Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung Polens seit der Unterzeichnung des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit am 17. Juni 1991 und damit auch für die Entwicklung der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen waren die marktwirtschaftliche Transformation in den Jahren 1989/1990 bzw. die nachfolgenden Reformen im neuen System sowie die Anpassung der polnischen Volkswirtschaft und ihrer ordnungspolitischen Grundlagen an die Normen der Europäischen Union. Der Beitrittsprozess fand seinen Abschluss am 1. Mai 2004, als Polen und neun weitere Staaten in die Gemeinschaft aufgenommen wurden.
Der nach dem Amtsantritt der ersten nichtkommunistischen Regierung unter Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki im September 1989 eingeleitete, verfassungsrechtlich und gesetzlich fundierte Wandel umfasste alle Bereiche der Wirtschaft und des Finanzsektors sowie die entsprechenden Institutionen. Als Symbol für diesen Wandel gilt Leszek Balcerowicz, Polens ehemaliger Präsident der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank Polski – NBP), der damals als stellvertretender Ministerpräsident und Finanzminister diese Reform auf den Weg brachte. Er und seine Mitarbeiter erbrachten innerhalb weniger Monate die fachliche und organisatorische Leistung, das radikale Wirtschaftsprogramm durch das Parlament zu bringen und ab dem 1. Januar 1990 zu implementieren. Seine »Schocktherapie« wird im Rahmen der internationalen wirtschaftswissenschaftlichen Debatte mehrheitlich als das einzige erfolgreiche Modell zumindest für den ersten Schritt der postsozialistischen Transformation der Wirtschaft gewürdigt.
Ein wichtiger Aspekt dieses Modells bestand darin, privaten Unternehmen fortan eine Schlüsselrolle einzuräumen, wobei bereits unter dem vorherigen Ministerpräsidenten Mieczysław Rakowski ab September 1988 erste Schritte in diese Richtung unternommen worden waren. Ebenso begann die Privatisierung der staatlichen Wirtschaft. Der Aufbau eines modernen Finanzsektors mit privaten Banken und Versicherungen war die notwendige Ergänzung dieser Entstaatlichung und gleichzeitig ein wichtiger Schritt zur Schaffung neuer Dienstleistungsstrukturen. Das staatliche Monopol im Außenhandel wurde abgeschafft sowie auch die einseitige Bindung der Import-Export-Strukturen an den früheren Ostblock.
Impulse durch Ausländische Direktinvestitionen
Große Bedeutung für den marktwirtschaftlichen Fortschritt Polens hatte die Öffnung des Landes für ausländisches Kapital, die schon bald nach dem Systemwechsel einsetzte. Auch und gerade deutsches Kapital trat hier auf den Plan. Dieser Hinweis ist aktuell wichtig, da Vertreter der gegenwärtig regierenden PiS von Jarosław Kaczyński immer wieder mit zum Teil heftiger Kritik an ausländischen Investoren bzw. deren polnischen Tochterfirmen an die Öffentlichkeit gehen. Durch die weitgehende Konzentration auf zukunftsträchtige Branchen hat der Zufluss der Ausländischen Direktinvestitionen (ADI) die wirtschaftliche Struktur Polens verändert, das technologische Niveau der Produktion angehoben, für mehr Produktivität gesorgt und damit die Wettbewerbsfähigkeit der polnischen Volkswirtschaft sowie deren Integration in die internationalen Märkte gestärkt. Gerade deutsche Unternehmen haben besonders zur Entwicklung bestimmter polnischer Regionen beigetragen, etwa in Niederschlesien. Die heutigen Kritiker aus den Reihen der PiS gehen offenbar von der fälschlichen Annahme aus, dies alles sei im Grunde auch ohne ausländische Investoren möglich gewesen.
Aus deutscher Sicht war und ist das Engagement deutscher Unternehmen in Polen und den anderen EU-Staaten Ostmittel- und Südosteuropas nicht nur positiv, da diese Investitionen mitunter zum Abbau von Arbeitsplätzen führten bzw. führen. Andererseits ist der Rücktransfer der Gewinne dieser Unternehmen nach Deutschland ein wesentlicher Beitrag zu ihrem Ertrag sowie zur Sicherung ihrer Existenz in Deutschland und damit auch zum Erhalt von Arbeitsplätzen.
Mit dem zunehmenden Engagement ausländischer Investoren wuchs auch die Verflechtung Polens mit dem europäischen und überhaupt dem internationalen Handel.
Beitritt zur EU fördert Modernisierung
Ein wichtiger Impuls für die polnische Volkswirtschaft und damit auch für die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen war die Aufnahme Polens in die Europäische Union am 1. Mai 2004. So führte die Integration in den gemeinsamen Markt zu einem konjunkturellen Aufschwung, der sich besonders in den hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 6,2 % und 6,6 % in den Jahren 2006 und 2007 manifestierte. Lag das BIP im Jahr 2003, also ein Jahr vor dem Beitritt, bei 43 % des EU-Durchschnitts, so erreichte es im Jahr 2008 bereits 51 %. Enorm stieg auch der Zufluss Ausländischer Direktinvestitionen, der im Jahr 2007 mit 16,6 Milliarden Euro den höchsten Jahreswert seit 1989 erreichte. In diesen Jahren festigte Deutschland auch seine Position als größter Investor in Polen. Außerdem profitierte der polnische Außenhandel vom EU-Beitritt des Landes. Sein Volumen erreichte 2008 das Zweieinhalbfache des Werts des Jahres 2003.
Nicht zuletzt diese Zahlen muss man sich vergegenwärtigen, wenn es um die Bilanz der 25 Jahre deutsch-polnischer Wirtschaftsbeziehungen geht, auch um kritischen Anmerkungen aus den Reihen der PiS zu begegnen, etwa dergestalt, dass Deutschland vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen in Polen während des Zweites Weltkriegs noch vieles »gut zu machen« habe. Hinzu kommen zusätzlich die vielfältige deutsche Hilfe und Förderung etwa im Bereich der Kunst, der Kultur, der Wissenschaft und der Bildung.
Mit der Übernahme des Acquis Communautaire und dem EU-Beitritt verstärkte sich der Prozess der Modernisierung und Entbürokratisierung. So erlangten die Produkte der polnischen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie durch die Beachtung der EU-Qualitätsstandards eine größere Konkurrenzfähigkeit auf den westlichen Märkten. Die Energiewirtschaft des Landes wurde gezwungen, mehr Konkurrenz und damit mehr Preiswettbewerb zuzulassen.
Dass die polnische Energiewirtschaft bis heute große Defizite aufweist, zeigt sich besonders an der nach wie vor starken Dominanz der Kohle bei der Energiegewinnung – eine Dominanz, die alles andere als zukunftsträchtig ist und an der die nationalkonservative Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydło offenbar festhalten will. Das polnische Energieunternehmen Polskie Sieci Elektroenergetyczne (PSE) hat in einer Studie bereits davor gewarnt, dass schon in fünf Jahren Engpässe bei der Stromversorgung des Landes auftreten könnten, verursacht durch die erzwungene Schließung von Kohlekraftwerken, die nicht mehr den EU-Umweltanforderungen entsprächen.
Das Auftreten ausländischer und gerade auch deutscher Unternehmen veränderte außerdem die Managementstrukturen und Entscheidungsprozesse in den betreffenden polnischen Unternehmen: Die Eingliederung von polnischen Tochterunternehmen in die Netzwerke internationaler Konzerne führte oft zu einer wachsenden Spezialisierung, etwa durch die Konzentration der Produktion auf bestimmte Produktkomponenten, und auch zu einer Beschränkung der Entscheidungskompetenz von Tochtergesellschaften sowie des Einflusses der polnischen Regierung und der regionalen und lokalen Verwaltungen. Strategische Entscheidungen über neue Produkte und die Umstrukturierung der Produktionsabläufe fielen fortan stärker in den internationalen Konzernzentralen. Die staatliche Wirtschaftspolitik sah sich mit einschneidenden Kapitalbewegungen, dem Abbau bzw. der Verlagerung von Arbeitsplätzen sowie verstärktem Lobbyismus von Seiten ausländischer Investoren konfrontiert – Phänomene, die bis heute anhalten und natürlich auch der Partei von Jarosław Kaczyński nicht verborgen bleiben.
Auch für die polnischen Arbeitnehmer hatte die Integration der polnischen Volkswirtschaft in die internationalen Märkte positive und negative Folgen. So kamen sie einerseits mit modernen Technologien, Produktionsabläufen, Arbeitsprozessen und Führungsmethoden in Berührung. Andererseits spürten sie am eigenen Leib, welche politischen und materiellen Druckmittel internationale Investoren einsetzen, wenn sie ihren Profit maximieren oder aber wegen des harten Konkurrenzkampfes auf den globalen Märkten einfach nur Kosten sparen wollen. Dazu zählte das Abdrängen der Gewerkschaften und anderer Arbeitnehmervertretungen, die Durchsetzung ausgefeilter Prämiensysteme und, im Extremfall, die Verlagerung von Produktionsstätten in andere Länder, etwa nach Südostasien. Mit dem Beitritt zur EU musste auch Polen lernen, wie schwer staatliche Sozialpolitik unter den Bedingungen der Globalisierung zu realisieren ist.
Die Kehrseite der Medaille
In den 1990er Jahren manifestierte sich der wirtschaftliche Strukturwandel in Polen auch in Form des Abbaus industrieller Strukturen besonders in der Schwer- und Rüstungsindustrie, der Reduzierung der landwirtschaftlichen Tätigkeit und des Aufbaus moderner Dienstleistungsstrukturen. In marktwirtschaftlicher Hinsicht war dieser Bedeutungsverlust zu erwarten und nur folgerichtig, hatte sich das sozialistische System in Polen doch durch eine stark überzogene Produktion von Investitions- und Rüstungsgütern ausgezeichnet. Ein schweres Erbe sozialistischer Zeiten war auch der viel zu hohe Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Leistung.
Andererseits waren die Folgen dieses Strukturwandels für den Arbeitsmarkt dramatisch. Trotz des Wirtschaftswachstums und fortwährender Produktionssteigerung ging die Beschäftigungsquote zurück. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze etwa im Dienstleistungssektor konnte den massiven Abbau in der Produktion nicht ausgleichen. Die Reduzierung der Beschäftigung fiel nicht zuletzt dann dramatisch aus, wenn ausländische Investoren einheimische Unternehmen kauften. Ebenso verloren viele einheimische staatliche Unternehmen ihre Existenzberechtigung und wurden aufgelöst, wenn sich kein in- oder ausländischer Investor fand; ihr Vermögen wurde abgewickelt, ihre Arbeitnehmer entlassen. Nach Angaben des Statischen Hauptamtes (Główny Urząd Statystyczny – GUS) sind in den Jahren 1989 bis 2003 in Polen etwa 3,2 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.
Auf der anderen Seite wurden viele Stellen geschaffen, wenn internationale Konzerne neue Unternehmen und Produktionsstätten in Polen aufbauten – nicht zuletzt in den Sonderwirtschaftszonen, die gerade auch von ausländischen Investoren genutzt wurden und werden. Aber es sollte noch bis 2005/2006 dauern, dass endlich die Abhängigkeit zwischen Produktivitätssteigerung und Arbeitslosigkeit durchbrochen wurde. Erst ab dann wurden in Polen wieder mehr neue Stellen geschaffen als abgebaut. Das galt für technologisch anspruchsvolle Produktionsabläufe in der Industrie und auch für den Dienstleistungssektor.
Besonders die globale Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2009 zeigte sehr deutlich, dass die Integration in die internationalen Märkte und speziell enge deutsch-polnische Wirtschaftsbeziehungen auch negative Auswirkungen zeitigen können. So ging auch in Polen das BIP-Wachstum zurück, weil Deutschland als wichtigster Handelspartner in eine wirtschaftliche Rezession abrutschte und deshalb die Nachfrage nach polnischen Importgütern stark nachließ. Ebenso ging der Zustrom deutscher Direktinvestitionen nach Polen zurück. Das Defizit im polnischen Staatshaushalt stieg auf das Doppelte des Maastricht-Grenzwertes von 3 % des BIP, weil die nachlassende Konjunktur auch zu sinkenden Steuereinnahmen führte.
Polen musste außerdem die schmerzhafte Erfahrung machen, dass ausländische Kredite für den polnischen Staat sowie die einheimischen Unternehmen und Privatkunden aufgrund der Krise höher verzinst wurden und überhaupt schwieriger zu bekommen waren. Außerdem verteuerte sich der Schuldendienst für bereits laufende Kredite aus Deutschland und anderen westlichen EU-Staaten. Glücklicherweise erreichte die Verschuldung in Fremdwährungskrediten in Polen nicht das dramatische Ausmaß, das in Ungarn, der Tschechischen Republik und den baltischen Staaten zu beobachten war.
Unter dem Strich hat Polen die internationale Krise jedoch relativ gut bewältigt und im Jahr 2009 als einziger EU-Mitgliedstaat ein Wachstum des BIP erzielt, nämlich 1,7 %. Sogar im größeren Kreis der Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kam Polen am besten durch die Krise.
Fragt man nach den Gründen für diesen relativen Erfolg, dann steht an erster Stelle die Tatsache, dass die polnische Volkswirtschaft nicht so extrem exportabhängig ist wie die anderer EU-Mitgliedsländer, gerade auch in Ostmitteleuropa. Außerdem konnten die Exporteinbußen durch eine starke Binnennachfrage auf dem großen einheimischen Markt teilweise ausgeglichen werden. Hinzu kam, dass die polnischen Banken vergleichsweise gering in den Handel mit »toxischen Papieren« verwickelt waren – und zwar vor allem deshalb, weil sie von ihren ausländischen und gerade auch deutschen Mutterbanken nicht so richtig an dieses lukrative, dann aber folgenschwere Investment herangelassen wurden. Im Laufe des Jahres 2010 trat eine allgemeine Erholung ein, wobei Polen in der Jahresbilanz erneut zu den wachstumsstärksten Ländern in der gesamten EU gehörte. Auch die Werte des deutsch-polnischen Handels stiegen nach dem Rückgang von 2009 im Jahr 2010 wieder an. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die globale Finanz- und Wirtschaftskrise die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen zwar beeinträchtigt, aber deren Grundstruktur und Erfolg nicht grundsätzlich verändert hat.
Keine »verlängerte Werkbank« mehr
Ziehen wir eine erste Bilanz nach 25 Jahren. Seit langem ist die Zeit vorbei, in der man, gerade auch in Deutschland, über die »polnische Wirtschaft« lästerte. Polen gilt als Sinnbild erfolgreicher Transformation und als Inbegriff marktwirtschaftlicher Reformen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, inzwischen auch als »Wachstums-Champion« Europas. Immerhin haben sich das BIP und das BIP pro Kopf seit dem Beitritt zur EU fast verdoppelt. Polen ist auch das Land in Ostmitteleuropa, das seit Jahren die höchste Summe an Ausländischen Direktinvestitionen aufweist. Was den Außenhandel angeht, wickelt das Land inzwischen 70 % seines Exports und 60 % seines Imports mit den alten EU-Mitgliedern im Westen ab. Nimmt man die gesamte erweiterte EU, dann entfallen 80 % der Ausfuhren und 75 % der Einfuhren Polens auf den EU-internen Handel.
Doch ein Blick auf die Zahlen zeigt auch, dass es noch ein beträchtliches Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost gibt und damit der Aufholprozess Polens noch lange andauern wird. So lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (in Währungsparitäten) im Jahr 2015 in Polen bei 11.100 Euro, während es in der EU durchschnittlich 27.400 Euro, in der Eurozone 29.800 Euro und in Deutschland 37.100 Euro betrug. In absoluten Zahlen: Das BIP lag in Polen bei 411 Milliarden Euro, während es in Deutschland 2,9 Billionen Euro betrug.
Das jährliche Wirtschaftswachstum muss also höher ausfallen als das der wichtigsten EU-Mitglieder im Westen, will Polen peu à peu aufholen. Vorerst gelingt das. So lag das reale BIP-Wachstum im Jahr 2015 in Polen bei 3,6 %, während es in der EU (durchschnittlich) und in Deutschland jeweils 1,6 % betrug. Ein wichtiges Element dieses Aufholprozesses sind die Mittel aus den EU-Strukturfonds. So sind in den Jahren 2004 bis 2013 92,4 Milliarden Euro aus dem EU-Budget nach Polen geflossen. Selbst wenn man davon den Beitrag Polens in die EU-Kasse in Höhe von 31 Milliarden Euro abzieht, bleibt immer noch ein gewaltiger Transfer – ein Faktor, den man im Hinterkopf behalten sollte, wenn es um die Analyse der EU-Politik der regierenden nationalkonservativen PiS geht.
Die erfolgreiche Integration der polnischen Ökonomie in die Weltwirtschaft wurde wiederholt auch durch Zurückhaltung bei Lohnerhöhungen erkauft. Die realen Einkommen sind zwar gestiegen, aber eben nicht so stark wie die Produktivität und die Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2015 betrug das monatliche Durchschnittseinkommen (nominal) in Polen 904 Euro, während es in der gesamten EU 2.299 Euro betrug. Trotzdem gilt Polen bei ausländischen Investoren nicht mehr als »verlängerte Werkbank«, d. h. als ein Standort, der – wie etwa Südostasien – in erster Linie wegen seiner niedrigen Lohnkosten attraktiv ist. Die Arbeitslosenquote ist im Vergleich zu 2007 in etwa gleich geblieben (2015: 9 %, in der EU durchschnittlich 10,2 %), sie war aber zwischenzeitlich auf über 10 % gestiegen. Unter den 15–24jährigen liegt die Arbeitslosenquote bei 25 %. Die Schere zwischen Niedrigverdienenden und Besserverdienenden öffnet sich inzwischen langsamer als im ersten Jahrzehnt nach der Transformation. Doch die Zahl derjenigen Polen, die schon an der Armutsgrenze leben bzw. davon bedroht sind, in Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung abzugleiten, liegt immer noch bei etwa neun Millionen – bei einer Gesamteinwohnerzahl von 38,02 Millionen.
Die vergleichsweise moderate Arbeitslosenquote hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass seit dem Beitritt zur EU etwa 2,5 Millionen Polen ins Ausland gegangen sind, insbesondere nach Großbritannien und Deutschland. Die große Mehrheit von ihnen ist dort geblieben, eine Minderheit weilte nur zeitweise im Ausland oder hatte als Saisonarbeiter von vorn herein nur einen temporären Aufenthalt geplant. Die Emigranten kamen vor allem aus ökonomisch schwachen Gebieten wie etwa der Woiwodschaft Oppeln (województwo opolskie) im Westen, der Woiwodschaft Heiligkreuz (woj. świętokrzyskie) in Zentralpolen und dem Karpatenvorland (woj. podkarpackie) im Südosten des Landes. Neben den positiven Auswirkungen dieser Migration wie Transferleistungen aus dem Ausland nach Polen und der Entlastung des Arbeitsmarktes, verliert Polen häufig dauerhaft mobile und in der Regel junge, nicht selten gut ausgebildete Menschen. Hinzu kommt die schwierige familiäre Situation der Pendler, was insbesondere die Kinder trifft. Die ökonomischen und sozialen Kosten dieser Migration für Polen insgesamt sind hoch, auch wenn die individuelle Bilanz am Ende positiv sein kann.
Besonders in der Regierungszeit der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) hat sich eine regelrechte »Zwei-Klassen-Gesellschaft« in der medizinischen Versorgung entwickelt. Die Zahl der guten Ärzte und modernen medizinischen Einrichtungen hat zwar zugenommen, doch sind deren Leistungen für Normalverdienende oft und für Niedrigverdienende fast nie zu bezahlen. Während die Zahl der privaten, erfolgreich arbeitenden, in der Regel aber teuren Arztpraxen und Krankenhäuser gestiegen ist, sind viele staatliche Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen in einem vergleichsweise schlechten Zustand. In vielen Krankenhäusern übersteigen die Kosten bei weitem die Einnahmen, was zu einer grassierenden Verschuldung führt. Die bauliche Qualität vieler Spitäler sowie deren Ausstattung mit Apparaturen müssten dringend verbessert werden. Die Überlastung der Beschäftigten wegen Personalmangels und ihre oft schlechte Bezahlung fördern die Korruption und veranlassen viele Schwestern und Ärzte, nach Westeuropa zu gehen.
Deutsch-polnische Bilanz
Polen hat sich in den letzten Jahrzehnten für deutsche Unternehmen zum attraktivsten Investitionsstandort in Ostmitteleuropa entwickelt. In einer Umfrage, die deutsche Außenhandelskammern zu Jahresbeginn unter Unternehmen aus westlichen Industrieländern durchgeführt haben, erhielt Polen 4,8 von 6 möglichen Punkten und lag damit wie im Vorjahr deutlich vor der Tschechischen Republik als Zweitplatzierter (4,4). Auf Platz drei lag die Slowakei (4,3), knapp vor Estland (4,2). Zu den Stärken des Landes werden die EU-Mitgliedschaft, der Zugang zu hohen EU-Fördermitteln, der große und dynamische Binnenmarkt, die geographische Nähe zu Deutschland, das bislang zu beobachtende vergleichsweise gute Angebot gut ausgebildeter Hochschulabsolventen und qualifizierter Arbeitskräfte sowie die Anwesenheit lokaler Zulieferer und Partner gezählt. Positive Veränderungen, die in der erwähnten Umfrage genannt werden, sind die gestiegene Zahlungsdisziplin unter polnischen Geschäftspartnern sowie Verbesserungen in der öffentlichen Verwaltung, der Infrastruktur und der Rechtssicherheit. Andererseits befürchtet man für die Zukunft steigende Arbeitskosten und einen schwieriger werdenden Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften.
Nach Angaben der Polnischen Nationalbank sind in den Jahren 1993 bis 2013 deutsche Direktinvestitionen in Polen im Wert von fast 28 Milliarden Euro getätigt worden. Deutschland liegt damit auf Platz eins vor den Niederlanden (knapp 26 Milliarden), Frankreich (gut 19 Milliarden) und Luxemburg (15 Milliarden). Ein großer Teil der deutschen Investitionen floss in die Automobilindustrie und in die Auslagerung von Geschäftsprozessen (besonders im IT-Bereich).
Doch die Investitionstätigkeit ist keine Einbahnstraße. Im Gegenzug zieht Deutschland auch viele polnische Unternehmen an, die hier investieren und Arbeitsplätze schaffen, insbesondere in der Mineralölwirtschaft, der Chemieindustrie, im IT-Bereich sowie im Bereich des Handels und der Dienstleistungen. In der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer in Warschau beziffert man den Gesamtwert der bis Ende 2015 in Deutschland getätigten polnischen Direktinvestitionen mit etwa 2 Milliarden Euro.
Zu den Vorteilen, die polnische Firmen als Grund für ihr Engagement in Deutschland anführen, zählen insbesondere der große und aufnahmefähige deutsche Binnenmarkt sowie die Kostenersparnis durch die Produktion im Land. Außerdem, so heißt es, könnten gerade von Deutschland aus Drittmärkte gut erschlossen werden, wobei das Qualitätsmerkmal »Made in Germany« verwendet werden dürfe. Wichtig seien außerdem die in Deutschland übliche transparente Geschäftsabwicklung und die relativ unbürokratische Wirtschaftsförderung durch die deutschen Landesregierungen. Oft wollen polnische Unternehmen ihre Position auf dem deutschen Markt durch Firmenübernahmen festigen, da sie damit gleichzeitig eine eingeführte Marke und ein etabliertes Vertriebsnetz übernehmen.
Besonders seit dem Beitritt Polens zur EU im Jahr 2004 hat der deutsch-polnische Handel eine dynamische Entwicklung durchlaufen. Mit einem Anteil von 27 % am Export und gut 22 % am Import ist Deutschland der wichtigste Handelspartner für Polen. Gleichzeitig wächst Polens Bedeutung für die deutsche Wirtschaft kontinuierlich. Als größter Handelspartner Deutschlands in Ostmitteleuropa liegt Polen auf Rang sieben in der deutschen Außenhandelsstatistik mit einem Anteil von 4 %. Unter den deutschen Ausfuhren dominieren Maschinen und Anlagen, Kraftfahrzeuge, Elektrotechnik und chemische Erzeugnisse. Polen exportiert vor allem Teile und Zubehör für Kraftfahrzeuge, Lebensmittel, Möbel und Haushaltsgeräte.
Wird jetzt alles anders?
Die ökonomischen Fundamente in Deutschland und Polen gelten als stabil, die Volkswirtschaften beider Länder sind eng miteinander verflochten – ein Umstand, von dem beide Seiten profitieren. Doch seitdem Polens Nationalkonservative im vergangenen Jahr alle wichtigen Schaltstellen im Staat übernommen haben, werden auch kritische Stimmen laut. So mancher warnt vor einer Gefährdung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen durch die PiS-Regierung.
Dabei sehen Insider wie Michael Kern, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer, kurzfristig keine Gefahren. Tatsächlich hat der neue polnische Wirtschaftsminister Mateusz Morawiecki ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit Ausländischer Direktinvestitionen abgelegt. Doch längerfristig könnten durchaus dunkle Wolken aufziehen, denn gerade deutsche Mittelständler, die in Polen investieren wollen und dabei für einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren planen, stellen sich zunehmend die Fragen, wie es denn künftig um die Rechtssicherheit in Polen stehen werde, ob man in Polen überhaupt noch willkommen sei und ob nicht die Vertrauensbasis schwinde. Offensichtlich hat der politische Kurswechsel in Warschau für eine gewisse Unsicherheit gesorgt. Schon ist von einem Image-Schaden für Polen die Rede.
Tatsächlich werden in der PiS immer wieder kritische Stimmen laut, wenn es um die Tätigkeit ausländischer Unternehmen in Polen geht. So heißt es, ausländische Firmen würden übermäßig Gewinne aus Polen abziehen. Diese Kritik ist überzogen. Denn einerseits gingen etwa im Jahr 2015 rund 3 % des Bruttoinlandsprodukts an Gewinnen, Dividenden und Zinsen an Ausländer. Andererseits wird seit Jahren mehr als die Hälfte dieser Gewinne durch die ausländischen Firmen reinvestiert, also produktiv in Polen eingesetzt. Ein zweiter Kritikpunkt lautet, ausländische Konzerne, insbesondere Banken und Supermarktketten, würden im Land zu Lasten der Polen überhöhte Gewinne erzielen. Beide Branchen befinden sich überwiegend in ausländischer Hand. Doch in beiden Branchen herrscht ein scharfer Wettbewerb, der überhöhte Gewinne gar nicht zulässt. Zudem werden den polnischen Kunden ein starkes Preisbewusstsein und eine geringe Markentreue nachgesagt. Schließlich lautet ein dritter Vorwurf, ausländische Firmen zahlten unterdurchschnittlich Steuern. Das stimmt zum Teil, ist aber ein hausgemachtes Problem. Denn in Polen wurden nach der Wende (von Regierungen des rechten wie des linken Spektrums) immer wieder Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, die ausländische Investoren mit Förderungen und Steuererleichterungen anlocken sollten, um so Know-how und Kapital ins Land zu holen.
Sehr skeptisch schaut man im In- und Ausland auf die von der Regierung Szydło eingeführten oder geplanten Sondersteuern. Bereits beschlossen ist eine Bankensteuer in Höhe von 0,44 % auf alle Vermögenswerte außer Staatsanleihen. Zudem werden höhere Mindestreserven vorgeschrieben und bestimmte Wechselkurse für Immobilienkredite in Schweizer Franken garantiert. In dieser Währung haben sich viele polnische Eigenheimbesitzer verschuldet. Die Kosten der Umschuldung sollen die Banken tragen. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński äußerte sich populistisch: »Wir befreien die Polen aus der Sklaverei des Kredits.«
Inzwischen hat Andrzej Jakubiak, Vorsitzender der polnischen Finanzaufsicht (Komisja Nadzoru Finansowego – KNF), mit deutlichen Worten vor den Folgen einer Umwandlung der Immobilienkredite gewarnt. Dadurch, so Jakubiak, könnten sechs Banken mit der Eigenkapitalquote unter die gesetzlich vorgeschriebenen 8 % rutschen, fünf davon müssten möglicherweise sogar geschlossen werden. Der Chef der Finanzaufsicht warnte vor einer Kettenreaktion im Bankensektor und hält sogar den Beginn einer Finanzkrise in Polen für möglich. Es geht um Hypothekendarlehen im Wert von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro.
Noch diskutiert wird über die konkrete Ausgestaltung einer neuen Umsatzsteuer auf die Einkünfte großflächiger Einzelhändler. Ein Entwurf des Finanzministeriums sieht vor, bei einem Umsatz von mehr als 17 Millionen Zloty monatlich einen Steuersatz von 0,8 % auf den Umsatz zu erheben. Bei mehr als 2 Milliarden Zloty Umsatz jährlich soll der Satz 1,4 % betragen. Die Regierung hat dabei das Problem, dass auch Supermarktketten in polnischem Besitz von einer solchen Steuer betroffen wären.
Dem PiS-Vorsitzenden Kaczyński und der neuen polnischen Regierung ist des Weiteren das Auftreten deutscher Medienunternehmer in Polen ein Dorn im Auge. Dabei geht es vor allem um die Verlagsgruppe Passau, die im Jahr 1994 von der französischen Hersant-Gruppe Mehrheitsanteile an neun polnischen Regionalzeitungen übernommen hat. In den folgenden Jahren wurde Polskapresse als Dachunternehmen dieser Zeitungen zu einem der bedeutendsten Zeitungsverlage in Polen ausgebaut. Seit 2007 bzw. 2009 besitzt Polskapressse Kattowitz (Katowice) eine der modernsten Druckereien in Europa sowie ein Pressezentrum. Hieß es noch im Wahlkampf der PiS im letzten Jahr, man wolle die Regionalzeitungen zurückkaufen und in polnischen Besitz überführen, so ist inzwischen hauptsächlich die Rede davon, Konkurrenzzeitungen mit polnischem Kapital und Hilfe der Regierung aufzubauen. In Passau sah und sieht man etwaige Rückkaufpläne gelassen, da die polnische Seite kaum das Kapital dafür aufbringen könnte und auch juristische Hindernisse absehbar wären.
Ein »völlig neues Wirtschaftsmodell«?
Was plant die nationalkonservative Regierung? Ministerpräsidentin Beata Szydło erklärte bald nach ihrer Amtseinführung, man wolle Polen ein völlig neues Wirtschaftsmodell geben. Wirtschaftsminister Morawiecki fügte hinzu, die alten Wachstumsquellen hätten sich erschöpft, man brauche neue Ansätze. Die bisherige Entwicklung, so der Minister, habe zu stark auf ausländischem Kapital und niedrigen Lohnkosten basiert. Polen bleibe offen für Ausländische Direktinvestitionen, aber nun gehe es darum, das polnische Kapital zu stärken.
Morawieckis Entwicklungsplan, der »25-Jahre-Plan«, beruht auf fünf Zielen, die mit großangelegten Investitionen in den nächsten fünf Jahren realisiert werden sollen.
Erstens geht es um die intensive Förderung von rund 20 Branchen, in denen Polen schon jetzt vergleichsweise wettbewerbsfähig ist, wie etwa dem Fahrzeugbau und der Elektroindustrie. Angestrebt wird die Gründung produktiver polnischer Firmen mit hochwertigen Arbeitsplätzen.Zweitens möchte die Regierung die Gründung solcher Firmen fördern, indem sie bürokratische Hürden für die Zulassung abbaut und mehr Geld in entsprechende wissenschaftliche Forschung und Technologieentwicklung investiert.Drittes soll mehr polnisches Kapital für Investitionen zur Verfügung stehen, indem die Sparquote der Polen, etwa durch die Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, erhöht wird und die Mitarbeiter von Firmen mehr Anteile am Betriebsvermögen und an den Unternehmensprofiten erhalten.Viertens will die Regierung polnischen Firmen bei der Expansion ins Ausland helfen.Fünftens ist eine stärkere Förderung strukturschwacher Regionen vorgesehen.
Insgesamt geht die Regierung für die kommenden 25 Jahre von einer Investitionssumme von etwa 1 Billion Zloty (zirka 250 Milliarden Euro) aus. Etwa die Hälfte der Mittel soll weiterhin aus dem Ausland stammen, insbesondere in Form von Geldern der EU. Die andere Hälfte soll im eigenen Land aufgebracht werden.
Ohne Zweifel müssen sich die politisch Verantwortlichen in Polen genauer überlegen, wie die reichlich fließenden Gelder aus den Strukturfonds der EU bis 2020 sinnvoll einzusetzen sind. Unter führenden Ökonomen des Landes herrscht auch Einigkeit darüber, dass neben dem Ausbau von Straßen, Schienen und weiterer Infrastruktur auch mehr Gewicht auf die wissenschaftlich-technische Förderung wirtschaftlicher Innovation gelegt werden muss. Ebenso ist weitgehend unstrittig, dass die Sparquote und die privaten Investitionen zunehmen müssen. Aber all das sind Pläne, die schon frühere Regierungen auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Bedenklich ist allerdings das Ausmaß, in dem die Regierung in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen will, etwa wenn sie jene Industriebranchen auswählt, die vorrangig gefördert werden sollen. Das erinnert an die sozialistische Planwirtschaft vor 1989.
Nimmt man die sozialpolitischen Pläne der Regierung wie das Kindergeld hinzu, dann stellt sich auch die Frage, ob der polnische Staatshaushalt die Verwirklichung aller dieser Pläne verkraften kann, ohne aus den Fugen zu geraten – selbst wenn man die EU-Gelder und die private Kapitalbildung in Rechnung stellt. Letztlich sind Pläne, die auf 25 Jahre angelegt sind, in der Regel illusionär, weil sie politische Machtwechsel und entsprechende Regierungsumbildungen nicht mit einkalkulieren.
Fazit
Die von PiS geführte nationalkonservative Regierung wird die Fundamente der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen sicher nicht ins Wanken bringen. Allerdings könnte es zu Zurückhaltung bei deutschen Investitionen kommen. Die Regierung weiß auch, dass sie auf drastische Schritte wie Handelsrestriktionen und Embargos verzichten muss, will sie sich nicht ins eigene Fleisch schneiden. Der Einfluss von PiS auf Politik, Gesellschaft, Kultur und Medien in Polen und auf die politischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland ist stärker als auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen.