Die Suche nach dem Heiligen Gral – über die Probleme linker Parteien in Polen

Von Michał Sutowski (Institute for Advanced Study, Warschau)

Zusammenfassung
Eine Krise ist zugleich ein Wendemoment, eine Umbruchszeit, die eintritt, wenn ein Fortbestehen und Handeln wie bisher nicht mehr möglich sind und eine gelungene Anpassung an die Veränderungen überlebensnotwendig wird. Die polnische Linke hat unlängst ihre größte Niederlage seit den Wahlen von 1989 erlebt. Im polnischen Parlament ist weder eine linke Partei noch eine linke Koalition vertreten, und nur wenige Abgeordnete lassen sich durch ihre Ansichten dem (mitte-)linkspolitischen Spektrum zuordnen. Einer Umfrage von Mitte September 2016 zufolge (und damit fast ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen), liegt die Unterstützung für das Bündnis der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej, SLD) bei 3 %. Die kurz vor den Wahlen gebildete Partei junger Aktivisten Razem (Gemeinsam) erreichte 2 %. Kurz gesagt: Das Alte ist gestorben und das Neue ist – womöglich – erst im Entstehen.

Wozu Polen und den Polen linke Parteien?

Bis 2015 sei Polen ein ruiniertes Land gewesen, so präsentierten Jarosław Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) während der Wahlkampagne 2015 die Folgen der vorangegangenen Regierung der Partei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO). Polen hat jedoch dank des Beitritts zur Europäischen Union in den vergangenen zehn Jahren eine unglaubliche Entwicklung durchlebt. Es wurden gewaltige Investitionen in die Infrastruktur getätigt (insbesondere in den Ausbau von Autobahnen und in die wichtigsten Zugstrecken), das Einkommen auf dem Land ist gestiegen (auch dank der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU) und Modernisierungsarbeiten wurden nicht nur in den größeren Städten, sondern auch in der Provinz vorgenommen – wenngleich einige Investitionen, wie die legendären Aquaparks und einige der für die Fußball-Europameisterschaft 2012 gebauten Komplexe, kaum als wirtschaftlich und sozial nachhaltig zu bewerten sind. Polen hat auch die globale Wirtschaftskrise einigermaßen unbeschadet überstanden. Dies verdankt es der pragmatischen, antizyklischen Politik der Tusk-Regierung, dem Besitz einer eigenen Währung und der Verflechtung der polnischen mit der deutschen Wirtschaft als Zulieferer von Industrieteilen, wenn auch ein Teil der Last von den Arbeitnehmern getragen wurde, die man als Opfer der übermäßigen Flexibilisierung bzw. Prekarisierung des Arbeitsmarktes betrachten kann und die kaum in Gewerkschaften organisiert sind. Schließlich sind die Arbeitslosenzahlen im vergangenen Jahr auf ein für Polen seit 1989 historisches Tief gesunken. Allerdings ist ein Teil dieses Erfolgs der Arbeitsmigration, vor allem nach Großbritannien und Irland, zuzuschreiben.

Das bisherige, auf geringen Personalkosten beruhende Wirtschaftsmodell hat sich erschöpft. Dies erfordert vom Staat sowohl ein aktives Eingreifen in den Bereich der Industriewirtschaft, höhere Löhne (deren Anteil am polnischen Bruttoinlandsprodukt seit Jahren schrumpft) und eine Absicherung der Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt als auch eine Qualitätssteigerung der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen, darunter des Bildungswesens, der Gesundheitsversorgung und der Pflege (insbesondere im Hinblick auf unsere alternden Gesellschaften).

Darüber hinaus sieht sich Polen nach einem Vierteljahrhundert der (in vielerlei Hinsicht neoliberalen) Transformation mit einer ganzen Reihe sozialer Probleme und Herausforderungen konfrontiert. Polen findet sich zwar mit seiner breite gesellschaftliche Schichten umfassenden Armut (die insbesondere kinderreiche Familien, Frauen und Menschen mit Behinderung betrifft) und den starken Einkommensunterschieden im EU-weiten Vergleich im mittleren Feld wieder. In Verbindung jedoch mit einem de facto regressiven Steuersystem, einem ungleichen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sowie deren schrittweiser Kommerzialisierung, einer schwachen Verkehrsinfrastruktur und regionalen Unterschieden im Zugang zu Kultur und Bildung kommt es in Polen zu einer starken (realen sowie wahrgenommenen) sozialen Schichtung der Gesellschaft.

Das allgemeinbildende Schulsystem ist zu stark auf Selektion, Konkurrenz und die Reproduktion sozialer Unterschiede ausgerichtet, anstatt Chancengleichheit zu fördern und zu Demokratie zu erziehen. Im Hochschulbereich ist der Zugang zu einem kostenlosen, qualitativ hochwertigen Studium begrenzt. Hinzu kommt der gender gap bei der Höhe der Löhne und im gesellschaftlichen Leben sowie eine seit Jahren aggressive Einflussnahme der Politik auf die Selbstbestimmungsrechte der Frau (ein restriktives Abtreibungsgesetz, das Erschweren legaler Schwangerschaftsabbrüche auch in begründeten Fällen, fehlende Sexualbildung an Schulen). Berücksichtigt man zudem das ineffektive, auf Kohle basierende Energieversorgungssystem und die bürokratischen Hürden, die erneuerbaren Energien auferlegt werden, das in den kommenden Jahrzehnten unausgeglichene Rentensystem und das Wohnungsproblem, in dessen Rahmen die Mittelklasse mit Hypotheken in Schweizer Franken belastet ist und ärmere Familien keinerlei Aussichten auf eine anständige Wohnung haben, so erscheint Polen nach der Transformation als ein Land, in dem Parteien und Bewegungen großen Erfolg haben sollten, die sich für demokratische, egalitäre, freiheitliche und solidarische Werte einsetzen.

Die PiS scheint seit ihrem Wahlsieg 2015 auf einen Teil dieser Herausforderungen zu reagieren: sei es durch die Einführung eines Mindestlohns und des Elterngeldes 500+ oder mit ihren Ankündigungen, ab 2018 günstigen Wohnungsraum zu schaffen und ein stärker progressives Steuersystem einführen zu wollen. Die Umsetzung dieser Ankündigungen ist allerdings unsicher oder beruht auf Ausgaben, die für die Zukunft nicht gedeckt sind. Die Realisierung dieses teuren Familienprogramms kann zu einem Anwachsen der öffentlichen Verschuldung führen (insbesondere nach 2016) und eine ambitionierte Sozialpolitik in anderen Bereichen verhindern (beispielsweise beim Ausbau von Kindergartenplätzen). Die Pläne, inländische Spareinlagen zu stimulieren und die Skepsis gegenüber einer organisierten Arbeitervertretung wecken dabei Bedenken, dass die Investitions- und Modernisierungskosten abermals von den weniger wohlhabenden Arbeitern getragen werden, statt von Rentnern und der vermögenden Schicht.

Hinzu kommen die kontroverse Bildungsreform, die mit einer Ideologisierung der Lehrpläne durch die starke Betonung von Traditionalismus und Nationalismus einhergeht, die Propagandaoffensive im Bereich der Geschichtspolitik und der »Verteidigung des guten Rufs Polens«, die Akzeptanz fremdenfeindlicher Sprache und derartigen Verhaltens in der Öffentlichkeit, eine radikal konservative Familien- und Geburtenpolitik. Last but not least kommt eine Politik hinzu, die sich deutlich für eine schwächere EU-Integration, die Ablehnung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik sowie gemeinsamer Klima- und Umweltziele ausspricht. Alle diese Aspekte zusammengenommen beschreiben ein Polen, in dem die Linke vor großen Aufgaben steht, für die sie bisher über zu wenig Kräfte und Ressourcen verfügt.

Rahmenbedingungen für das Handeln einer Linken – die Öffentlichkeit

Während der Kampagnen zur Präsidentschafts- und zur Parlamentswahl sind einige aus Sicht der Linken bedeutende Charakteristika der polnischen Öffentlichkeit zutage getreten.

Erstens haben sich in Reaktion auf die Stimmungen innerhalb der Wählerschaft beinahe alle politische Parteien für gesellschaftliche Solidarität und eine aktive Rolle des Staates in der Gestaltung des Wirtschafts- und Gesellschaftsleben ausgesprochen. Man unterstrich die Notwendigkeit verbesserter Arbeitsbedingungen und Löhne sowie die Unterstützung der heimischen Industrie und inländischen Kapitals, wodurch die bis dahin starke rechts-libertäre Strömung sichtlich geschwächt wurde. Zweitens hat sich die vorherrschende Narration vom »Erhalt des Transformationserfolgs« (unabhängig von objektiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Indikatoren) als erschreckend ineffektiv erwiesen. Bei einem Teil der Wählerschaft – insbesondere bei der Jugend – rief sie sogar Widerstand hervor, der sich in einer regelrechten »Gegenkultur der Transformation« äußerte. Diese Gegenkultur nutzt Elemente eines »Pop-Nationalismus« und ist gegen das Establishment der Dritten Polnischen Republik gerichtet. Dabei wird sie oft, wenn auch unberechtigt, als »links« oder sogar als »linksradikal« wahrgenommen. Drittens ist insbesondere bei Jugendlichen abermals eine Schwächung traditioneller gesellschaftlicher und intellektueller Autoritäten zu beobachten – vor allem derjenigen Expertenkreise und meinungsbildenden Medien, die sich auf die Begriffe der »Modernisierung« und »Europäisierung« beziehen, die in der Tradition der »alten« Solidarność stehen und die als Gestalter oder Fürsprecher am Transformationsprozess beteiligt waren. Viertens führten der moderate Ton der PiS-Wahlkampagne und der Überdruss an der Rhetorik der bis dahin regierenden Parteien zu einer deutlichen Schwächung des Diskurses vom »Schutz vor Autoritarismus«. Dieser hatte über Jahre hinweg die politische Szene wirkungsvoll in zwei Lager geteilt (PiS-Anhänger und PiS-Gegner) und die Regierungsmacht der Bürgerplattform legitimiert, aber auch die Formulierung von vielen linken wie auch rechtskonservativen Positionen erschwert. Fünftens haben die Wahlkampagnen bestätigt, wie wichtig und bedeutend markante, charismatische Parteiführer sind. Der Wechsel Donald Tusks in die Europapolitik hat die Bürgerplattform auf nationaler Ebene deutlich geschwächt. Dagegen hat ein Rockmusiker ohne jegliche politische Basis während der Präsidentschaftswahl 20 % der Stimmen bekommen. Adrian Zandbergs starker Auftritt während eines TV-Duells aller Spitzenkandidaten brachte seiner Partei Razem kurz vor den Wahlen einen sprunghaften Popularitätszuwachs. Wiederum schreiben viele Experten das schwache Abschneiden der Vereinigten Linken (Zjednoczona Lewica; für die Parlamentswahlen 2015 von 6 linken Parteien gebildetes Wahlbündnis, Anm. des Übersetzers) der Tatsache zu, dass die Spitzenkandidatin Barbara Nowacka zu schwach in den Vordergrund gestellt wurde. Schließlich zeichnete sich bei den letzten Wahlen der seit Jahren in der internationalen Politik vorherrschende Trend zur »postmodernen« Rhetorik der Politik viel deutlicher ab: eine Loslösung der Aussage von der empirisch erfahrbaren Welt (post-factual world), eine Polarisierung der traditionellen und sozialen Medien (die Nutzer leben in einander ideologisch wie ästhetisch antagonistisch gegenüberstehenden Welten) und schließlich die Vermittlung von Inhalten mittels popkultureller Bilder statt des traditionellen politisch-ideellen Diskurses.

Handlungsspielräume und das Prinzip Realität

Angesichts der Vielschichtigkeit der EU-Krise – von der Wirtschaftsstagnation über institutionelle Verwaltungsprobleme und ein Demokratiedefizit bis hin zur Migrationskrise und einer europaweiten Re-Nationalisierungswelle – muss die Linke einen neuen Standpunkt in der Europa-Politik einnehmen. Die bisherigen Postulate, dem »Mainstream« der EU-Politik anzugehören und für die »Glaubwürdigkeit Polens als Partner« zu sorgen, entsprechen nicht mehr den gegenwärtigen Herausforderungen. Ebenso wirken die »europäischen Standards« nicht mehr als universelle Argumente gegen die Postulate der Rechtskonservativen im Bereich der Menschenrechte, der Gleichberechtigung der Frau, ökologischer Standards, würdiger Arbeitsbedingungen und Löhne. Gleichzeitig schwächen die inneren Probleme der EU den Schutzschirm und den informellen Druck, den die EU in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und in Bezug auf Bürgerrechte ausüben kann. Außerdem erhöhen sie das Risiko einer Marginalisierung Polens oder sogar im schlimmsten Falle einer Teilung oder eines Zerfalls der Europäischen Union und damit einer Abdrängung Polens in eine geopolitische Leere östlich des europäischen »Kerns«. Schließlich sind noch einige Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen europäischen linken Bewegungen anzuführen. Aus polnischer Sicht ist entscheidend, dass die Veränderungen und Reformen der Union nicht zu ihrem Zerfall oder zu einem dauerhaften Auseinanderbrechen in ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten führen. Polen ist außerdem weniger skeptisch gegenüber einer US-amerikanischen Anwesenheit in Europa (insbesondere im Rahmen der NATO) und dafür skeptischer hinsichtlich einer »Normalisierung« der Beziehungen der EU zu Russland.

Wo steckt die Linke?

Das Spektrum der polnischen Linken präsentiert sich 2016 breit und bunt, aber zersplittert. Es gibt eine Reihe mittelgroßer und sehr viele kleiner Organisationen, die weiterhin keine geeinte linke Bewegung bilden, wie es die Rechte rund um die PiS tut. Außerhalb des Parlaments existieren die Initiative Polen (Inicjatywa Polska) sowie die erwähnten Parteien Razem und SLD. Die SLD scheint langsam zu zerfallen, insbesondere nach der kompromittierenden Niederlage während der Präsidentschaftswahlen 2015. Dennoch verfügt sie über eine treue Wählerschaft postkommunistischer Färbung, eine weiterhin gut entwickelte Parteibasis, den großen Erfahrungsschatz der älteren Mitglieder auf Ebene der nationalen sowie der lokalen Politik und über eine für mehrere Jahre abgesicherte Finanzierung aus dem Staatshaushalt. Nach ihren zahlreichen ideologisch-programmatischen Kehrtwenden fehlt es der Partei jedoch vor allem an Glaubwürdigkeit und ihr haftet das Etikett an, zynische und interessengeleitete Parteifunktionäre zu versammeln. Es fehlt eine charismatische Parteispitze ebenso wie eine klare Parteilinie, und die jüngere Generation der Parteimitglieder weist organisatorische und intellektuelle Schwächen auf. Es ist nicht auszuschließen, dass die ambitioniertesten Mitglieder in naher Zukunft zu anderen Parteien wechseln oder sich einem Mitte-Links-Wahlbündnis anschließen werden.

Ehemalige Mitglieder von SLD und der sozialliberalen Partei Deine Bewegung (Twój Ruch), die 2011–2015 im Sejm vertreten war, sowie Vertreter von NGOs und Frauenbewegungen haben die Initiative Polen gegründet. Sie ist auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Selbstverwaltungsorganen ausgerichtet und könnte sich in Zukunft in ein Wahlbündnis umwandeln. Gegenwärtig werden programmatische Alternativen für die polnische Politik ausgearbeitet; der größte Erfolg bisher war die Erreichung von über 200.000 Unterschriften für die Bürgerinitiative für ein liberaleres Abtreibungsgesetz. Viele der Mitglieder beteiligen sich ebenfalls am Protest zur Verteidigung des Verfassungstribunals und an den Debatten um Skandale im Bereich der Reprivatisierung. Zu den größten Vorteilen der Initiative gehören die jungen Spitzenkandidatinnen Barbara Nowacka und Paulina Piechna-Więckiewicz sowie ein gewisser Einfluss in den Kommunen. Das größte Problem dagegen ist das Fehlen einer Organisationsstruktur, die ganz Polen umgreifen würde und für zukünftige erfolgreiche Wahlkampagnen notwendig ist. Womöglich bildet sich im Umfeld der Initiative Polen bereits für die kommenden Kommunalwahlen 2018 ein Mitte-Links-Bündnis heraus.

Last but not least verbanden nach den Wahlen viele mit der Partei Razem große Hoffnungen auf eine vollkommen neue, unbelastete Partei, die ein klares Programm vertreten und eine Sozialdemokratie skandinavischen Typs mit den Praktiken einer von unten gewachsenen, demokratisch und partizipativ geführten Bewegung verbinden würde. Die Bewegung ist erst kurz vor dem Wahlkampf 2015 gebildet worden und erreichte 3,6 % der Stimmen (was ihr eine staatliche Zuschussfinanzierung für die nächsten 4 Jahre sichert). Dies verdankt sie nicht zuletzt dem erfolgreichen Auftritt im TV-Duell des von vielen für den informellen Parteiführer gehaltenen Adrian Zandberg.

Die Partei verfügt über einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit, da sie keine belastete Vergangenheit hat und sich ihr viele Sozialaktivisten und bisher an der Politik Unbeteiligte angeschlossen haben. Ihr gehören einige Personen mit relativ hohem Wiedererkennungswert an (Marta Tycner, Marcelina Zawisza, Agnieszka Dziemianowicz-Bąk), und sie hat eine ideell engagierte, breit aufgestellte Basis. Die Aktivistinnen und Aktivisten engagieren sich in sozialen Protesten – etwa in den Demonstrationen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, die viele Menschen auf die Straßen geführt haben und ein großes mediales Echo erfuhren, oder zur Verteidigung der Verfassung, aber auch in lokalen Arbeiterstreiks. Es fehlen ihnen jedoch entsprechende finanzielle Mittel, Erfahrungen im Wahlkampf (dagegen wissen sie die sozialen Medien zu nutzen) und vermutlich auch die Bereitschaft, die in der Politik bisweilen notwendigen Kompromisse einzugehen. Die Partei definiert sich durch ihre Ablehnung des politischen Establishments und versucht diejenigen Wähler zu erreichen, die mit ihrer ökonomischen Situation unzufrieden sind. In der Praxis wird sie überwiegend von der großstädtischen Intelligenz gewählt.

Neben politischen Kreisen im engeren, parteilichen Sinne gibt es noch eine Reihe linker Organisationen und Verbände der »politischen Gesellschaft«. Zu den wichtigsten gehören vor allem die zentralen Gewerkschaftsverbände, darunter der Gesamtpolnische Gewerkschaftsverband (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych, OPZZ) und das Forum der Gewerkschaften (Forum Związków Zawodowych, FZZ). Der dritte Gewerkschaftsverband, der Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaftsbund Solidarność (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy – NSZZ – Solidarność), ist dagegen mehrheitlich rechtskonservativ orientiert und eng mit der gegenwärtigen Regierung verbunden. Daneben bestehen eine Reihe von Vertretungen spezieller Berufsgruppen, die linke Positionen repräsentieren. Das gilt etwa für die Gesamtpolnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (Ogólnopolski Związek Zawodowy Pielęgniarek i Położnych) und die Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa Polskiego), aber auch für kleinere und zugleich radikalere Organisationen wie die Arbeiterinitiative (Inicjatywa Pracownicza). Besonders stark vertreten sind die Gewerkschaften in der Industrie und im öffentlichen Sektor, so dass ihnen eine Schlüsselrolle in zukünftigen sozialen Konflikten in Polen zukommen wird, die womöglich zu einer Neukonstituierung der Linken führen könnten. Hinzu kommt das breite Netz von »watchdog«-Institutionen, die das Handeln anderer überwachen,<Etwa die Helsinki Stiftung für Menschenrechte (Helsińska Fundacja Praw Człowieka) oder die Stiftung Panoptykon (Fundacja Panoptykon).> von NGOs, die sich für die Rechte von Minderheiten und diskriminierten Gruppen einsetzen,<Die Kampagne gegen Homophobie (Kampania przeciwko Homofobii), die Stiftung Feminoteka (Fundacja Feminoteka), die Föderation für Frauen und Familienplanung (Federacja na rzecz Kobiet i Planowania Rodziny) u. a.> von Think Tanks<Das Ferdinand-Lassalle-Zentrum (Ośrodek im. F. Lassalla), die Kalecki-Stiftung (Fundacja im. Kaleckiego) u. a.> sowie Zeitschriften und Kulturinstitutionen, die sich sozialpädagogisch engagieren<»Neuer Bürger« (Nowy obywatel), »Kontakt«, »Nie wieder« (Nigdy więcej), »Werft« (Stocznia) u. a.>. Dem sogenannten dritten Sektor ist ebenfalls die Zeitschrift Krytyka Polityczna zuzurechnen – der auch der Autor des Textes angehört – die den Großteil der genannten Tätigkeitsfelder verbindet, in dem zu ihr noch ein Verlag, das Instytut Studiów Zaawansowanych (Institut für fortgeschrittene Studien), Kulturhäuser und ein Internetportal gehören.<Siehe das Gespräch von Grzegorz Sroczyński mit Sławomir Sierakowski in diesem Jahrbuch sowie auch Philip Goll und Stefanie Peter: In der Schönen Neuen Welt. In: Jahrbuch Polen 2011 Kultur, S. 88–102 (Anm. der Redaktion).>

In den vergangenen Jahren haben auch andere Initiativen an Kraft gewonnen: Mieterbewegungen, die sich aus der anarchistischen Bewegung entwickelt haben und Mieter vor Zwangsräumungen und der Ausbeutung durch Vermieter schützen; städtische Bewegungen, die sich für die Gestaltung des öffentlichen Raums und die Lebensqualität in Städten einsetzen (dabei bürgerlicher als die Mieterbewegungen sind) und gegen »wilde Reprivatisierungen« des während der Volksrepublik verstaatlichten Eigentums kämpfen;<Hier tut sich vor allem die Bewegung »Miasto Jest Nasze« hervor.> schließlich ökologische Bewegungen, die sich zuletzt gegen die Regierungspläne zu Abholzungen im kostbaren Białowieża-Urwald organisierten und sich potenziell gegen den geplanten Braunkohle-Tagebau in Großpolen wenden werden.<Siehe hierzu ausführlich das Jahrbuch Polen 2015 Umwelt.>

2016 war auch in Polen das Jahr riesiger Straßendemonstrationen, ebenfalls des linkspolitischen Spektrums. Das von liberalen und Mitte-Links-Kreisen gebildete Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji, KOD) organisierte Demonstrationen zur Verteidigung des Verfassungstribunals und der Rechtsstaatlichkeit, die wiederholt mehrere Zehntausend Menschen mobilisierten. Im Laufe des Oktobers 2016 versammelten die Partei Razem und fortschrittliche Initiativen in verschiedenen Städten mehrere tausend Demonstranten, um unter dem Schlagwort des »Schwarzen Protests« gegen die Pläne eines verschärften Abtreibungsgesetzes zu demonstrieren.

Die größten Herausforderungen

Viele Anhänger der Linken hatten erwartet, die PiS würde nach der Machtübernahme ihr Verhalten von vor 10 Jahren wiederholen, und die Rhetorik der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit würde einem neoliberalen Regierungsstil weichen, was der Linken eine leichte Angriffsfläche bieten würde. Es kam allerdings anders als erwartet, denn die PiS-Regierung initiierte eine der ambitioniertesten Familienpolitiken seit 1989. Das Programm ist zwar sehr kostspielig und ausschließlich auf ein traditionelles Familienmodell ausgelegt, dafür aber wird es sicherlich zum Umverteilungseffekt führen und die drückende Armut kinderreicher Familien lindern. Zudem vermittelt es vielen, bisher vom System ignorierten Menschen eine Art Wertschätzung. Dies bringt die Linke in die unbequeme Situation, in einen liberalen Diskurs gezwungen zu werden (»wir haben kein Geld dafür«), lediglich Details kritisieren zu können oder die sozialen Verdienste der PiS anerkennen zu müssen. Eine glaubwürdige alternative Sozialpolitik vorzustellen wird schwierig, sollte es unter der Regierung zu keiner bedeutenderen Wirtschaftskrise kommen. Zweitens lässt sich ein deutliches Anwachsen nationaler Stimmungen innerhalb der jungen Generation verzeichnen. Diese werden noch verstärkt durch die Bildungsprogramme der Regierung, durch die von ihr verfolgte »Geschichtspolitik«, stille Zustimmung zu xenophober Sprache, sogar Gewalt in der Öffentlichkeit und schließlich durch den »subkulturellen« Touch eines aggressiven Auftretens, das (paradoxerweise während einer rechtskonservativen Regierung) Nationalismus und ein exklusives Nationsverständnis mit der rebellischen Haltung der Jugend verbindet. Damit ist für die Linke der Zugang zu zumindest einem Teil der potenziellen Wählerschaft verbaut.

Drittens geht es um den notwendigen Kampf um liberale Regierungsprinzipien und die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit. Die Linke verteidigt diese Werte aus offensichtlichen Gründen, und die gesellschaftliche Kraft, die sich in den KOD-Demonstrationen äußert, stellt womöglich den Kern einer großen Wählerschaft dar. Ein Teil der linkspolitischen Bewegung – insbesondere die Partei Razem – betrachtet die Zusammenarbeit mit Vertretern des liberalen Establishments der Dritten Republik jedoch als unethisch und als Rufmord, da sie als »Rückkehr zur Normalität« und damit zum Status Quo vor den Wahlen gewertet werden könnte.

Dieses Dilemma aufzulösen ist die große intellektuelle Herausforderung, vor der die Linke steht. Wie kann die liberale Demokratie verteidigt und reformiert werden, ohne dabei die Identität der Linken und ihrer Postulate in einer gemeinsamen Front gegen die PiS zu verwässern?

Die größten Chancen

Mögliche Fehler und Fehltritte der PiS werden nicht ausreichen, um eine Neukonstituierung der Linken in Polen (nicht einmal einer liberalen Mitte) zu ermöglichen, da ebenfalls radikal nationalistische Kräfte rechts der PiS darauf warten, die politische Szene betreten zu können.

Die Linke muss ebenfalls Wähler außerhalb der bereits in die Verteidigung der liberalen Demokratie aktivierten Gruppen mobilisieren. Eine Gelegenheit dazu können die zu erwartenden (und bereits stattfindenden) sozialen Proteste sein. Ein gemeinsamer Nenner dieser Proteste könnte die Forderung nach einem »qualitativ hochwertigen Staat« sein, nach einem Staat für alle, der angemessene öffentliche Dienstleistungen zusichert und nicht übermäßig Einfluss auf persönliche Lebensentscheidungen des Einzelnen nimmt. Angesichts der aktuellen und der zu erwartenden Politik der PiS sollte die Linke eine ganze Reihe »natürlicher Verbündeter« finden: die sogenannte Mittelklasse des öffentlichen Sektors (Angestellte im Bildungs- und Gesundheitswesen), Bewegungen, die sich für eine höhere Lebensqualität einsetzen (Menschen, die sich gegen anachronistische und gefährliche Infrastrukturprojekte wie Flussregulierungen auflehnen, und städtische Bewegungen, die Kampagnen gegen Reprivatisierungen organisieren) und Gruppen, die direkt von den ideologischen Projekten der PiS bedroht werden (angefangen bei Frauen über sexuelle Minderheiten bis hin zu Eltern von Kindern an öffentlichen Schulen). Interessenüberschneidungen sollte es daneben mit allen Nutzern von EU-Finanzprogrammen geben (von Landwirten über Kommunalvertreter hin zu Unternehmern), mit Personen, die die Aussicht beunruhigt, Polen könnte EU-Mittel und die Arbeitsfreizügigkeit in das EU-Ausland verlieren, und schließlich auch mit einem Teil der meinungsbildenden Kreise – von Verfechtern der Meinungsfreiheit in Medien und Fürsprechern künstlerischer Freiheit hin zu den Juristen, die von der Beschränkung der juristischen Unabhängigkeit desillusioniert wurden.

Die belgische Philosophin Chantal Mouffe betrachtet als Fundament der Politik das Bauen von »Äquivalenzketten«, also von Koalitionen zwischen vermeintlich verschiedenen Gruppen, die auf den ersten Blick unterschiedliche Interessen vertreten. Für die polnische Linke können dies die von den Reformen der PiS enttäuschten Arbeiter, die Verteidiger von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten, aber auch Gegner jeglicher Diskriminierung sein. Vor allem aber sind dies die Menschen, die befürchten, die PiS würde Polen aus dem Zentrum Europas herausführen.

Derart verschiedene Werte, Haltungen, Erwartungen und Ängste miteinander in Einklang zu bringen ist ebenso schwierig wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Zweifellos würde jedoch ein Aufgeben der Suche den kürzesten Weg bedeuten, die endgültige Niederlage einzuläuten.

Übersetzung aus dem Polnischen: Maria Albers

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