haben der ukrainischen Armee bereits früher geholfen und Decken und Lebensmittelrationen geschickt.« Die Haltung Polens ist in erster Linie von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Linie mit der EU motiviert (die Mehrheit der EU-Länder ist eindeutig gegen jedwede militärische Hilfe), aber inoffiziell auch von der Angst vor der Eskalation des Konflikts, die sich am stärksten u. a. auf Polen auswirken würde, sowie von Befürchtungen hinsichtlich des Zustands der ukrainischen Armee. Während ihres Besuchs in Kiew im Januar 2015 kündigte Ministerpräsidentin Ewa Kopacz die Bereitstellung eines Kredits in Höhe von 100 Mio. Euro für die Ukraine an, der mit einer Laufzeit von zehn Jahren für den Wiederaufbau der Donbas-Region und die Unterstützung des Reformprozesses vorgesehen ist (bei der Realisierung der Projekte, die aus diesem Topf finanziert werden, sollen auch polnische Firmen beteiligt werden). Während dieses Besuchs wurde außerdem eine Vereinbarung über eine Energie-Kooperation zwischen dem ukrainischen und dem polnischen Konzern Naftohaz und Gaz-System unterzeichnet, und zwar in Form eines Energietransfers für Flüssigerdgas (LNG) aus Polen in die Ukraine über Interkonnektoren mit einer Kapazität bis zu 10 Mrd. Kubikmeter jährlich – hier geht es also um anderes Gas als um das russische. Ähnlich wie Großbritannien hat Polen der Ukraine auch Hilfe bei der Schulung der ukrainischen Armee angeboten; die Übungen sollen auf polnischem Territorium stattfinden. Auch Staatspräsident Bronisław Komorowski gab bei seinem Besuch in Kiew am 10. April 2015 eine Unterstützungserklärung ab, die sowohl die Notwendigkeit umfasst, Kiew die Türen zur EU offen zu halten und auf dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Riga im Mai 2015 von Seiten der EU die Visumspflicht für ukrainische Staatsbürger aufzuheben, als auch die Beteiligung Polens an einer eventuellen Friedenmission der Vereinten Nationen zur Kontrolle der Einhaltung des Waffenstillstands. Jedoch, so schrieb Rzeczpospolita sarkastisch, war dies nur ein »Besuch schöner Versprechungen«, der nicht über die zuvor abgegebenen Erklärungen einer bescheidenen finanziellen Unterstützung und wenig chancenreiche Initiativen (die Mission der UN, die Aufhebung der Visumspflicht) hinausging.
Ukrainemüdigkeit?
Zweifellos wird die Krise in der Ukraine in Polen weiterhin als fundamentales Problem für die Interessen und die Sicherheit des Staates betrachtet. Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS von Februar 2015 sind 67 Prozent der Polen der Ansicht, dass es sich um eine Bedrohung für Europa handelt, und 55 Prozent befürchten, dass die Krise die globale Ordnung stören wird. Die Unabhängigkeit der Ukraine und ihre Verbindung zu Europa bleiben Konstanten der polnischen Staatsräson. Sichtbarer Ausdruck dessen waren unlängst die Erklärungen hoher politischer Repräsentanten, u. a. des Senatsmarschalls Bogdan Borusewicz, in denen unterstrichen wurde, dass die Vergangenheit und damit einhergehende Streitigkeiten keine Bedeutung für die polnische Unterstützung der europäischen Bemühungen der Ukraine und die grundlegenden Fragen der gegenwärtigen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben. In der Tat rief es keine politischen Spannungen hervor, dass das ukrainische Parlament genau am Tag des Besuchs von Staatspräsident Komorowski in Kiew ein Paket historischer Gesetze verabschiedete, das u. a. Angehörige der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg auch Verbrechen an Polen begangen hatte, als Freiheitskämpfer der Ukraine anerkannte.
Doch nicht weniger deutlich sind – sowohl in der politischen Elite als auch in der Bevölkerung – Ermüdungserscheinungen hinsichtlich des polnischen Engagements in dem Konflikt wie auch Befürchtungen, dass die Ukraine unabhängig vom bewaffneten Konflikt wieder einmal ihre Chance vertun könnte. Diese Stimmungsentwicklung äußert sich in verschiedenen Bereichen. Erstens ergibt sich das relativ bescheidene Engagement Warschaus für die finanzielle Unterstützung der Ukraine – ein Kredit in Höhe von 100 Mio. Euro für die Dauer von zehn Jahren ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein – aus einer recht pessimistischen Bewertung des Reformprozesses des ukrainischen Staates und seiner Wirtschaft. Ein Jahr nach Beginn der Proteste auf dem Maidan lässt die Entschlossenheit, eine tiefgehende Umstrukturierung des Staates durchzuführen, viel zu wünschen übrig (und zwar nicht nur wegen des gleichzeitig geführten Krieges in der Ostukraine) und scheint die Stabilität des Regierungslagers nicht gegeben zu sein. Immer häufiger werden aus Warschau herbe Worte und Signale an die Ukraine gerichtet, dass deren Schicksal vor allem in den Händen der Ukrainer selbst liege.
Zweitens ist die öffentliche Meinung in Sachen Ukraine zurückhaltender, als dies gängige Meinungen über eine bedingungslose Unterstützung der Polen für die Ukraine suggerieren. Nach der oben angeführten Umfrage von CBOS vertreten 56 Prozent der Polen die Meinung, dass Polen die Ukraine nur gemeinsam mit anderen EU-Ländern unterstützen soll, 33 Prozent sind gegen ein Engagement Polens in diesem Konflikt. Nur sechs Prozent sind der Überzeugung, dass Warschau eine besondere Verantwortung trägt. 62 Prozent der Befragten wiederum sind der Ansicht, dass sich Polen nicht finanziell für die Ukraine engagieren sollte, gegenüber nur 31 Prozent, die dies befürworten. Sogar der von Ministerpräsidentin Kopacz versprochene Kredit von lediglich 100 Mio. Euro wird nur von 23 Prozent der Bevölkerung unterstützt.
Drittens ist es vor dem Hintergrund dieser Stimmungen wohl nicht verwunderlich, dass die Politiker versuchen, aus dieser eigentümlichen, wenngleich noch begrenzten Ukrainemüdigkeit vor den sich nähernden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Kapital zu schlagen. Kritische Stimmen zu einem – übermäßigen – Engagement Polens in Sachen Ukraine sind sogar aus den Reihen der Regierungskoalition zu vernehmen. Adam Jarubas, der Kandidat der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) für das Amt des Staatspräsidenten, kritisierte offen die Politik der Regierung und sprach sich für eine »gemäßigtere« Unterstützung Kiews aus. Der stellvertretende Ministerpräsident Janusz Piechociński, ebenfalls aus der PSL, warnte vor »Hunderttausenden« Migranten, die infolge der Krise nach Polen strömen könnten, und kritisierte die ukrainischen Eliten scharf für die Nichteinhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards. Die PSL repräsentiert die Interessen der Landwirte, die im Sommer 2014 unter den von Russland verhängten Gegensanktionen (vor allem Exportverbote für Fleisch und Ernährungs- und Agrarprodukte) litten. Nichtsdestotrotz, so hieß es in der Rzeczpospolita (5. März 2015), würde die Mehrheit der Branche gut damit zurechtkommen, sich auf andere Absatzmärkte umzustellen und könne der Export polnischer Produkte im Jahr 2015 sogar den Rekord von 21,4 Mrd. Euro übersteigen. Besonders offen ruft die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) dazu auf, die aktive Unterstützung der Ukraine zu beenden und Russland nicht zum Antagonisten zu machen. Deren Kandidatin, Małgorzata Ogórek, warf der Regierung sogar vor, »einen militärischen Konflikt mit Russland zu riskieren«, da sie die Möglichkeit der Waffenlieferung an die Ukraine nicht vollständig ausschlösse. Stimmen, dass in Polen eine »russische Partei« auftritt, im Sinne eines Milieus, das bereit zu Zugeständnissen gegenüber Moskau ist, mögen übertrieben sein, doch ist der gesellschaftliche und politische Konsens in Sachen Ostpolitik zweifellos schwächer als in der Vergangenheit.
Sanktionen und Abschreckung
Der geringe Einfluss Polens auf den diplomatischen Wettstreit um die Ukraine und der nüchterne Skeptizismus gegenüber den Fortschritten bei der Reformierung des Landes, der Zurückhaltung beim finanziellen Engagement zugunsten der Ukraine nahelegt, markieren die Grenzen der Möglichkeiten der polnischen Politik. Das Instrument, dessen Richtigkeit weiterhin keiner Diskussion unterliegt, bleiben die Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland. Mitte Februar sagte Außenminister Schetyna in einem Fernsehinterview, dass »Sanktionen die einzige Waffe der EU« seien und verabschiedete sich damit noch einmal von eventuellen Plänen, der Ukraine Waffen zu liefern. Gleichzeitig unterstrich er damit die harte Haltung Polens in der Frage der Notwendigkeit, die ökonomischen Zwangsmaßnahmen gegenüber Russland als Antwort auf dessen Aktivitäten gegenüber der Ukraine aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls zu verschärfen. Bereits Anfang Februar, nach der Offensive der Separatisten in der Ostukraine, war die polnische Regierung der Ansicht, dass es Zeit für eine weitere Runde von Sanktionen sei. Unter dem Einfluss Kiews, das die Situation im Kontext der gerade stattfindenden Waffenstillstandsgespräche nicht verschärfen wollte, die schließlich zum Abkommen »Minsk II« führten, trat sie jedoch von dieser Forderung zurück. Allerdings sollte nach Meinung Warschaus die Androhung weiterer Sanktionen für den Fall aufrechterhalten werden, dass das Abkommen drastisch gebrochen würde. Die EU sollte bereit sein, groß angelegte Sanktionen in bestimmten Bereichen zu verhängen, falls die Russen die Demarkationslinie überschreiten und die territoriale Expansion fortsetzen würden. Ein eventueller Angriff auf Mariupol sei, so Schetyna, eine »rote Linie«, auf deren Überschreiten der Westen mit schrittweisen Sanktionen reagieren sollte, wobei der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System der letzte Schritt sein sollte, vergleichbar mit einer ökonomischen »Nuklearoption«. Die aktuell geltenden Sanktionen sollten bis zur vollständigen Implementierung des Minsker Abkommens aufrechterhalten werden.
Unabhängig vom Schicksal des Abkommens herrscht in Warschau die Überzeugung, dass es die strategischen Ziele Russlands nicht ändern werde, zu denen der Aufbau bzw. die Stärkung des eigenen Einflussbereichs, die Verdrängung der USA aus Europa und die Schwächung der Europäischen Union von außen gehören. Zur langfristigen Strategie, auf diese Situation zu reagieren, gehören die Unterstützung der Ukraine – mit den genannten, wesentlichen Beschränkungen –, Sanktionen gegenüber Russland und die Stärkung der NATO und der EU in Bereichen, die unter dem Aspekt der Abschreckung und der Widerstandsfähigkeit gegenüber russischen Aktivitäten, die gegen diese Strukturen gerichtet sind, von zentraler Bedeutung sind. Letzteres scheint nach polnischer Einschätzung heute das wichtigste zu sein und betrifft drei Bereiche.
Erstens: Eine Priorität ist die Stärkung des Verteidigungspotentials und der militärischen Fähigkeiten des Landes. Ein politisch wichtiges Symbol dieses Denkens war, dass Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak in der neuen Regierung in den Rang des stellvertretenden Ministerpräsidenten erhoben wurde, sowie die Entscheidung über die Erhöhung der Militärausgaben von 1,95 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 2 Prozent. Praktisch drücken sich diese Maßnahmen in der Beschleunigung strategischer Entscheidungen beim Kauf der Armeeausstattung aus, insbesondere von Raketenabwehrsystemen und Kampfhubschraubern. Die Bekanntmachung der Einkäufe ist für den 21. April vorgesehen. Die Wahl der Anbieter (im Fall des größten Vertrags, der die Raketenabwehr betrifft und 20 Mrd. Zloty umfasst, wird sie zwischen dem US-amerikanischen Hersteller Raytheon und dem europäischen Hersteller Eurosam getroffen) wird weitreichende politische Folgen auch für die polnische Rüstungsindustrie haben.
Zweitens misst Polen der Umsetzung der Beschlüsse des NATO-Gipfels in Newport große Bedeutung bei, insbesondere was die Stärkung der Ostflanke des Bündnisses betrifft. Die Bildung der sogenannten Speerspitze, deren Hauptquartier sich in Stettin befinden soll, rotierende Manöver der NATO-Truppen auf polnischem Territorium und in anderen Ländern Ostmitteleuropas sowie der Readiness Action Plan, der detaillierte Vorgaben für das Bündnis im Falle einer Bedrohung enthält, sind die wichtigsten Aspekte des dort beschlossenen Pakets. Dennoch wird ihre Bedeutung letztlich davon abhängen, wie die Beschlüsse in der Praxis interpretiert und angewendet werden. Polen legt Wert darauf, dass sich die kollektive Verteidigung der NATO auf »konventionelle Bedrohungen der Sicherheit« ausrichten solle, wie sie in Artikel 5 des Nordatlantikpakts vorgesehen werden. Anders gesagt – die neuen Instrumente der NATO sollten so konstruiert sein, dass sie in erster Linie auf die Herausforderungen antworten, mit denen sich das Bündnis an der Ostflanke messen muss. Warschau unterstreicht, dass die Einführung dieser Instrumente eine Antwort auf die Krise im Osten war – ohne die Annexion der Krim wären es weder zum Readiness Action Plan noch zur »Speerspitze« gekommen. Allerdings trifft diese Haltung unvermeidlich auf den Widerstand der südlichen Bündnispartner, die über weniger konventionelle Bedrohungen, wie sie aus dem Chaos im Nahen Osten und in Nordafrika resultieren, besorgt sind.
Drittens gehört Polen zu denjenigen Ländern, die die Energieunion am entschiedensten unterstützen. Diese soll nicht nur dem Aufbau eines gemeinsamen Energiemarktes dienen, sondern auch die EU in Verhandlungen mit externen Partnern wie zum Beispiel Gazprom deutlich stärken. Die Energieunion wird als Schlüsselprojekt für die Stärkung der Einheit der EU betrachtet sowie für ihre Fähigkeit, sich gegen Praktiken zu stellen, die gegen die Interessen einzelner Mitgliedsländer gerichtet sind. Zwar wurde der polnischen Forderung gemeinsamer Energiekäufe in der EU, die im Frühjahr 2014 noch von Ministerpräsident Donald Tusk publik gemacht wurde, nicht stattgegeben, aber das Kommuniqué der Europäischen Kommission zur Energieunion vom März 2015 erfüllte den Großteil der polnischen Erwartungen. Polen wird sich mit Sicherheit weiter vehement nicht nur für den Ausbau der Verbindungsleitungen in Europa aussprechen, sondern auch für den Beschluss von Grundsätzen zur Transparenz von Energieverträgen einzelner EU-Mitgliedsländer sowie für die größtmögliche Beteiligung der Europäischen Kommission bei den Verhandlungen.
Die Präsidentschaftswahlen im Mai, deren Sieger mit dem amtierenden Bronisław Komorowski bereits festzustehen scheint (offen bleibt nur, ob ein oder zwei Wahlgänge nötig sein werden), beeinflussen die polnische Außenpolitik nicht wesentlich. Das Ergebnis des Kandidaten der Opposition, Andrzej Duda, wird allerdings als Maß für das Mobilisierungspotential von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) für die im Herbst stattfinden Parlamentswahlen gelten. Im Wahljahr 2015 sind keine ambitionierteren oder entschiedeneren Aktivitäten auf der internationalen Bühne zu erwarten – Umfragen zeigen, dass die Ukraine-Politik nicht unbedingt das Thema ist, mit dem sich Wählerstimmen gewinnen lassen. Auch nach den Wahlen werden weder die Prioritäten noch die genannten Einschränkungen der polnischen Politik gegenüber dem Konflikt im Osten eine grundlegende Änderung erfahren.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate