Politisches Gedenken – Polen und der 8. Mai 1945

Von Reinhold Vetter (Warschau/Berlin)

Zusammenfassung
In Polen sieht man das Ende des Zweiten Weltkriegs mit gemischten Gefühlen, denn es symbolisiert nicht nur das Ende der Naziherrschaft, sondern auch die schrittweise Eingliederung des Landes in den sowjetischen Machtbereich. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die diesjährigen Gedenkfeiern vor dem Hintergrund des aggressiven Vorgehens Russlands in der Ukraine einen ausgeprägt politischen Charakter hatten. Aus polnischer Sicht war es bedauerlich, dass die zentrale Feier in Danzig im Westen nicht jene Aufmerksamkeit fand, die sich insbesondere Polens Staatspräsident Bronisław Komorowski gewünscht hatte. Das geplante Museum des Zweiten Weltkriegs, ebenfalls in Danzig, ist ein wichtiger Schritt, das historische Wissen vieler Bürger im Land zu vertiefen – jenseits aller historisch-politischen Großveranstaltungen.

Öffentliches Erinnern findet nicht in einem politikfreien Raum statt. Immer sind es auch aktuelle nationale und internationale Rahmenbedingungen, die das Gedenken beeinflussen. Politische Ereignisse können historische Reflexionen aus der öffentlichen Debatte verdrängen oder zumindest überlagern. Oft sind unterschiedliche Bewertungen geschichtlicher Phänomene auch Mittel der politischen Auseinandersetzung.

So ist mehr als verständlich, dass die Annexion der Krim durch Russland und die russische Aggression im Osten der Ukraine gerade bei älteren Menschen in Polen Kriegsängste und leidvolle Erfahrungen wieder wach werden ließen: den Einmarsch der Roten Armee im Ostpolen am 17. September 1939, den Massenmord an polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Frühjahr 1940, die Deportation vieler Polen nach Sibirien und das tatenlose Zuschauen der Roten Armee während des Warschauer Aufstands gegen die deutschen Besatzer im August/September 1944.

Andererseits lenkt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg den Blick der Öffentlichkeit auch auf Erfolge, die Polen heute vor Erfahrungen wie damals schützen. Dazu zählt insbesondere die Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union und der NATO. Nicht umsonst trug eine Debatte mit ausländischen Gästen in Danzig den Titel »Europäische Integration – Lektionen des Zweiten Weltkriegs«.

Wenn ein öffentlicher Streit das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg teilweise überlagerte, dann war es die seit fünf Jahren anhaltende Debatte über die Hintergründe des Flugzeugabsturzes nahe Smolensk (Russland) am 10. April 2010, bei dem der damalige Staatspräsident Lech Kaczyński, seine Frau sowie zahlreiche Mitglieder der politischen und militärischen Elite Polens ums Leben kamen. Die Mehrheit der polnischen Zeitungen war sich jetzt darin einig, dass dies »der schwärzeste Moment der jüngeren polnischen Geschichte« (Rzeczpospolita) bzw. »die größte Tragödie in der Nachkriegsgeschichte Polens« (Gazeta Wyborcza) gewesen sei.

Schließlich übte auch die politische Auseinandersetzung vor der Präsidentenwahl am 10. und am 24. Mai sowie der Parlamentswahl im Herbst dieses Jahres einen gewissen Einfluss auf das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg aus.

Gemischte Gefühle, zwiespältige Erinnerungen

Wo stand Polen am 8. Mai 1945? Bei ihrem Vormarsch in Richtung Westen hatte die Rote Armee am 17. Januar 1945 die westlichen Stadtteile Warschaus erreicht. An ihrer Seite kämpften auch polnische Truppen, vor allem die Erste Polnische Armee (»Berling-Armee«). In den folgenden Monaten wurde das gesamte polnische Gebiet zwischen der Weichsel und dem neuen Grenzfluss Oder von den deutschen Besatzern befreit. Trotz der Auflösung der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa – AK) am 19. Januar beschlossen viele ihrer Soldaten, im Untergrund zu bleiben und nun gegen die Rote Armee und die polnischen Kommunisten zu kämpfen. AK-Kommandant Leopold Okulicki sagte damals, er sehe lediglich, dass ein Besatzer den anderen abgelöst hätte.

Unter dem Schutz der Roten Armee entstand mit der »Vorläufigen Regierung der Nationalen Einheit« die erste polnische Nachkriegsregierung. Nur vier der 14 Mitglieder dieses Kabinetts gehörten nicht zu den Kommunisten. Im Frühsommer begann der Wiederaufbau; Schulen, Ämter, Universitäten und Theater nahmen ihren Betrieb wieder auf.

Bereits beim Treffen der »Großen Drei«, Stalin, Roosevelt, Churchill, in Jalta im Februar 1945 war die schon in Teheran im November 1943 anvisierte Westverschiebung Polens bestätigt worden. Während der Konferenz in Potsdam (Juli/August 1945) setze Stalin dann gegenüber Attlee und Truman die Oder-Neiße-Linie als künftige polnische Westgrenze durch. Zugleich stimmten die Alliierten der Aussiedlung der Deutschen in »ordnungsgemäßer und humaner Weise« zu.

Die polnischen Kriegsverluste waren gewaltig. Die Zahl der Todesopfer wurde auf über sechs Millionen Menschen geschätzt. Die Höhe der materiellen Verluste veranschlagte man auf der Grundlage des Bestands von 1939 mit etwa 50 Milliarden US-Dollar. Infolge der Westverschiebung wurde das staatliche Territorium verkleinert, wobei die nun angegliederten deutschen Ostgebiete einen höheren Zivilisationsgrad aufwiesen als die abgetrennten polnischen Ostgebiete. Polen musste zudem gewaltige Bevölkerungsverschiebungen bewältigen. Drastisch veränderte sich auch das Bild der Städte, weil der Staat einen großen Teil seiner hauptsächlich urbanen Funktionseliten verloren hatte.

Vor diesem historischen Hintergrund ist nur allzu verständlich, dass man den 8. Mai 1945 in Polen mit gemischten Gefühlen sieht, als eine Zäsur mit ambivalenten Folgen. So sagte Staatspräsident Bronisław Komorowski in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza: »Wir feiern den 70. Jahrestag, weil damals ein furchtbarer Krieg zu Ende ging. Das bedeutete aber auch, dass die Beendigung der deutschen Besatzung unserer Region keine Freiheit brachte, denn die Länder in diesem Teil Europas wurden gegen ihren Willen dem Imperiums Stalins untergeordnet«.

Für Polen ist der deutsche Überfall am 1. September 1939 der Ausgangspunkt für die Zerstörung der Zweiten Polnischen Republik, die nach 123 Jahren der Nichtexistenz Polens seit 1918 bestand. Der 17. September 1939 war der Tag, an dem die Rote Armee die damalige polnische Ostgrenze überquerte. Seit dem Umbruch des Jahres 1989 ist der 17. September ein Gedenktag und im historischen Bewusstsein dem 1. September ebenbürtig.

Während die deutsche Besatzung und der Vernichtungskrieg als totaler Bruch mit den Normen der westlichen Welt angesehen wird, gilt der damalige Einmarsch im Osten als Beginn der Sowjetisierung Polens. Dabei ist die kollektive Erinnerung unterschiedlich ausgeprägt, da West- und Zentralpolen damals unter der Wehrmacht litten, während Ostpolen die Anwesenheit der Roten Armee drastisch zu spüren bekam. Zudem herrscht bis heute eine selektive Wahrnehmung. Obwohl dem Regime der Roten Armee nicht nur Polen zum Opfer fielen, sondern auch in Polen lebende Ukrainer, Weißrussen und Juden, sind diese nichtpolnischen Opfer des sowjetischen Einmarsches im kollektiven Gedächtnis der Polen kaum präsent.

Die Politik dominiert das historische Gedenken

Anfangs hatten Polens Staatspräsident Bronisław Komorowski und seine Mitarbeiter große Pläne. Als sich abzeichnete, dass aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts die meisten westlichen Politiker auf eine Teilnahme an den Siegesfeiern in Moskau verzichten würden, hoffte man im Warschauer Präsidentenpalais, die Feiern in Danzig am 7. und 8. Mai zur wichtigsten europäischen Gedenkveranstaltung machen zu können. Schnell stießen diese Pläne in Russland auf scharfe Kritik und verschlechterten die ohnehin stark angespannten bilateralen Beziehungen. Der Kreml und die von ihm gesteuerten Medien witterten eine Konkurrenz zu den traditionellen Feierlichkeiten auf dem Roten Platz und warfen Warschau vor, »die Geschichte zu verfälschen und den russischen Beitrag zum Sieg über Hitlerdeutschland anzuzweifeln«. Komorowskis Vorgehen, so hieß es, treffe jeden Russen ins Herz, für den der 9. Mai quasi religiöse Bedeutung habe. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse schickten vor allem die westlichen Staaten kaum hochrangige Vertreter nach Danzig. Zugegen waren EU-Ratspräsident Donald Tusk, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der französische Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian und Alt-Bundespräsident Horst Köhler. So blieben die angereisten Staatschefs aus Ostmitteleuropa, der Ukraine und dem Baltikum praktisch unter sich. Immerhin lösten sich diese Länder mit der gemeinsamen Zeremonie in Danzig endgültig aus der alten Ostblock-Tradition, den 9. Mai als »Tag des Sieges« zu feiern. Andererseits zeigte das Fernbleiben der westlichen Staatschefs auch, dass Europa gegenüber Russland nicht immer mit einer Stimme spricht.

In einer Umfrage des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS hatten sich 65 Prozent der Befragten gegen eine Teilnahme polnischer Politiker an der Feier in Moskau ausgesprochen. Kompromissvorschläge wie der von Adam Krzemiński, Politikredakteur des Wochenmagazins Polityka, die zentrale Gedenkfeier in Berlin abzuhalten, da dort de facto der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen sei, fanden keine Mehrheit in Europa.

Alle politischen Redner und auch die in Danzig versammelten Historiker nutzten ihre historischen Reminiszenzen auch, um Verbindungslinien in die Gegenwart zu ziehen. Polens Staatspräsident Komorowski würdigte sowohl die Opfer des Zweiten Weltkriegs als auch den europäischen Einigungsprozess der letzten Jahrzehnte. Nicht allen habe das Ende des Krieges die Freiheit geschenkt, sagte Komorowski mit Blick auf das Schicksal der Menschen »auf der falschen Seite des Eisernen Vorhang«, wo Aufstände niedergeschlagen und Bürgerrechte verletzt worden seien. Der Konflikt in der Ukraine rufe Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert hervor. Noch heute gebe es Kräfte, die nach der Logik von Einflusssphären handelten und rechtliche Grundlagen ignorierten, womit natürlich Russland gemeint war.

Ähnlich deutliche Worte wählte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė – die eigene Geschichte lasse die ostmitteleuropäischen Staaten besser verstehen, in welcher Lage sich die Ukraine heute befinde. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko betonte, die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg dürften keinesfalls ignoriert werden. Er dankte dafür, dass die meisten europäischen Politiker auf eine Reise zur Siegesfeier in Moskau verzichtet hätten. Einige der russischen Einheiten, die an der dortigen Militärparade teilnähmen, so der Präsident, hätten zuvor im Donbass im Osten der Ukraine gekämpft.

Einigermaßen überrascht war man in Polen, als Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz im Beisein von Staatspräsident Wladimir Putin nicht nur von einer völkerrechtswidrigen, sondern sogar von einer verbrecherischen Annexion der Krim sprach. Von allen polnischen Medien aufgegriffen wurde Putins bei dieser Gelegenheit vorgetragene Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Pakts sowie seine Bemerkung, Polen habe sich vor dem Zweiten Weltkrieg an der Aufteilung der Tschechoslowakei beteiligt und sei schließlich Opfer einer zuvor von ihm selbst mitgestalteten aggressiven Politik geworden. Dazu hieß es beispielsweise in der Gazeta Wyborcza, dies sei der naive Versuch Putins gewesen, Deutschland auf seine Seite zu ziehen und Polen als gemeinsamen Gegner zu konstruieren. Die deutliche Reaktion Merkels, so das Blatt, zeige den Unterschied zwischen einem Land, das seine Vergangenheit aufgearbeitet habe, und einem Land, das Gefangener seiner eigenen Vergangenheit bleibe. Mit Genugtuung registrierte man deshalb in Polen auch den Passus aus der Rede des Historikers Heinrich August Winkler am 8. Mai im Bundestag, als dieser sagte: »Nie wieder dürfen unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn, die 1939/40 Opfer der deutsch-sowjetischen Doppelaggression im Zuge des Stalin-Hitler-Paktes wurden und die heute unsere Partner in der Europäischen Union und im Atlantischen Bündnis sind, – nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden.«

Gerne hätte man sich in Polen gewünscht, dass bei dem vielfältigen Gedenken in Deutschland an die großen Opfer der Sowjetunion im Kampf gegen Hitlerdeutschland auch der Beitrag polnischer Soldaten beim Niederringen der Wehrmacht erwähnt worden wäre. Niemand in Polen, so hieß es, wolle bestreiten, dass die Rote Armee den größten Beitrag geleistet habe, aber die damalige Erste Polnische Armee sei eben auch am Kampf gegen das deutsche Militär beteiligt gewesen.

Polnische Soldaten gegen die Wehrmacht

In Polen geriet das Schicksal der polnischen Soldaten, insbesondere der damaligen Ersten Polnischen Armee, die an der Seite der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft hatten, natürlich in den Fokus der Öffentlichkeit. Zur Zeit der Volksrepublik war ihr Kampf entweder von den offiziellen Medien propagandistisch überhöht (etwa in Filmen über die Schlacht bei Lenino) oder von der antikommunistischen Opposition weitgehend verschwiegen worden. Tatsächlich leistete die Erste Polnische Armee einen großen Beitrag beim Zurückdrängen der Wehrmacht und bezahlte dafür mit großen Opfern – beim Überschreiten des Bug, der Weichsel und der Oder, bei dem Versuch, den Aufständischen in Warschau zu helfen, sowie im Kampf um Berlin. Allein auf dem Friedhof von Siekierki am Ostufer der Oder nördlich von Küstrin (Kostrzyn) fanden 1 668 polnische Soldaten ihre letzte Ruhestätte.

Schon einige Monate vor dem 8. Mai begann in einigen polnischen Medien auch eine Debatte über die Rolle Winston Churchills während des Zweiten Weltkriegs. Ohne seinen Anteil an den für Polen so fatalen Beschlüssen der Konferenz von Jalta zu schmälern, plädierten einige Historiker und Publizisten dafür, Churchills Tätigkeit etwas differenzierter unter die Lupe zu nehmen. Vereinzelt tauchte sogar die Anregung auf, in Warschau ein Denkmal für Churchill zu errichten. In einer Ausgabe der Beilage Pomocnik Historyczny der Polityka schrieb der Historiker Jacek Tebinka: »Wenn wir Churchill in Polen mit einem Denkmal ehren sollten, dann würde vor allem seine Haltung während des Warschauer Aufstandes dafür sprechen.« Tebinka meinte damit, dass auf Initiative Churchills zumindest einige Flugzeuge der Alliierten Hilfsgüter für die Aufständischen über Warschau abgeworfen hatten.

Kresy und »Stunde null« in Warschau

Schließlich traten auch die früheren polnischen Ostgebiete wieder in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, also vor allem Städte wie Lemberg, damals Lwów, und Vilnius, damals Wilno, und Regionen wie Wolhynien/Wołyń, Polesien/Polesie und Galizien/Galicja, die 1945 an die Sowjetunion fielen und heute zu Litauen, Belarus und der Ukraine gehören. Im Vorwort zu einer Ausgabe des Pomocnik Historyczny zum Thema »Grenzland der Republik« (Kresy Rzeczpospolitej) schrieben Polityka-Chefredakteur Jerzy Baczyński und sein Redaktionskollege Leszek Będkowski: »Nun verlässt uns die letzte Generation derjenigen, die sich noch persönlich an die Welt des östlichen Grenzlandes der Republik erinnern; für die Übrigen ist das nur noch ein Bestandteil der nationalen Vorstellungskraft. Aber aus den gesammelten Erinnerungen erwachsen zahlreiche Ausstellungen, Publikationen, Filme, Internetseiten, Festivals, Feierlichkeiten, historische Rekonstruktionen, Denkmäler und Gedenktafeln. Die Narrative der Historiker, Publizisten und Literaten präsentieren sich in unterschiedlichen Tonlagen: von der Verklärung des Grenzlandes als idyllisches Arkadien bis hin zu seiner Darstellung als Terrain des polnischen Kolonialismus.«

Für manchen Warschauer war das Gedenken an den 8. Mai 1945 auch eine persönliche bzw. durch familiäre Erzählungen weitergetragene Erinnerung an die »Stunde null« in der Hauptstadt, die auch in verschiedenen Publikationen thematisiert wurde. So veröffentlichte die Warschauer Zeitschrift Stolica ein Sonderheft mit dem Titel »Rückkehr 1945 – Das Leben siegte« (Powroty 1945 – Życie zwyciężyło), das neben Texten auch eindrucksvolle Fotos enthält.

Nach den letzten Kämpfen an der Weichsel gegen die Wehrmacht, an denen auch polnische Soldaten großen Anteil hatten, zogen Einheiten der Roten Armee und der Ersten Polnischen Armee am 17. Januar 1945 ins Zentrum Warschaus ein. Polnische Soldaten begannen mit der Beseitigung der Trümmer. Nach und nach kehrten Überlebende zurück. Am schnellsten entwickelten sich Handel und Gastronomie. »Wer handelt, der lebt«, lautete die gängige Parole. Viele der in den ersten Nachkriegsjahren entstehenden kleinen Privatunternehmen wurden dann allerdings in der Zeit des Stalinismus ausgeschaltet.

Am 22. Januar 1945 wurde das »Büro für die Organisation des Wiederaufbaus Warschaus« (Biuro Organizacji Odbodowy Warszawy) eingerichtet, dessen Entscheidungen jedoch zum Teil auf Widerspruch stießen, weil im Rahmen des Konzepts der »sozialistischen Stadt« auch zahlreiche Gebäude insbesondere aus dem 19. Jahrhunderts abgerissen wurden. Kunstrichtungen wie der Jugendstil passten nicht in die ideologischen Vorstellungen der neuen kommunistischen Machthaber.

Das Museum des Zweiten Weltkriegs

Bei der Bewertung der Ereignisse rund um den 8. Mai dieses Jahres darf nicht vergessen werden, dass das gesellschaftliche Interesse für die großen, von führenden Politikern gestalteten Gedenkveranstaltungen eher mäßig ist. Viele Menschen spüren, dass neben der historischen Erinnerung immer auch politische Interessen bzw. politisches Kalkül mit im Spiel sind. Wie schon erwähnt, spielte bei der großen Veranstaltung in Danzig auch und gerade die politische Kritik an Putins Machtdemonstration am folgenden Tag in Moskau eine Rolle. Hinzu kam, dass zwei Tage nach dem Treffen auf der Westerplatte die erste Runde der polnischen Präsidentenwahl stattfand. Authentischer wirkten die Gedenkveranstaltungen, die in etlichen anderen Städten in Polen abgehalten wurden, unter anderem in Posen (Poznań), Breslau (Wrocław) oder auch Białystok.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es diesmal um Ereignisse ging, die 70 Jahre zurückliegen. Gerade für jüngere Menschen ist das damalige Geschehen reichlich abstrakt. Schon ihr Wissen über den politischen Umbruch im Jahr 1989 ist gering, geschweige denn das über die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981. Und selbst wenn sie etwas darüber wissen, ist es kein Gesprächsthema im Kontakt mit ihren Freunden und Bekannten.

Zudem, und das gilt für fast alle, die berufstätig sind, ist der durchgängige Stress am Arbeitsplatz eine schlechte Voraussetzung für historische Erinnerung und Gespräche über Geschichte. Die polnische Gesellschaft ist in diesen harten »kapitalistischen« Zeiten reichlich nervös. Jeder kämpft mit großer Anstrengung um das berufliche Vorwärtskommen oder gegen das Absinken in die Arbeitslosigkeit. Auch die notwendige Erholung am Abend oder an den Wochenenden dreht sich nicht gerade um Ereignisse, die bereits 70 Jahre zurückliegen.

Eine wichtige Initiative gegen das Nichtwissen bzw. Vergessen ist das geplante »Museum des Zweiten Weltkriegs« (Muzeum II Wojny Światowej), das im kommenden Jahr in Danzig eröffnet werden soll. Ein Teil der Exponate, die im Museum gezeigt werden sollen, wurde schon jetzt in einer Ausstellung im Europäischen Zentrum der Solidarität (Europejskie Centrum Solidarności) in Danzig dem interessierten Publikum vorgestellt. Die Ausstellung unter dem Titel »1945 – das Ende des Krieges in 45 Exponaten« (1945 – Koniec Wojny w 45 Eksponatach) war ein Element der Feierlichkeiten rund um den 8. Mai. Der Gründungsdirektor des Museums, der renommierte polnische Historiker Paweł Machcewicz, betonte in seiner Eröffnungsansprache: Mit der Gestaltung des Museums »bringen wir gewissermaßen unseren museumspädagogischen Standpunkt zum Ausdruck, indem wir das Hauptgewicht auf authentische Gegenstände legen, weil diese mit den Erfahrungen der Menschen in Verbindung stehen und daher besser in der Lage sind, das Wichtigste zu demonstrieren, als dies etwa Multimediapräsentationen können. Die Ausstellung zeigt die Widersprüchlichkeit des Jahres 1945 aus der polnischen Perspektive. Einerseits befreite uns die Rote Armee von der deutschen Besatzung, andererseits brachte sie uns die Unfreiheit der kommunistischen Diktatur und weiter Jahrzehnte eingeschränkter Souveränität.«

Thematische Schwerpunkte der Ausstellung waren insbesondere die deutschen Verbrechen, der Verlauf des Kriegsendes und das Schicksal der Deutschen sowie die Zerstörungen und das Wiedererwachen des gesellschaftlichen Leben, die neuen Grenzen und die damit verbundenen Umsiedlungen, außerdem der Widerstand gegen die neuen Machthaber in Polen und die damit verbundenen Repressionen. Unter den Exponaten, die in dem künftigen Museum zu sehen sein werden, befinden sich unter anderem Gegenstände aus den deutschen Konzentrationslagern, jüdische Grabsteine, eine Glocke des deutschen Flüchtlingsschiffs »Wilhelm Gustloff«, ein sowjetisches Geländefahrzeug, Uniformen polnischer, sowjetischer und deutscher Soldaten sowie auch der polnischen Untergrundkämpfer der Armia Krajowa, neben denen der Funktionäre des sowjetischen Geheimdienstes NKWD.

Polin

Ein zentraler Ort des Gedenkens und der Wissensvermittlung über die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist in Warschau auch das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Muzeum Historii Żydów Polskich), das am 28. November 2014 eröffnet worden ist. Es steht direkt neben dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos (Pomnik Bohaterów Getta w Warszawie). Den Gestaltern des Museums ging es darum, den Holocaust als einen sehr wichtigen, aber nicht den wichtigsten Teil der tausendjährigen Geschichte der Juden in Polen zu präsentierten. Gerade wenn man diese, lange Zeit von einem kreativen Miteinander der verschiedenen Volksgruppen in Polen geprägte Geschichte anhand der Exponate des Museums studiert, wirkt der Schrecken des Holocaust umso stärker. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Polen, das damals auch Teile des heutigen Litauen, Belarus, der Ukraine und der Republik Moldau umfasste, die wichtigste Heimstatt des Ostjudentums. Seit der Eröffnung verzeichnet das Museum, das auch den Namen »Polin«, die jiddische Bezeichnung für Polen, trägt, einen enormen Besucherandrang aus dem In- und Ausland.

Im Vorfeld des diesjährigen 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar kam es zu einer öffentlichen Auseinandersetzung, nachdem der polnische Außenminister Grzegorz Schetyna in einer unbedachten Äußerung festgestellt hatte, Auschwitz-Birkenau sei damals »von der Ukraine befreit worden, da die Soldaten der Roten Armee, die dort am 27.1.1945 eintrafen, größtenteils Ukrainer waren.« In einer Erklärung des russischen Außenministeriums war anschließend von »historischem Analphabetismus« die Rede. Tatsache ist, dass die Erste Ukrainische Front, die Auschwitz befreite, neben Russen auch Angehörige anderer Nationalitäten der Sowjetunion umfasste, insbesondere Ukrainer und Weißrussen.

Fazit

Anders als das militaristische Getöse in Moskau am 9. Mai fand das polnische Gedenken des Kriegsendes in den Tagen zuvor nur bedingt Aufmerksamkeit im Westen bzw. in Deutschland. Immerhin wurde Moskau durch die Abwesenheit der wichtigsten westlichen Politiker gestraft. Ebenso zeigte sich, dass es gerade in Deutschland noch Defizite gibt, was das Wissen über die historischen Tatsachen in Polen angeht, wie die fehlende Anerkennung der Leistung der polnischen Soldaten (Heimatarmee, Polnische Streitkräfte im Westen, Erste Polnische Armee) im Kampf gegen die Wehrmacht zeigt. In Polen selbst wurde einmal mehr klar, dass die Stärkung des historischen Bewusstseins der Bürger nicht in erster Linie von offiziellen politischen Veranstaltungen ausgeht, sondern von der mühsamen alltäglichen geschichtspädagogischen Kleinarbeit in Schulen und Universitäten, in den Medien und durch Buchpublikationen, in den Familien und in gesellschaftlichen Organisationen. Insofern sind Initiativen wie das Museum der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Danzig von großer Bedeutung.

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