Jarosław Kaczyński in der Sejmdebatte zur Regierungserklärung

Stenografische Abschrift der ersten Sitzung des Sejm der Republik Polen am 18. November 2015, vierter Beratungstag (Auszüge)
Warschau 2015

Abgeordneter Jarosław Kaczyński

Herr Marschall! Hohes Haus! Frau Ministerpräsidentin!

Mir scheint, dass man sagen kann, dass vor Polen heute zwei Hauptherausforderungen stehen. Die erste Herausforderung ist die Erneuerung und Konsolidierung der nationalen Gemeinschaft. Die zweite Herausforderung ist der zivilisatorische Sprung, den wir vollziehen müssen, um die aufzuholen, die permanent vor uns sind. […] Die polnische nationale Gemeinschaft muss vor allem eine Gemeinschaft von Bürgern sein. Das ist polnische Tradition. Aber eine Bürgergemeinschaft sind nicht nur Wahlen und nicht nur die damit verbundenen Prozeduren. Das ist auch der Dialog, das beständige Gespräch mit der Gesellschaft. Frau Ministerpräsidentin hat hier den Willen vorgestellt, man kann sagen sogar den Plan für dieser Art Gespräch, und ich denke, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass sie für ein solches Gespräch besonders prädestiniert ist.

Eine Gemeinschaft muss sich auf ein Gedächtnis stützen, auf das historische Gedächtnis, auf das Bewusstsein der Werte, die sie vereinen. Die Veränderungen, die hier [in der Regierungserklärung der Ministerpräsidentin, Anm. d Übers.] in der Bildungspolitik und in der Kulturpolitik vorgeschlagen wurden, antworten mit Sicherheit auf diese Notwendigkeit. Eine Gemeinschaft muss durch Solidarität konsolidiert werden, aber Solidarität gibt es nicht – das habe ich wiederholt von diesem Rednerpult aus gesagt – ohne Gerechtigkeit. (Beifall) Gerechtigkeit betrifft zwei Angelegenheiten: Die Verteilung der Güter und die Gleichheit vor dem Gesetz. Die Ankündigung der Reform des Justizwesens ist mit Sicherheit eine Antwort auf diese Notwendigkeit, denn heute ist es mit der Gleichheit vor dem Gesetz in Polen, sehr, aber wirklich sehr schlecht. […]

Schließlich lässt sich in dieser besonderen Situation, in der wir heute sind, in der Polen ist, noch eine Sache ansprechen. Diese kann eigentlich auch zu dieser Problematik gerechnet werden, auch wenn sie sehr speziell ist und man über sie auch im Zusammenhang mit der Außenpolitik sprechen kann. Es geht um unseren Schutz vor Diffamierungen, vor der Diffamierung der Polen, vor Antipolonismus, der heute die Rechtmäßigkeit der Existenz des polnischen Staates anzweifelt (Beifall) sowie auch das polnische Eigentum anzweifelt. Daran muss erinnert werden. Und an dieser Stelle möchte ich ein paar Worte sagen, gewissermaßen als Ergänzung. Diese Angelegenheit muss angegangen werden. Es kann nicht sein, dass der polnische Staat nicht auf das reagiert, gemeinsam mit gesellschaftlichen Organisationen, gemeinsam mit verschiedenen privaten Subjekten, was sich heutzutage auf globaler Ebene tatsächlich ereignet. Die Polen, die Nation, die als erste mit der Waffe in der Hand zum Kampf gegen Nazideutschland aufgestanden ist, wird heute im Grunde als Verbündeter Hitlers behandelt, wird als mitverantwortlich für die Verbrechen Nazideutschlands behandelt.

(Stimme aus dem Saal: Was?)

Wir haben es mit der Situation der Internalisierung der Verantwortung für den Holocaust mit besonderer Berücksichtigung der Polen zu tun. (Beifall) Wir müssen uns dem sehr entschlossen entgegen stellen.

Und wenn ich hier darüber rede, was die Regierung in dieser Angelegenheit und in anderen Angelegenheiten der Gemeinschaft tun kann, dann muss ich auch auf die Fragen eingehen, die ich schon zu Beginn erwähnt habe, Fragen, die, wie ich bereits gesagt habe, die Kompetenzen der Exekutiven überschreiten oder teilweise überschreiten. Die erste dieser Fragen ist die Frage der Wahrheit in unserem öffentlichen Leben, die Sache des Status von Fakten, des Status von Fakten in unserem öffentlichen Leben. Dieses Problem besteht. Dieses Problem besteht eigentlich seit 1989, denn natürlich verdient es die Zeit davor nicht einmal, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. Der heftige politische Kampf, der in Polen die ganze Zeit dauerte und leider immer noch dauert, war ein Faktor, der der Wahrheit schlecht diente. Es heißt, dass im Krieg die Wahrheit das erste Opfer ist. In Polen verzeichnete dieser Krieg ebenfalls dieses Opfer. Aber wir haben es hier mit einem größeren Phänomen zu tun. Heute ist die Frage der Fakten, der Wahrheit, ein Problem in vielen Ländern, man kann sagen, es ist ein zivilisatorisches Problem. Wir haben es mit einer wirkmächtigen philosophischen Strömung zu tun, die die Nicht-Existenz der Wahrheit rechtfertigt. Es gibt keine Wahrheit, nur Narrationen. Aber wenn es keine Wahrheit gibt, dann gibt es auch keine ehrliche Politik, es gibt keine Bürger, es gibt nur Manipulation. (Beifall) Und wir sind mit dieser Situation, die heutzutage herrscht, nicht einverstanden. Wir sehen ihren Ursprung. Auf der einen Seite ist es der Zustand der Medien. Ich betone: Die privaten Medien sind außerhalb der Reichweite der Exekutiven als auch in hohem Maße der Legislativen. […] Wenn man aber schaut, was im sogenannten Mainstream passiert, dann haben wir das Recht zu sagen, dass er heute so funktioniert, als wäre er eine Art Vorhang – ein Vorhang, auf dem ein Film für Kleinkinder gezeigt wird, aber die Realität nicht zu sehen ist. (Beifall) Dieser Vorhang muss heruntergerissen werden. Dieser Vorhang muss heruntergerissen werden, und heruntergerissen werden kann er nur auf eine Art – durch Veränderungen in den öffentlichen Medien.

(Abgeordnete Krystyna Pawłowicz: So ist es.)

Und diese Art Veränderungen werden eintreten. (Beifall) Wenn es um die öffentliche Darstellung der Wirklichkeit und der Fakten geht, gibt es auch andere Hindernisse. Das ist das Problem der überflüssigen Geheimnisse unterschiedlicher Art. Natürlich gibt es Angelegenheiten, die geheim sind, aber in Polen gibt es eindeutig zu viele Geheimnisse. Es gibt sowohl zivilrechtliche Vorschriften, die den Schutz der persönlichen Güter betreffen, als auch sogar solche Strafvorschriften, die immer noch aus dem früheren System aufrechterhalten werden, die das Aussprechen der Wahrheit enorm erschweren, insbesondere der Wahrheit über die Mächtigen – insbesondere über das Establishment im weiten Sinne. (Beifall) Auch das muss entschieden geändert werden. Das muss, sehr geehrte Damen und Herren, geändert werden. Und wir werden das in diesem Haus ändern, mehr noch, wir rechnen mit Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit, denn im Grunde liegt das im Interesse aller. (Beifall) Aber außer dem Zugang zur Wahrheit, diesem elementaren Bürgerrecht, gibt es auch das Recht auf Äußerung der Meinung, der eigenen Meinung. […] In Europa werden heute in vielen Ländern nicht mehr nur verschiedene Arten von Sanktionen verhängt, sondern der Zwang des Staates beschränkt auch einfach die Meinungsfreiheit und insbesondere die Ansichten, die mit dem Christentum verbunden sind. Das ist eine Tatsache. Daher möchte an das Hohe Haus appellieren, in dem es keine Kräfte der Post-PZPR noch all diese soziotechnischen Erfindungen mehr gibt, die hier einst funktionierten, (Beifall)

(Stimmen aus dem Saal: Bravo!)

dass wir uns gemeinsam, ich wiederhole, gemeinsam, angefangen von der Polnischen Bauernpartei [Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL] bis zu Recht und Gerechtigkeit [Prawo i Sprawiedliwość – PiS], daran erinnern, dass Polen in Europa einst eine Ausnahme war, was die Freiheiten betrifft. Und wir sollten weiterhin eine solche Ausnahme sein. (Beifall) Wir müssen diese Freiheiten verteidigen. Und wir müssen, Hohes Haus, in diesem Zusammenhang anerkennen, dass es in den verschiedenen Lebensbereichen so etwas wie eine Norm gibt. Die Abweichung von der Norm kann und muss man tolerieren, natürlich in bestimmten Grenzen, aber es gibt einen Unterschied zwischen Toleranz und Affirmation. Toleranz ja, Affirmation nein (Beifall) und Verbreitung nein. Nur so kann man Normalität wahren und Freiheit wahren. Wir müssen hier nicht fremde Muster vervielfältigen. Es ist eine Unwahrheit, eine tiefe Unwahrheit, dass wir, um uns zu entwickeln, um das zivilisatorische Niveau der westlichen Staaten zu erreichen, in diesem Bereich Muster übernehmen müssen. Das ist ein Märchen,

(Stimme aus dem Saal: So ist es!)

das ist ganz einfach ein Märchen. Das ist die Unwahrheit. (Beifall)

Es gibt eine weitere Frage der Gestaltung unseres öffentlichen Lebens, dessen, was auch die Wahrheit erschlägt, der Krieg, von dem ich bereits gesprochen habe. Beenden wir ihn und bringen wir es dahin, dass die Sprache, derer wir uns bedienen, eine Sprache der normalen Diskussion und der Argumente sei, dass es kein Geschrei gebe. Ich weiß, dass dies ein Appell an alle Fraktionen ist, auch an meine. Ich weiß das (Beifall), aber ich appelliere, dass das ein Ende hat, denn das wird uns allen dienen, das wird der Wahrheit im polnischen öffentlichen Leben dienen und die Wahrheit ist für uns sehr, wirklich sehr erforderlich.

Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt noch andere Probleme, die wir in diesem Haus lösen müssen. Es gibt das von Frau Ministerpräsidentin bereits genannte Problem des Lobbying. Das ist ein Problem für dieses Haus, ein Problem, das, fürchte ich, alle betrifft. Ich fürchte, alle. […] Sehr geehrte Damen und Herren! Es muss gelöst werden, indem entsprechende Prozeduren eingeführt werden, denn die, die zurzeit bestehen, sind hochgradig unzuverlässig, und es reicht manchmal, ein Komma zu ändern oder ein Wort […] und der ganze Sinn des Gesetzes oder eines anderen normativen Aktes – was den Sejm betrifft, geht es vor allem um Gesetze – kann sich ändern. Wir müssen hier wirklich weitreichende Änderungen einführen. Das ist notwendig. Notwendig ist auch, sehr geehrte Damen und Herren, eine Änderung der Wahlordnung, und zwar auf zwei Ebenen. (Beifall) Es geht um ganz grundsätzliche Fragen, das heißt die Wahlmethoden, Fragen der Ein- oder Mehr-Mandats-Kreise, etwas mehr Elastizität in dieser Angelegenheit. Aber es gibt auch technische Fragen. Sie wurden hier, sehr geehrte Damen und Herren, schon einmal gestellt, in diesem Haus. Wir wollten sehr viele Änderungen der Wahlordnung einführen, des Wahlkodex. Sie wurden abgelehnt. Wir hoffen, dass wir sie dieses Mal einvernehmlich, gemeinsam verabschieden. Sie sind in der Tat notwendig. Es darf nicht zu Situationen kommen, dass das Wahlergebnis Zweifel weckt, unabhängig davon, ob die Zweifel begründet oder unbegründet sind. Wir müssen hier Änderungen vornehmen, auch solche, die sich auf eine ganz grundsätzliche Tatsache beziehen. Wahlen können nicht diejenigen leiten, die an den Ergebnissen interessiert sind. (Beifall) […]

Und schließlich, Herr Marschall, Hohes Haus, geht es um die grundlegendste Frage, die hier vorgestellt werden muss. Vielleicht lasse ich mich von übertriebenem Optimismus leiten, aber ich stelle sie vor. Es ist die Angelegenheit zumindest einer Prüfung der Verfassung. (Beifall) Wir können dies machen, sehr geehrte Damen und Herren, allerdings gemeinsam. Aber die Änderung muss durchgeführt werden, zumindest muss erwogen werden, ob sie nicht in verschiedenen Punkten durchgeführt werden sollte. Vielleicht ist eine neue Verfassung notwendig. (Beifall) Diese ist schon fast 20 Jahre alt. […]

Wenn jemand nach der Berufung der Regierung ihre Zusammensetzung so verstanden hat, dass die Zeit der Toleranz für Korruption geendet hat, dann hat er richtig verstanden. (Beifall) Aber die Regierung muss auch, das ist vielleicht keine notwendige Bedingung, aber eine sehr förderliche, Objekt des polnischen Patriotismus werden, des polnischen, häufig heißt es modernen Patriotismus. Dann wird es sehr viel leichter sein. […] Natürlich ist Kritik notwendig, notwendig sind verschiedene Korrekturmaßnahmen, aber ich wiederhole es noch einmal, sehr geehrte Damen und Herren, dass wir niemals Zweifel hegten, wie Demokratie beschaffen sein sollte. […] Wir wussten und wissen weiterhin, wie das System arbeitet, in dem es eine Opposition gibt, in dem die Opposition die Macht übernehmen kann, in dem niemand einen Teil der Gesellschaft als irgendwelche Mohairwollmützen verunglimpft, indem er feststellt, dass diese zwar wählen gehen können, aber eigentlich nicht die politisch Verantwortlichen einsetzen können. Nein, sehr geehrte Damen und Herren, Demokratie bedeutet Gleichheit der Bürgerrechte, es ist das Recht der Opposition auf Kritik, sogar die Pflicht zur Kritik, und es ist auch ihr Recht, die Macht zu übernehmen. Wir haben dieses Recht genutzt. (Beifall) Und trotz dem, was gestern hier so nervös geredet wurde, reichen wir ein demokratisches Paket ein und führen es ein.

(Stimme aus dem Saal: Ja, ja, wir haben begonnen.)

Für Euch wird dieses Paket besonders wichtig sein, aber es wird auch für uns wichtig sein. Wir werden es einführen. Was die Angelegenheit betrifft, die hier zum Gegenstand sehr aufgeregter Reaktionen wurde, so sage ich dazu Folgendes. […] Der Grundsatz selbst, dass die Opposition existiert, kritisiert und bei den Wahlen Chancen hat, wird von uns nicht in Frage gestellt. Die Internalisierung dieses Prinzips ist eine Notwendigkeit der polnischen Politik. Internalisierung von allen, vor allem seitens der Bürgerplattform [Platforma Obywatelska – PO]. Ich gehe davon aus, dass die kommenden vier Jahre dahin führen, dass dieser Grundsatz von Euch, etwas anders ausgedrückt, verinnerlicht wird. Vielen Dank.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Quelle: <http://orka2.sejm.gov.pl/StenoInter8.nsf/0/ACC7A0E8310D1F55C1257F01004844EA/%24File/01_d_ksiazka.pdf> (abgerufen am 26.11.2015)

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Analyse

Von Kaczyńskis Gnaden. Die neue nationalkonservative Regierung

Von Reinhold Vetter
Ähnlich wie in den Jahren 2005–2007 erlebt Polen jetzt erneut einen dramatischen Umbruch. Wieder sind es die Nationalkonservativen der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die sich anschicken, Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft entscheidend umzugestalten. Das Tempo, das sie dabei vorlegen, verrät ihren Anspruch, möglichst schnell und allumfassend die Macht im Staat zu übernehmen. Intervention des Staates ist auch ihr wichtigstes Mittel, wenn es um die Modernisierung der Wirtschaft und den Ausbau des Sozialstaates geht. Die Sicherheit der Nation bedeutet ihnen mehr als die Integration Europas. (…)
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