Grunderwägungen
In die Ausgestaltung der deutsch-polnischen Partnerschaft wirken wie in andere wichtige Außenbeziehungen Deutschlands und Polens innenpolitische und innergesellschaftliche Grundstimmungen und Strömungen hinein, die von längerfristigen Dispositionen geprägt sind. In den zurückliegenden 25 Jahren konnte ein Grundkonsens in beiden Ländern über den Wert einer liberalen Demokratie und einer pragmatischen, integrationsorientierten, auf Interessenausgleich ausgerichteten Außenpolitik als gegeben angesehen werden. Werteorientierung und moderate Interessenpolitik galt es in dem zurückliegenden Vierteljahrhundert auszutarieren, immer auf das von einer Mehrheit in den politischen und gesellschaftlichen Eliten in beiden Ländern als höchster außenpolitischer Wert erachtete europäische Integrationsprojekt ausgerichtet. Dies schloss Dissens und teilweise erhebliche Wahrnehmungsunterschiede in Teilbereichen der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts-, Energie- und Klimapolitik und in anderen Politikfeldern nicht aus. Das heißt, die generell auf Partnerschaft ausgerichtete Politik erforderte keine prästabilisierte Harmonie, sondern ging im Gegenteil von starkem Moderationsbedarf aus – nicht unähnlich den (west)deutsch-französischen Beziehungen, die ja beständig, ob richtig oder falsch, als Blaupause herangezogen werden, wenn es um die deutsch-polnischen Beziehungen geht. Die westdeutsch-französischen Beziehungen sind kaum jemals interessenharmonisch verlaufen und brachten nur über ständige Kompromisssuche Fortschritte in den bilateralen Beziehungen wie in der Europapolitik hervor.
Dieses Beziehungsmuster funktioniert unter der Bedingung, dass nationale Interessen nicht von vornherein quasi naturgesetzlich als antagonistisch zu dem nationalen Interesse des Nachbarn definiert werden. Es war ein Glück für Deutsche und Polen – wie auch für Deutsche und Franzosen –, dass die jeweiligen außenpolitischen Prioritätensetzungen als teilidentisch bis kompatibel galten und Inkompatibles nicht als wesentliches Hindernis für die Fortentwicklung der zweiseitigen Interessen und Beziehungen definiert wurde.
Wenn von Antagonismus und Polarisierung geprägte innenpolitische Neujustierungen in einem Land getroffen werden, hat dies Auswirkungen auf seine Außenbeziehungen, denn politische und ideologische innenpolitische Argumentationsmuster, Freund-Feind-Kategorien ordnen ebenso die Welt jenseits der Grenzen Polens. Im konkreten Fall gilt dies nach der Machtübernahme durch die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) in Polen und es gilt nicht zuletzt für die deutsch-polnischen Beziehungen.
Dies vorausgeschickt, muss die Entwicklung der deutsch-polnischen Nachbarschaft in den zurückliegenden 25 Jahren als ein Glücksfall bezeichnet werden, da erstmals in der neuzeitlichen Geschichte beide Gesellschaften und Staaten, Deutschland und Polen, von gemeinsamen Grundwerten ausgehend, nationale Interessenpolitik in einem durch die Europäischen Gemeinschaften/EU und die transatlantische Ausrichtung gesetzten Rahmen moderiert haben. Dabei gab es auch im langandauernden honeymoon der Beziehungen zwischen Berlin und Warschau ein Auf und Ab, ernsthafte Interessendivergenzen und Streit. Es wird auch unter einer PiS-Regierung keine vollständige Abkehr Polens von Deutschland geben. Wenige Monate der Verschattung in den bilateralen Beziehungen lassen freilich die Entwicklung der Jahre 1991 bis 2015 umso leuchtender erscheinen. Und das nicht ohne Grund.
Es war ein einmaliger Moment der Geschichte, dass Deutschen und Polen, begünstigt von der internationalen Umwelt, notwendige Entscheidungen treffen konnten, um Hauptauslöser und Nutznießer des demokratischen Umbruchs in Europa zu werden.
Das Scharnier an der alten Grenze zwischen dem integrierten Westeuropa und dem souverän gewordenen, aber nichtintegrierten Ostmitteleuropa bildeten die bis an die Oder und Neiße ausgeweitete Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen. Nur durch Interessenkongruenz zumindest in den prinzipiellen Fragen europäischer Integration und durch Öffnung und Durchlässigkeit der Grenzen konnte der europäische Integrationsraum erweitert werden. Ohne deutsch-polnischen Ausgleich hätte in puncto EU-Osterweiterung nichts, aber auch gar nichts geschehen können.
Bei der Beschreibung der politischen Exklusivität im Vergleich zu anderen Außenbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland wurden die deutsch-polnischen Beziehungen in den vergangenen 25 Jahren gerne auf eine Stufe mit den deutsch-französischen Beziehungen und der europapolitischen Funktion der westdeutsch-französischen Aussöhnung nach 1950 gestellt. Und tatsächlich ist die Vergleichbarkeit in einem Punkt zutreffend. So wie ohne den deutsch-französischen Ausgleich die westeuropäische Integrationspolitik nicht hätte erfolgreich sein können, so wäre ohne die Annäherung zwischen Polen und Deutschen die Westintegration Polens und der anderen ostmitteleuropäischen Demokratien von Anfang an gescheitert. Die sogenannte »Rückkehr nach Europa« konnte nur über und mit Deutschland als Hauptverbündetem erfolgen. Das mag für nicht wenige Polen bitter gewesen sein und ist es für diejenigen, die weiterhin an die ungeteilte nationale Souveränität im Sinne des 19. Jahrhunderts glauben, immer noch, es war aber aufgrund des politischen Gewichts Deutschlands nicht zu ändern. Vor sechs Jahrzehnten hatte Frankreich den Türöffner für die junge Bonner Republik gespielt. In anderen Politikbereichen muss der Vergleich zwischen deutsch-französischen und deutsch-polnischen Beziehungen ebenfalls erlaubt sein. Freilich käme man zu dem Ergebnis, dass wegen der jeweiligen Ausgangsbedingungen für den Aufbau von politischen und gesellschaftlichen Beziehungen die deutsch-polnischen von den deutsch-französischen kaum unterschiedlicher (gewesen) sein dürften. Die so oft wie ein Mantra beschworene Asymmetrie im deutsch-polnischen Verhältnis sollte allerdings nur sehr zurückhaltend als Argument für die Fähigkeit zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele ins Feld geführt werden. Schließlich waren die Beziehungen zwischen Paris und Bonn bis zum Ende der alten Bundesrepublik nicht nur politisch, sondern sogar völkerrechtlich so asymmetrisch (Viermächteverantwortung hier und Status minderer Souveränität da), wie man es sich nur vorstellen konnte. Und dennoch hatte die alte Bundesrepublik mehr als einen Nutzen davon. Warum sollte dieser Vergleich nicht auch im deutsch-polnischen Verhältnis zu gewissen Schlussfolgerungen führen?
Der Vertrag als Ansage
Weitgehend vergessen ist heute eine Geste, zu der sich Polen und Deutsche noch vor der Unterzeichnung des Grenzvertrags (14. November 1990) entschieden, als sich in einer spektakulären gegenseitigen Zuwendung mitten im polnischen Präsidentschaftswahlkampf Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl kurzfristig für den 8. November 1990 zu einem Treffen auf beiden Seiten der Oder in Frankfurt und in Słubice verabredeten. In dessen Verlauf stellte die deutsche Seite die Visafreiheit für polnische Bürger in Aussicht. Das war ein Schritt nach vorn, der in seiner politischen (Stichwort »Rückkehr nach Europa«) und psychologischen Bedeutung gar nicht überbewertet werden konnte. Am 8. April 1991 war es soweit, das Tor nach Deutschland war ohne Visum geöffnet.
Der zwei Monate später unterzeichnete Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 bestimmt den politischen Rahmen für die Zusammenarbeit bis heute, auch wenn er nun in einigen Punkten übererfüllt, in anderen noch nicht erfüllt ist. Die bisher letzte Möglichkeit, ihn nach zehn Jahren im vorgesehenen Fünf-Jahresturnus ein Jahr vor Ablauf zu kündigen, ist zuletzt im Juni 2015 verstrichen. Der Vertrag enthält 38 Artikel und ist damit der umfangreichste bilaterale Freundschaftsvertrag, den die Bundesrepublik Deutschland jemals abgeschlossen hat. Für die deutsche Seite stellten 1991 die Kapitel, die von den Minderheitenrechten für die Deutschen in Polen sprachen (Artikel 20–22), und für die polnische Seite die deutsche Selbstverpflichtung, Polen den Weg in die europäische Integration zu ebnen (Artikel 8), die wichtigsten Bestimmungen dar, die beide Regierungen für eine möglichst breite politische parlamentarische Unterstützung benötigten. Dabei ist heute nur noch wenig bekannt, dass der Vertrag im Bundestag mit überwältigender Mehrheit verabschiedet wurde und im Sejm (460 Sitze) bei Abwesenheit von fast 200 Abgeordneten nur von 182 Parlamentariern die Zustimmung erhielt.
Ungeachtet dieses irritierenden Schönheitsfehlers, von dem sich nicht sagen ließ, ob er vorübergehend war oder eine negative Prophetie enthielt, entwickelte sich das deutsch-polnische Verhältnis in den 1990er Jahren vielfältig und intensiv. Auf den Partnerschaftsvertrag folgte eine größere Anzahl von bilateralen Abkommen, die von der Verbreiterung und Vertiefung der politischen und gesellschaftlichen Beziehungen Zeugnis ablegten, aber auch von dem großen Nachholbedarf bei der Schaffung einer stabilen Infrastruktur der Nachbarschaftsbeziehungen.
Die trilaterale Kooperation (»Weimarer Dreieck«) zwischen Deutschland, Frankreich und Polen wurde ebenfalls 1991 ins Leben gerufen und leistete gerade in den ersten Jahren ihrer Existenz einen wichtigen Beitrag zur gegenseitigen Vertrauensbildung der Schlüsselstaaten für den Ausbau des erweiterten europäischen Integrationsraums. Später hat sich die Trilaterale aber ungeachtet immer wieder erfolgter Belebungsversuche nicht mehr zu einem zwar »nur« informellen, aber gerade aus diesem Grunde für vorwärtsweisende Ideen im Dienste des »Ganzen«, nämlich einer zukunftsfähigen EU, prädestinierten Akteur sui generis entwickeln können. Dazu wäre mehr Aktivität notwendig gewesen, als bei den Nachfolgern der Gründerväter Genscher, Dumas und Skubiszewski feststellbar war. Eine bemerkenswerte und wirkungsvolle Ausnahme war der Kiew-Besuch der Außenminister Steinmeier, Sikorski und Fabius auf dem Höhepunkt der gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Maidan im Februar 2014.
Symbolische Gesten als Kitt
Von großem politischem Fingerspitzengefühl zeugten in den vergangenen 25 Jahren symbolische Gesten deutscher und polnischer Politiker. Politische Symbolik sieht sich seitdem immer wieder publizistischer Mäkelei und harschem politikwissenschaftlichem Urteil ausgesetzt. Die Gesten seien leer, ihnen folgten keine konkreten Schritte, die dem Substanz verleihen würden, was in der Geste symbolisiert werden sollte. Die Symbolik verdecke bloß die große Asymmetrie des politischen und ökonomischen Gewichts der beiden Nachbarn und vor allem den Egoismus des Stärkeren. Dem ist entgegenzuhalten, dass symbolische Gesten in mehreren Fällen nur eine visuelle Verdichtung dessen waren, was zur jeweiligen Zeit tatsächlich in politische Aktion umgesetzt wurde, zumindest waren sie medienwirksame Instrumente der gegenseitigen Vertrauensbildung in beide Gesellschaften hinein.
Bundespräsident von Weizsäcker stattete seinen Abschiedsbesuch am Ende seiner zehnjährigen Amtszeit im Juni 1994 bei seinem polnischen Amtskollegen ab. Präsident Wałęsa lud den neuen Bundespräsidenten Herzog zu der Gedenkfeier aus Anlass des 50. Jahrestags des Beginns des Warschauer Aufstands am 1. August 1994 ein. Es kam zu bewegenden Szenen der Versöhnung zwischen Veteranen der Heimatarmee und dem deutschen Gast. Eine weitere Geste war die Einladung von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth an den polnischen Außenminister Bartoszewski, als einziger ausländischer Gast auf der Veranstaltung des Deutschen Bundestags zum 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 28. April 1995 zu sprechen. Eine der ersten Auslandsreisen führte Bundespräsident Rau gemeinsam mit Präsident Kwaśniewski am 1. September 1999 auf die Westerplatte bei Danzig. Am selben Ort sprach Bundespräsident Gauck am 1. September 2014 als Gast von Präsident Komorowski anlässlich des 75. Jahrestags des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs. In all diesen Fällen ging es um eine Ehrerbietung, die symbolisches Kapital anhäufte, das sich im deutsch-polnischen Alltag und im übertragenen Sinne für die Akteure auszahlte.
Leere nach gelungener NATO- und EU-Integration
Es war nur scheinbar paradox, dass sich mit dem Erfolg der »deutsch-polnischen Interessengemeinschaft in Europa« (so bereits im Februar 1990 Außenminister Skubiszewski), verstanden als Deutschlands Fürsprecherrolle für Polen auf dem Weg in die NATO und in die EU, zugleich ihre ursprüngliche Aufgabe erschöpft hatte. Die in den 1990er Jahren unvermeidlich von Ungleichheit geprägte Partnerschaft mit Deutschland als Anwalt des Klienten Polen war plötzlich obsolet. Es herrschte Ideenlosigkeit, es gab keine gemeinsamen strategischen Ziele einer bilateralen Interessengemeinschaft nach dem NATO- und EU-Beitritt Polens. Um die Jahrtausendwende kam es zu einem erneuten Paradigmenwechsel. Nicht so radikal wie der von 1989/90, war er gekennzeichnet durch das Ende der paternalistisch-klientelistischen Beziehung. Insofern entstand neue, unbefriedigende Gewissheit über die Unbekanntheit des Geländes.
Zudem ging nach dem allmählichen Abtreten der Generationen, die den Zweiten Weltkrieg bewusst miterlebt hatten, in beiden Ländern das in den vorangegangenen Jahrzehnten infolge gegenseitiger Aufmerksamkeit, Selbstverpflichtung, Empathie und Vernetzung Erreichte teilweise wieder verloren. Der politische Generationenwechsel, die Gnade der späten Geburt der deutschen und polnischen Nachkriegsgenerationen musste nicht automatisch ebenso viel Sympathie, Nähe und gegenseitiges Interesse zur Folge haben wie der Idealismus und die visionäre Kraft der Politikergeneration, die in den 1990er Jahren die politische Bühne Deutschlands und Polens verlassen hatte – allzu oft schien eher das Gegenteil der Fall zu sein. Der Verzicht auf die Definition von strategischen Zielen sollte gerade bei der Pflege der jungen deutsch-polnischen Verbindung nachteilige Folgen zeitigen. Realpolitik ohne Visionen war Gift für die neue Nachbarschaft. Zudem war die polnische Freude über den EU-Beitritt am 1. Mai 2004 gerade durch Deutschland gedämpft worden, das gemeinsam mit Österreich durchgesetzt hatte, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Neumitglieder um sieben Jahre bis 2011 hinauszögern zu dürfen.
So ließ sich ein Einschnitt in den deutsch-polnischen politischen Beziehungen nicht erst mit dem Regierungsantritt der PiS im Herbst 2005 datieren. Schon 2004 forderte Kai-Olaf Lang »Pragmatische Kooperation statt strategischer Partnerschaft« (SWP-Aktuell 48, Oktober 2004).
Woran wir uns rieben (und weiter reiben)
Ganz besonders beschäftigten deutsche und polnische Politiker und die Öffentlichkeit in beiden Ländern in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends vier Themenkomplexe. Sie signalisierten eher eine »Konfliktgemeinschaft« als eine »Interessengemeinschaft«. Deren Wahrnehmung und Nutzung zur eigenen Profilschärfung auf Kosten des Nachbarn und Partners setzten Maßstäbe für die Einschätzung des seinerzeit aktuellen Standes und der Perspektiven der politischen Beziehungen hinsichtlich des Irak-Konflikts, der europäischen Verfassungsdebatte, der Debatte um ein »Zentrum gegen Vertreibungen« und des Nord Stream-Projekts.
Der Irak-Konflikt
Die deutsche und die polnische Regierung nahmen zur Irak-Krise und dem darauffolgenden Krieg der von den USA geführten »Koalition der Willigen« unterschiedliche Haltungen ein. Die Bundesregierung hatte bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine ablehnende Position gegenüber einem Präventivkrieg vertreten, während die polnische Regierung diesen zunächst politisch, dann auch mit einem bescheidenen militärischen Beitrag, d. h. der Entsendung einer 200 Mann umfassenden Elitetruppe, unterstützte. Die offizielle Regierungslinie in beiden Ländern wurde von den Medien und den politischen Eliten weitgehend mitgetragen, während die Mehrheit der Bevölkerung in beiden Ländern gegen den Krieg der Koalition war. Die Ablehnung war allerdings in Deutschland weitaus größer als in Polen.
Die betont transatlantische und proamerikanische Haltung der polnischen Regierung war auch Ausdruck eines Misstrauens gegenüber der deutschen und französischen Europa- und USA-Politik, insbesondere gegenüber dem zeitweiligen Schulterschluss von Berlin und Paris mit den Sicherheitsratsmitgliedern Russland und China bei der Ablehnung der Intervention im Weltsicherheitsrat. Die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen heraus das Verhalten des jeweiligen anderen Landes kommentiert wurde, trugen zu einer zeitweisen gegenseitigen Entfremdung bei.
Die Verfassungsdebatte
Wenn der Irak-Konflikt und seine Nachbereitung die große Bewährungsprobe für das deutsch-polnische Verhältnis in Bezug auf die transatlantischen Beziehungen und auf Fragen globaler Sicherheit darstellte, so war die mit dem 1. Mai 2004 symbolisierte neue Ära europäischer Integrationspolitik die zweite große Bewährungsprobe für die deutsch-polnische Partnerschaft.
Die Unterschiede in entscheidenden politischen Zukunftsfragen der Europäischen Union wurden in der Mitte der Nullerjahre unübersehbar. Die mehrjährige Diskussion über eine europäische Verfassung – nachdem sich die im Vertrag von Nizza festgelegten Entscheidungsprozeduren als untauglich für eine vernünftige Steuerung einer auf 25 und perspektivisch auf über 30 Mitglieder anwachsenden Union erwiesen hatten – machte auch eindringlich klar, wie unterschiedlich Berlin und Warschau eigene Interessen definierten bzw. Camouflage betrieben und die Interessen des Nachbarn perzipierten. Der Verfassungskonvent wurde in Warschau parteiübergreifend allein als Kampf um eine rein national definierte Interessenabsicherung in einem Konzert von Nationalstaaten unter dem Dach der EU verstanden. Die polnische Regierung unter der Führung der postkommunistischen Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) wollte ebenso wenig wie die seinerzeitigen rechten Oppositionsparteien und späteren Regierungsparteien PiS bzw. Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) verstehen, dass es im Konvent vor allem darum ging, das nationale Interesse unabhängig von dem eigenen Gewicht durch gegenseitiges Überzeugen, Argumentieren und die Schaffung eines Verfassungskonsenses wahrzunehmen.
Der polnische Unterlegenheitskomplex ist insbesondere auf Deutschland fixiert – für die erste Phase der Verfassungsdebatte ist hier die Rede von der linken SLD-Regierung (2001–2005), noch nicht von der PiS-Koalitionsregierung (2005–2007) – und wurde von der Bundesregierung unbeabsichtigt noch verstärkt, die unter Hinweis auf die eigene, primär am Fortschritt der europäischen Integration orientierte Haltung auf eine demonstrative Einbindung Polens (anders als auf dem Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002) verzichtete. Deutschland fiel diese Haltung leicht, berücksichtigte das Konventsergebnis doch zahlreiche deutsche Vorstellungen, während Warschau es vor allem als Verzicht auf die kurzzeitige Aufwertung bzw. Privilegierung Polens durch den Vertrag von Nizza auffasste. Die polnische Haltung zur Stimmengewichtung in der EU der 25 war Ausdruck einer in der polnischen politischen Elite weitgehend ungebrochenen fixen Idee von den Attributen des souveränen Nationalstaats in der Ausprägung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einer unveränderlichen von der innerstaatlichen und gesellschaftlichen Komplexität losgelösten mythischen Entität mit Ausschließlichkeitsanspruch. Diese Wahrnehmung der Außenwelt wurde fast spiegelbildlich zu diesem Selbstbild durch die Angst vor einer Renationalisierung der Außenpolitiken der alten EU-Staaten, nicht zuletzt Deutschlands, verstärkt.
Die deutsch-polnischen Beziehungen waren mit dem Zeitpunkt des Beitritts Polens zum »Klub« in eine neue Phase eingetreten, doch das Drehbuch war noch nicht gefunden. Spätestens jetzt wurde offenbar, dass Deutschland, der neue europäische Hegemon wider Willen, sich wie Polen in einer instabilen Übergangsphase befand, in der beide Länder mit ihrer jeweiligen Rolle als europäische und internationale Akteure experimentierten, ohne ein neues Selbstverständnis austariert zu haben.
Das »Sichtbare Zeichen« (Zentrum gegen Vertreibungen)
In der Auseinandersetzung um das ursprünglich von der BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach in die Diskussion gebrachte »Zentrum gegen Vertreibungen« wurden die Erfahrungen und Chancen der deutsch-polnischen Annäherung nicht genutzt. Es kam stattdessen zu einem Rückfall in Denkmuster und Stereotype, die in beiden Ländern als überwunden gegolten hatten. In Polen wuchs bei manchen die Befürchtung, die Deutschen strebten ein neues Geschichtsbild an, in dem sie sich vor allem als ein Volk der Opfer darstellten, und bereiteten damit auch Ansprüche auf Entschädigung für verlorenes Eigentum in den früheren deutschen Ostgebieten vor. In Deutschland entstand der Eindruck, in Polen wolle man sich nicht mit dem schmerzlichen Komplex der Vertreibungen beschäftigen und darüber hinaus den Deutschen verbieten, ihrer Opfer zu gedenken.
Schließlich einigten sich die neuen Koalitionspartner CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag im Herbst 2005 auf die Schaffung eines »Sichtbaren Zeichens«, das u. a. in Form einer Ausstellung der Vertreibungen gedenken sollte. Anfänglich begegneten die polnische Politik parteiübergreifend und die polnische Öffentlichkeit diesem Projekt mit großem Misstrauen. Nach dem Regierungswechsel in Polen im November 2007 kam es aber zu einer Neubewertung.
Das Thema ist seitdem aus den Schlagzeilen gefallen. Zwar findet es Aufmerksamkeit, wenn das ungeliebte Kind nunmehr unter dem Namen »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« aufgrund von weiterhin strittiger Konzeption der geplanten Ausstellung, Personalquerelen und Kompetenzabgrenzungen zwischen den Gremien dafür sorgt, dass polnische Mitglieder das Wissenschaftliche Beratergremium verlassen, doch zu einem neuen deutsch-polnischen Disput über Konzeption und Inhalte ist es bisher nicht wieder gekommen. Wenn es um geschichtspolitische Debatten oder Missverständnisse ging, war es zuletzt der Krach um eine kurze Sequenz in der auch international erfolgreichen ZDF-Produktion »Unsere Mütter – unsere Väter«, in der der Eindruck entstehen konnte, dass die Heimatarmee, d. h. Teile der polnischen bürgerlichen Eliten, durchgängig antisemitisch eingestellt gewesen sei. Das von polnischen konservativen und rechten Kreisen geschürte Misstrauen, die Deutschen versuchten auf Kosten der Polen die Geschichte zu ihren Gunsten umzuschreiben, schien sich einmal mehr zu bestätigen (vgl. auch die demnächst erscheinende Ausgabe der Polen-Analysen mit dem Beitrag von Krzysztof Ruchniewicz).
Nord Stream
Das von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin forcierte Projekt einer Erdgasleitung (Nord Stream) durch die Ostsee erhitzte seit der zweiten Hälfte des Jahres 2005 die Gemüter in Polen. Es wurde dort nicht nur als Verletzung polnischer wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Interessen, sondern auch als Verstoß gegen eine gemeinsame EU-Energiepolitik verstanden (die jedoch noch gar nicht vorhanden war). Die Gründe für die Haltung Polens gegenüber dem deutsch-russischen Projekt waren und sind weniger wirtschaftlicher als geopolitischer Natur. Auch nach dem Regierungswechsel in Berlin 2005 und dem Einzug des neuen Politikstils der demonstrativen Einbindung der mittleren und kleineren europäischen Nachbarn waren allerdings die grundsätzlichen Vorbehalte von polnischer Seite nicht gegenstandslos geworden und werden bis heute wiederholt, weil es jetzt schon um eine Erweiterung, das Nord Stream II-Projekt geht. Die Heftigkeit des polnisch-deutschen Disputs in dieser Sache machte deutlich, dass die Frage der Energieversorgungssicherheit für die EU-Staaten und der Diversifizierung der Energieträger und der Lieferländer, die fast alle – mit Ausnahme Norwegens und einiger weniger weiterer Länder – in Risikozonen liegen bzw. in ihrer politischen Berechenbarkeit von Russland bis zum Nahen Osten sehr zweifelhaft sind, auf der Tagesordnung der Europäischen Union ganz oben bleiben wird. Deutschland und Polen nehmen hier aus unterschiedlichen Ausgangspositionen heraus weiterhin grundsätzlich unterschiedliche Positionen ein, auch weil Polen es an Flexibilität und geschmeidiger Interessenwahrnehmung hat fehlen lassen und sich nicht seinerseits aktiv um eine Beteiligung an dem Projekt bemühte.
Die schlechte Presse der Regierung Schröder/Fischer in Polen ließ unberücksichtigt, dass die Bilanz von Schröders Polenpolitik für Polen in manchen Bereichen positiv war. Berlin agierte konsequent als Anwalt polnischer EU- und NATO-Ambitionen. Dank Schröders Intervention beim französischen Präsidenten Chirac hatte Polen finanziell günstige Beitrittsbedingungen und eine herausgehobene Stellung im Abstimmungsmodus des Nizza-Vertrags erreicht. Zudem war es die Regierung Schröder/Fischer, die das jahrzehntelang verschleppte Problem einer symbolischen Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter anpackte und zwischen deutschen Unternehmen und Opferverbänden erfolgreich vermittelte.
Kompliziert wurde das deutsch-polnische Verhältnis in der ersten Hälfte des Jahrzehnts aber auch durch die Außenpolitik der polnischen Regierung unter Ministerpräsident Miller (2001–2004), gegen dessen Opportunismus und Unzuverlässigkeit auch der Deutschland freundlich gesinnte und international angesehene Präsident Kwaśniewski (1995–2005) machtlos war. Die innenpolitischen Misserfolge der postkommunistischen Sozialdemokraten führten zur Vernachlässigung der Außenpolitik und der Beziehungen zu Deutschland, weshalb es 2004 vor dem Wechsel zu dem Übergangsministerpräsidenten Belka und dem erfahrenen und ausgleichenden Außenminister Rotfeld zu einer Anpassung an die patriotische und deutschlandskeptische Rhetorik der Rechtsparteien im Parlament kam.
Kampf der Kulturen 2005–2007
Der Teil des »Solidarność«-Lagers, der sich seit 1989 als Verlierer in der politischen Machtverteilung gesehen hatte, war 2005 in der Offensive erfolgreich. Bei dem inneren Kulturkampf in Polen ging es nicht zuletzt um den Stellenwert der Geschichte und der Geschichtspolitik sowohl für die Innenpolitik als auch für die Außenpolitik insbesondere gegenüber Deutschland und Russland.
Aus Protest gegen die Koalition der PiS von Ministerpräsident Kaczyński mit rechts- und linkspopulistischen Parteien verließ Außenminister Meller die Regierung. Damit verkomplizierte sich die außenpolitische Lage Polens; besonders in der Europapolitik und in den deutsch-polnischen Beziehungen war eine deutliche Verschlechterung der Position Polens bemerkbar. Bald stellte sich heraus, dass die PiS über kein alternatives deutschland- und europapolitisches Programm verfügte.
Das außenpolitische Debüt der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem EU-Gipfel im Dezember 2005 konnte dagegen als gelungen gelten. Der Verzicht Deutschlands auf ca. 100 Mio. Euro aus dem EU-Regionalfonds zugunsten Polens war eine positive Geste an den östlichen Nachbarn.
Der Umgang mit der Ungleichzeitigkeit der innergesellschaftlichen und der außenpolitischen Diskurse in Deutschland und in Polen erwies sich als schwierige und frustrierende Übung für die politischen Akteure in Berlin und Warschau, wobei die Frustration auf der deutschen Seite ihren Höhepunkt in den Monaten der deutschen EU-Präsidentschaft von Januar bis Juni 2007 erfuhr, als es um die Aushandlung eines Lissaboner Vertragswerks ging, das die Zustimmung einer als zunehmend unberechenbar geltenden Warschauer Regierung erreichen musste, um nicht als Ganzes zu scheitern. Dass die Kaczyński-Zwillinge dabei alte antideutsche Reflexe aufleben ließen und das Feindbild eines unveränderlich antipolnisch gesinnten deutschen Großmachtstrebens pflegten, trieb die Freunde Polens in Deutschland an den Rand der Verzweiflung, führte dies doch umgekehrt dazu, dass sich das allmählich positiver entwickelnde Polenbild in Deutschland wieder eintrübte.
Suche nach »erwachsener Partnerschaft« nach 2007
Nach dem Regierungswechsel in Polen im Spätherbst 2007 war der Handlungsbedarf infolge der Stagnationsjahre in den bilateralen Beziehungen groß und Vorschläge zur Wiederbelebung der »deutsch-polnischen Interessengemeinschaft in Europa« gab es zuhauf. Zu den prioritären Themen einer deutsch-polnischen Agenda für die Politik der nächsten Jahre gehörte zweifellos eine gemeinsame Russland- und Nachbarschaftspolitik. Gemeinsame deutsch-polnische Beiträge zur Formulierung einer EU-Ostpolitik sollten eine stabilisierende Funktion nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für die gesamte europäische Entwicklung haben. Deutschland und Polen wollten bei allen Interessenunterschieden und asymmetrischen Potentialen zur Fortentwicklung der EU-Russland-Beziehungen beitragen und ein Muster für europäische Solidarität und eine rationale gemeinsame Russlandpolitik abgeben.
Das Gleiche traf auf die »Östliche Partnerschaft« mit der Ukraine, Moldawien und Georgien sowie auf die Beziehungen zum diktatorisch regierten Belarus zu. Gerade in der Belarus-Politik zeigte sich vor und nach der belarussischen Präsidentenwahlfarce vom 19. Dezember 2010, wozu deutsch-polnische Gemeinsamkeit fähig war. Der Schulterschluss zwischen Berlin und Warschau, demonstriert durch den gemeinsamen Besuch der Außenminister Westerwelle und Sikorski bei Staatspräsident Lukaschenka, zeigte insofern Wirkung, als die belarussische Führung im Januar 2011 öffentlich den Vorwurf äußerte, dass deutsche und polnische Geheimdienste gemeinsam auf einen Machtwechsel in Minsk hingearbeitet hätten. Allerdings konnte dieser absurde Vorwurf nicht über das Scheitern der bisherigen von Deutschland und Polen und von der EU versuchten Strategien gegenüber dem Lukaschenka-Regime hinwegtäuschen.
2011 jährte sich die Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrags zum zwanzigsten Mal und gab den Anlass zu einer Gemeinsamen Erklärung der Regierungen vom 21. Juni und das mehr als 90 Punkte umfassende »Programm der Zusammenarbeit«. Die ambitiöse Agenda beschrieb in elf Kapiteln vor allem ein bilaterales Programm der weiteren Verdichtung und Verstetigung der bilateralen Beziehungen (1. Politischer Dialog, 2. Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit, 3. Verkehr und Infrastruktur, 4. Öffentliche Sicherheit, 5. Zivilgesellschaft und Soziales, 6. Kultur, 7. Bildung, Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, 8. Wirtschaft und Energie, 9. Umweltschutz, 10. Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, 11. Sicherheit, Verteidigung und humanitäre Hilfe). Der Schwung der Veranstaltungen zum Jahrestag der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrags war Ausdruck eines neuen Fremd- und Selbstbildes auf beiden Seiten der Oder.
Die bilaterale Agenda der deutsch-polnischen Beziehungen, die anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags im Juni 2011 erstellt wurde, gab eine roadmap vor, die überzeugend zum Ausdruck brachte, dass es in den deutsch-polnischen Beziehungen vieles zu erledigen gab. Nicht alles Unerledigte im bilateralen Bereich konnte an die EU abgegeben werden. Im Gegenteil sollte das bilaterale Programm von der Basis her den Effekt haben, zur Implementierung des europäischen Gedankens und der institutionellen Infrastruktur der Union beizutragen.
Polen akzentuierte auf diese Weise, dass es Deutschland als seinen wichtigsten politischen Partner in der Europäischen Union sah, mit dem es in vielerlei Hinsicht seine europapolitischen Ambitionen zu verwirklichen suchte. (Im fundamentalen Unterschied dazu steht die politische Philosophie der PiS-Regierung seit Herbst 2015, die Deutschland nur noch als den wichtigsten wirtschaftlichen Partner bezeichnet.) Dahinter stand eine von Deutschland als strategisch wahrgenommene Politik Warschaus. Polen gewann die Chance, seine eigene Position bedeutend zu stärken, wenn es der östliche Hauptpartner Deutschlands war. Deutschland öffnete ebenfalls ein neues Kapitel in seiner Geschichte, indem es Polen und Ostmitteleuropa als Teil des europäischen Stabilitätskerns betrachtete. Die von Deutschland unterstützte Wahl von Ministerpräsident Tusk zum EU-Ratspräsidenten unterstrich, dass Berlin dem Nachbarn das Potential zu einer Gestaltungsmacht in der EU zusprach. Der Optimismus und die Zuversicht, die aus den im Juni 2011 veröffentlichten Dokumenten sprachen, standen im Kontrast zu den sich verschlechternden Rahmenbedingungen der europäischen Politik, der Finanz- und Staatsschuldenkrise und dem Europa umgebenden Krisenbogen von Nordafrika bis zum Nahen Osten, in die Deutschland wie Polen involviert waren.
Schon zu Beginn des Jahrzehnts beunruhigte Warschau die Entstehung einer autonomen Eurozone; sie beunruhigte auch Berlin, weil es die Distanz zu Warschau wieder zu vergrößern drohte, zugleich war energisches Handeln der 17 Euro-Länder geboten. Polen, das mit der Eurozone eng verflochten ist, befürchtete, in wachsendem Maße von wirtschaftlichen Entscheidungen innerhalb der 17er-Gruppe der Eurostaaten, die es nicht beeinflussen konnte, abhängig zu werden. Vor allem aber bestand die Sorge, dass ein höherer Grad der Zusammenarbeit innerhalb der Eurozone Polen in die »zweite Liga« abdrängen würde.
Zugleich erschienen im zwanzigsten Jubiläumsjahr des Partnerschaftsvertrags 2011 Berlin und Warschau auf der internationalen Bühne wiederholt als Verbündete. Beide Regierungen konstatierten die Ursachen der Schuldenkrise in gleicher Weise. Polen und Deutschland befanden sich in der kleinen Gruppe von EU-Staaten, die ähnliche Rezepte zu deren Überwindung vorschlugen. Polen war – was in der breiteren Öffentlichkeit in Deutschland kaum bekannt war – Vorreiter als das einzige Land in der EU, das zur Sicherung der Haushaltsdisziplin eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert hatte. Mit seiner stabilitätsorientierten Finanzkultur galt Polen in den Kommentaren der seriösen Wirtschafts- und Finanzpresse als ein Land des neuen Nordens in der EU (vgl. auch die demnächst erscheinende Ausgabe der Polen-Analysen mit dem Beitrag von Gunter Deuber).
In seiner Berliner Rede von 2011 forderte Außenminister Sikorski Deutschland auf, seine führende, nicht dominierende, Rolle in diesem Reformprozess wahrzunehmen und sicherte ihm die Unterstützung seines Landes zu, vorausgesetzt, dass Polen in die europäischen Entscheidungsprozesse einbezogen wird.
Neben dem strategischen Gleichklang gab es aber auch in dieser Phase eines zweiten honeymoon zwischen den beiden Regierungen ernsthafte Interessenunterschiede, die ebenfalls nicht unter den Teppich gekehrt wurden. Stichworte waren hier: energiepolitische Prioritätensetzungen, die Klimapolitik, der EU-Finanzrahmen ab 2014, die Russlandpolitik, die östliche Nachbarschaft (Ukraine) oder die Folgen der vielbeschworenen Asymmetrie der Gewichte beider Länder innerhalb der EU.
Gerade in der Krisenperiode am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, die insbesondere von der Finanzkrise seit 2007 und der (Staats-)Schuldenkrise dominiert wurde, hatte die Gestaltung der bilateralen Agenda eine weit über das Bilaterale hinausweisende Stabilisierungsfunktion. Wenn Anfang der 1990er Jahre gesagt wurde, die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts entscheide sich an der deutsch-polnischen Grenze und an der Qualität der zweiseitigen deutsch-polnischen Beziehungen, dann galt dies angesichts der zentrifugalen Kräfte in der Union mehr als je zuvor. Die Arbeit an der bilateralen Agenda sollte schon bevor die strukturellen Positions- und Interessendifferenzen in der europäischen und internationalen Politik (Energiepolitik, Flüchtlingskrise, NATO-Ostflanke u. a.) immer sichtbarer wurden (s. Marek A. Cichocki, Olaf Osica, Neue deutsch-polnische Agenda, in: Dialog 111, 01/2015) eine existenziell stabilisierende Funktion für eine gute Nachbarschaft der (Zivil-)Gesellschaften haben.
Die teilweise nicht unerheblichen Interessenunterschiede und divergierenden Einschätzungen in europäischen und internationalen Fragen (Staatsschuldenkrise, Eurozone, Energie- und Klimapolitik, Beziehungen zu Russland, Östliche Partnerschaft u. a.) ließen die Pflege der bilateralen Beziehungen und die Förderung der Beziehungsinfrastruktur (92-Punkte-Programm von 2011) umso wichtiger werden. Welch fatale Folgen es hat, wenn man sie vernachlässigt, bekam Berlin seit der zweiten Hälfte der Nullerjahre besonders stark mit Blick auf das schlecht funktionierende deutsch-französischen Tandem zu spüren. Die Sprachlosigkeit zwischen Berlin und Paris war frappierend und zugleich besorgniserregend, weil sie sogar zur Wiederauferstehung alter Stereotype führte, was nicht allein mit unterschiedlichen Mentalitäten, sondern auch mit dem Versagen der bilateralen Kommunikation und einem unterbliebenen Perspektivwechsel zusammenhing. Es gab in den vermeintlich so gut eingespielten deutsch-französischen Beziehungen also vergleichbare Herausforderung wie im deutsch-polnischen Verhältnis. Dies macht die unveränderte Aktualität bilateraler Programme und Aktivitäten aus, wie sie 2011 auf die Agenda gesetzt wurden.
Im fünfundzwanzigsten Jahr des deutsch-polnischen Partnerschaftsvertrags sind zu dem seit Längerem belastenden europäischen Krisentableau weitere gravierende politische Herausforderungen hinzugekommen. Dazu gehören
die europäische Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspolitik,der Russland-Ukraine-Konflikt,das Verhältnis zu Russland und zur Ukraine,die ungelöste Schuldenkrise Griechenlands und der zeitweise drohende »Grexit«,das mögliche Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, das die Desintegration des Vereinigten Königreichs und weiteren Sezessionismus in West- und Südeuropa auslösen kann.
Gerade in der Ukraine- und Russlandpolitik zeigte sich in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem neuen imperialen Anspruch Russlands, dem sog. Euro-Maidan 2014 und der Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland eine bemerkenswerte Annäherung von Bewertungen und Handlungsoptionen seitens Berlins und Warschaus, und das, obwohl Polen an dem sog. Minsk-Prozess zur Konfliktregelung im Donbass nicht beteiligt wurde, weil keine der Konfliktparteien und keiner der Vermittler es ausdrücklich forderte. Diesen hohen Grad von Interessenkongruenz hatte es so in der Vergangenheit nicht gegeben. Man wird sagen können, dass die deutsche Position von allen größeren westeuropäischen Staaten diejenige ist, die der polnischen am nächsten kommt, ohne dass dies in Warschau große Zufriedenheit auslöst. Im Gegenteil wird an der Weichsel seit dem Regierungswechsel im Herbst 2015 altes Misstrauen in vermeintliche deutsche Intentionen und Ambitionen gepflegt bzw. wiederbelebt.
Neue Fragen nach der Elastizität der Partnerschaft
Aber nicht nur die EU befindet sich in einer multiplen Krisensituation. Seit dem Machtwechsel in Polen, der in die letzte Phase einer 25-Jahre-Bilanz deutsch-polnischer Partnerschaft fällt, wurden die bereits früher in (national)konservativen Intellektuellenzirkeln formulierten Zweifel an dem Modell der liberalen Demokratie, dem westeuropäischen Kultur- und Zivilisationsmodell, an dem 1990 eingeschlagenen ökonomischen Entwicklungspfad und an der politischen Integration mit den westeuropäischen Demokratien Programm. Das bedeutet letztlich eine erhebliche Distanz zu Deutschland, das mehr in den rechten Medien, aber in moderaterer Form auch von der nationalkonservativen Regierung sogar als Gefahr für die europäisch-christliche Zivilisation beschrieben wird und nicht als ein bislang erfolgreiches Beispiel einer offenen Gesellschaft (vgl. Piotr Zychowicz, Schwierige Nachbarn, in: Rotary Magazin, 4/2016). Die Vordenker der »konservativen Revolution« in Polen und die politischen Entscheidungsträger in Warschau formulieren so. Andererseits weiß man, dass Polen mit einem Deutschland, das auch von der PiS-Regierung als wichtigster wirtschaftlicher Partner bezeichnet wird, intensive Zusammenarbeit auf zahlreichen weiteren Feldern suchen muss (Wirtschaft und Finanzen, Infrastruktur und Verkehr, Energie, Wissenschaft und Forschung, Verteidigungspolitik, Russland und die Ukraine u. a.). Ganz ohne Deutschland geht es also nicht.
Und Deutschland selbst? Der Politikanalytiker Kai-Olaf Lang schrieb jüngst: »Gute deutsch-polnische Beziehungen sind für Deutschland ein Selbstzweck, denn sie sind auch nach einem Vierteljahrhundert fortschreitender Normalisierung immer noch ein Ausweis erfolgreicher deutscher Vertrauenspolitik und insbesondere eine bedeutende Stützstrebe in der politischen Architektur der EU« (Misstrauen und Zusammenarbeit, in: SWP-Aktuell 13, März 2016). Fehlen jedoch die gemeinsame Wertegrundlage und der politische Wille, Verständigung und Partnerschaft mit dem Nachbarn als einen Wert an sich zu betrachten, unter der Prämisse, dass individuelle sowie kollektive Freiheit(en) und Demokratie eines jeden einzelnen europäischen Staates gewollt und seine Erhaltung im internationalen Staatensystem auf Dauer nur unter der Bedingung einer demokratisch legitimierten und zusätzliche Identität stiftenden Europäischen Union erhalten werden kann, fehlt die Überzeugung, dass die Überwindung der historischen Gegensätze und Feindschaften und die Einbeziehung der Perspektive des anderen in eigenes politisches Handeln die Voraussetzung für Frieden und geregelten Konflikt darstellt, dann wird es schwierig in Europa und schwierig in den deutsch-polnischen Beziehungen. Deshalb ist es in der soeben von Warschau eingeläuteten neuen Phase der deutsch-polnischen Beziehungen, sollen sie das bisher ereichte Niveau der Dichte und Tiefe beibehalten, unabdingbar, zu gemeinsamem Handeln fähig zu sein. Dies sollte damit beginnen, dass man sich wieder zusammensetzt, um gemeinsame Interessen im bilateralen Bereich zu definieren. Dazu könnte man die Agenda von 2011 kritisch gegenbürsten und neue Felder der Zusammenarbeit entdecken und bearbeiten.
Trotz der These von einem Verlöschen der »deutsch-polnischen Interessengemeinschaft« und ihrer Ersetzung durch eine »Streitgemeinschaft« existiert nach wie vor ein großes gemeinsames Interesse von Deutschen und Polen über weltanschauliche, kulturelle und ideologische Dissonanzen hinweg an einer starken EU, die zu gemeinsamem Handeln in Feldern, die von allen Schlüsselstaaten der EU als wichtig definierten werden (Migrations-/Zuwanderungspolitik, Russland- und Ukrainepolitik, Sicherheitspolitik, Diversifizierung in der Energiepolitik u. a.), fähig ist.
Schlussbemerkungen
Was in den letzten 25 Jahren an substantieller politischer Partnerschaft, gesellschaftlicher Kooperation und Verflechtung zwischen Deutschland und Polen aufgebaut werden konnte, hatte mit Blick auf die historischen und politischen Ausgangsbedingungen lange Zeit als schier unmöglich gegolten. Das Erreichte ist deshalb von prominenten deutschen und polnischen Politikern nicht weniger als ein Wunder bezeichnet worden, angesichts der Extreme, die Deutsche und Polen lange Zeit voneinander getrennt hatten. Deutschland hatte für die Tradition des imperialen Gehabes, der kulturellen Verachtung, der gesellschaftlichen Ignoranz gestanden; Polen für einen Komplex der Ängste vor der deutschen politisch-militärischen Übermacht, des technisch-zivilisatorischen Unterlegenheitsgefühls und der irrationalen Selbsteinschätzung.
2016 ist es so aktuell wie 1991: Der politische Wille zur Gemeinsamkeit ist das A und O einer gelingenden deutsch-polnischen Partnerschaft und guten Nachbarschaft. Die Gefahr liegt darin, dass Polen es angesichts tatsächlicher Interessenunterschiede in wichtigen Politikfeldern aufgibt, den Wert der Partnerschaft als solcher anzuerkennen.
Die nach wie vor bestehende gute politische Grundstimmung zwischen Deutschen und Polen erlaubt es und erfordert es auch, Gründe für die andauernden Missverständnisse zwischen Deutschland und Polen zu benennen. Ein Hauptgrund mag darin liegen, dass sich weder Deutschland noch Polen die ungeachtet der vielfältigen Asymmetrien tatsächlich bestehenden Analogien mit den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 wirklich bewusst machen. Das westliche Deutschland und Frankreich waren über Jahrzehnte und noch nach dem Wendejahr 1989 zwei Pole bezüglich ihrer Interessen und ihrer Vorstellungen von Europa. Aber gerade deshalb wurde die Kooperation zwischen Bonn/Berlin und Paris zum Motor der europäischen Integration und die Verständigung zwischen den beiden Regierungen die notwendige Bedingung für die Weiterentwicklung der EWG/EG/EU. Wer die gelegentlich auftretende Polarität von Deutschland und Polen in der EU nach 2004 erkennt, sollte eigentlich auf das deutsch-französische Muster setzen und den Kompromiss und Ausgleich zwischen Berlin und Warschau suchen, ohne den die Weiterentwicklung der EU scheitern muss. Da aber beiden, Deutschen und Polen, an der Zukunft der EU gelegen ist, sollte hier der »Interessengemeinschaft in Europa« höchste Bedeutung zukommen. Diese Idee geht jedoch nicht von grundsätzlicher Harmonie als Ausgangspunkt der Politik aus. Sie sucht vielmehr auf der Grundlage der Gemeinsamkeit von Grundannahmen über den Umgang miteinander und über ein Einvernehmen bezüglich des modus operandi danach, die unterschiedlichen Teilinteressen im bilateralen und damit zugleich europäischen Interesse auszugleichen.
In Deutschland wie in Polen sind in den letzten Jahren mit unterschiedlicher Gewichtung und emotionaler Intensität wichtige Politikfelder (Europapolitik, Energiepolitik, Erinnerungspolitik) Gegenstand innenpolitischer Gegensätze und parteipolitischer Profilierung geworden. Die Erfahrungen gerade auch mit Nachbarschaftsbeziehungen und der europäischen Einigungspolitik nach 1950 lehren, dass nationale Egozentrik und Rücksichtslosigkeit oder Gedankenlosigkeit – wenn überhaupt – nur über einen begrenzten Zeitraum Vorteile brachten und die Miteinbeziehung der Interessen des Anderen in das eigene Kalkül mehr und längerfristigen Nutzen für die beteiligten Seiten generierte. Deutsche und Polen haben zu unterschiedlichen Zeiten – die Westdeutschen in den 1950er Jahren, die Polen in den 1990er Jahren – erfahren, wie europäische Solidarität Positives für ihre Rückkehr in eine freie europäische Staatengemeinschaft und die Stabilität in Europa bewirken kann.
Die Meinungsbilder, die in den letzten Jahren in Polen und in Deutschland bei Umfragen erhoben wurden (vgl. auch die demnächst erscheinende Ausgabe der Polen-Analysen von Agnieszka Łada), bestätigen die Einstellung eines Großteils der Gesellschaften: Es gibt keine Alternative zu einem integrierten Europa, die für Deutsche und Polen lebenswert wäre, wenn sie sich denn an den gemeinsamen Werten orientieren. Dazu gehören eine liberale Demokratie, Wertepluralismus und Grundwertegebundenheit sowie Achtung und Respekt gegenüber den Minderheiten unterschiedlicher Art (angefangen mit der parlamentarischen Minderheit). Nötig ist ein offener und ehrlicher Diskurs über das, was Gesellschaften akzeptieren müssen und was sie ablehnen, weil es die Grundwerte der europäischen Zivilisation und Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellt. Die reichen Erfahrungen mit über 25 Jahren der intensiven Zusammenarbeit, Partnerschaft und Freundschaften auf allen Ebenen und in zahlreichen Bereichen besagen aber, dass es sich für die Politik lohnt, auf einen freundschaftlichen Diskurs über die grundlegenden Gemeinsamkeiten und die Differenzen im Einzelnen zu setzen. Dabei gilt: Deutschland und Polen waren, sind und bleiben Schlüsselländer für Erfolg oder Scheitern gesamteuropäischer Verständigung.