Der nationalkonservativen, von der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) geführten Regierung gelang es, durch ein, auf Druck der EU nur notdürftig entschärftes, Gesetz das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) als wichtigste juristische Kontrollinstanz im Land weitgehend auszuschalten. Auch die Nationale Hochschule für Gerichtsbarkeit und Staatsanwaltschaft (Krajowa Szkoła Sądownictwa i Prokuratury), eine bedeutende juristische Aus- und Fortbildungseinrichtung in Lublin, geriet stark in ihren Einflussbereich. Außerdem verabschiedete die PiS-Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand der Opposition die äußerst restriktive Novellierung des Gesetzes über die allgemeinen Gerichte, die anschließend von Präsident Andrzej Duda unterzeichnet wurde. Noch offen ist die Zukunft der ebenfalls im Parlament verabschiedeten Gesetze über das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy) und den Landesgerichtsrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS), denn in beiden Fällen hat Duda sein Veto eingelegt. Mit den großen Demonstrationen im Juli hat die außerparlamentarische Opposition neue Stärke bewiesen, ohne dass zu einem langfristigen Erfolg Aussagen gemacht werden können.
Die Umgestaltung des Gerichtswesens als politische Säuberung
Gleich nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die allgemeinen Gerichte am 12. August begann dessen Umsetzung. Schon in den Wochen zuvor waren im Justizressort Dossiers über Gerichtspräsidenten ausgearbeitet worden, die in die Kritik von Justizminister Zbigniew Ziobro geraten waren. Durch die Novellierung hat der Minister nun das Recht, alle Gerichtspräsidenten und deren Stellvertreter sowie die Vorsitzenden der Kammern abzuberufen und durch Personen eigener Wahl zu ersetzen. Bis Ende 2017 muss er in solchen Fällen keinerlei Begründung abgeben. Bislang waren diese Ämter aufgrund von Vorschlägen der richterlichen Selbstverwaltung durch den Minister besetzt worden.
Ohne Zweifel ist die Reformbedürftigkeit des allgemeinen Gerichtswesens in Polen groß. Zu nennen wären der bürokratische und damit äußerst langwierige Ablauf der Verfahren, die Überlastung der Richter wegen fehlender Assistenten und Assessoren, die mangelnde Zuarbeit von Spezialisten wie beispielsweise Toxikologen oder Waffenexperten, die Schwächen der Ausbildung von Juristen und die fehlenden kriminalistischen, psychologischen und soziologischen Kenntnisse der Richter und infolge dessen die vergleichsweise hohe Zahl von Fehlurteilen. Entsprechend kritisch fällt die Bewertung des Gerichtswesens durch viele Bürger aus. Die Initiatoren der Gesetzesnovelle um Minister Ziobro haben zwar wiederholt auf diese Kritik hingewiesen, doch wurden zahlreiche Vorschläge, die renommierte polnische Juristen seit Jahren machen, nicht berücksichtigt. So steht der berechtigte Vorwurf im Raum, bei der Umgestaltung des Gerichtswesens handele es sich um eine politisch bedingte Säuberung entsprechend den ideologischen, politischen und moralischen Grundsätzen der regierenden PiS und um die Unterordnung der Justiz als dritter Staatsgewalt unter die von PiS dominierte Exekutive.
Die Gesetzgebungsmaschinerie der PiS geriet allerdings vorläufig ins Stocken, als Präsident Duda am 24. Juli überraschend mitteilte, er habe sein Veto gegen die Gesetze über das Oberste Gericht und den KRS eingelegt. Die Regierung und die meisten Abgeordneten der PiS gerieten deswegen in Panik; Parteichef Jarosław Kaczyński sprach öffentlich von einem großen Fehler. Einige Tage später veröffentlichte die Zeitung Rzeczpospolita eine Umfrage, wonach 78 Prozent der Befragten Dudas Vorgehen begrüßten.
Der Präsident begründete seine Entscheidung im Wesentlichen mit drei Argumenten:
Die Richter des KRS sollten nicht, wie im Gesetz vorgesehen, mit einfacher Mehrheit, sondern mit Dreifünftelmehrheit vom Parlament gewählt werden.Angesichts der Tatsache, dass der Justizminister gleichzeitig auch Generalstaatsanwalt ist, würden die Gesetze in der vorliegenden Form dem Minister zu große Kompetenzen einräumen.Solche Gesetze dürften nicht zu einer Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft führen, was aber beim bisherigen Gesetzgebungsprozess zu beobachten gewesen sei.
Duda kündigte an, innerhalb von zwei Monaten eigene Gesetzesentwürfe für das Oberste Gericht und den KRS vorzulegen.
Die Kritik renommierter polnischer Juristen an den vom Sejm und vom Senat verabschiedeten Gesetzen geht allerdings noch weit über die des Präsidenten hinaus: Demnach würden beide Gesetze explizit gegen die geltende Verfassung verstoßen. Wurde der KRS bislang von der richterlichen Selbstverwaltung bzw. einer Richterversammlung gewählt, so soll dies künftig im Parlament geschehen, das von der PiS-Mehrheit kontrolliert wird. Die von der Verfassung postulierte Unabhängigkeit der Justiz wird damit eklatant verletzt. Das neue Gesetz räumt dem Parlament zudem das Recht ein, Mitglieder des KRS auf Antrag des Justizministers jederzeit vorzeitig abzuberufen.
Das Gesetz über das Oberste Gericht sieht vor, dieses in der gegenwärtigen Zusammensetzung aufzulösen und die neuen Mitglieder vom KRS – in der dann bereits vom Parlament bestimmten Zusammensetzung – wählen zu lassen. Außerdem soll beim Obersten Gericht eine Disziplinarkammer unter starkem Einfluss des Justizministers eingerichtet werden, so dass dieser ein Kontrollinstrument gegenüber den Richtern aller Gerichte in Polen erhält. Auch das ist ein schwerer Verstoß gegen die von der Verfassung geforderte Unabhängigkeit der Justiz. Bezeichnend für das parlamentarische Vorgehen der PiS-Mehrheit im Sejm und im Senat war, dass sie über 1.300 Änderungsanträge der Oppositionsparteien zu den beiden Gesetzen ohne eingehende Beratung abgelehnt hat.
Präsident Duda dürfte eine ganze Reihe von Gründen veranlasst haben, sein Veto gegen die beiden Gesetze einzulegen. Erstens protestierte er damit gegen das fortgesetzte und systematische Bemühen seiner Partei PiS (der er zwar nicht mehr angehört, aber zu deren Lager er sich zählt) und deren Regierung, ihn als willenloses Instrument ihrer Politik zu behandeln. Nicht nur von der Opposition, sondern auch von PiS-Abgeordneten wurde Duda als jemand verhöhnt, der alles, was man ihm vorlegt, widerstandslos unterschreibt. Ein weiterer Grund war, dass er als Jurist erkannte, dass die Gesetze fachlich zum Teil sehr schlecht erarbeitet worden waren und eindeutig gegen die Verfassung verstoßen. Beide Beweggründe sind also auch ein Hinweis darauf, dass Duda sein Veto auch als Demonstration gegen Justizminister Zbigniew Ziobro betrachtet, der allgemein als spiritus rector der gesamten Justiz»reform« der PiS angesehen wird. Die innerparteilichen Reaktionen ließen außerdem erkennen, dass es in der Parlamentsfraktion der PiS eine Gruppe von zirka 30 Abgeordneten gibt, die mit dem Vorgehen des Präsidenten sympathisieren.
Zweifellos hat auch der starke Widerstand juristischer Vereinigungen und Milieus gegen beide Gesetze Dudas Entscheidung beeinflusst. Zu denen, die protestierten, zählen renommierte Wissenschaftler, ehemalige Mitglieder des Verfassungstribunals und des Obersten Gerichts, Staatsanwälte sowie führende Rechtsanwälte. Auch bei Industrie- und Unternehmerverbänden wurde Unmut über die beiden Gesetze laut. Des Weiteren haben die anhaltenden massenhaften Proteste vor allem junger Menschen den Staatspräsidenten nicht unbeeindruckt gelassen. Duda spürte, dass die massive Hetze von PiS-Funktionären und -Abgeordneten gegen die Demonstranten die Spaltung in der Gesellschaft vertieft. Diese Sorge hatte kurz zuvor auch die katholischen Bischöfe bewogen, in einem Hirtenbrief zum Thema Nationalismus und Patriotismus Stellung zu nehmen. Hinzu kam der ausländische Druck vonseiten der Europäischen Kommission und der Vereinigten Staaten.
Dessen ungeachtet hat die Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydło angekündigt, an den beiden Gesetzen festhalten zu wollen. Um diese in der vorliegenden Form gegen das Veto des Präsidenten durchzubringen, ist jedoch eine Dreifünftelmehrheit im Parlament notwendig, über die die PiS bislang nicht verfügt. Ihre Parlamentarier sind deshalb intensiv damit beschäftigt, Abgeordnete aus anderen Fraktionen abzuwerben.
Wie unabhängig ist der Präsident?
Ist Präsident Andrzej Duda inzwischen »ein selbständig Handelnder in der polnischen Politik«, wie das Wochenmagazin Polityka suggerierte, oder lässt sich das bislang so eindeutig doch noch nicht feststellen? Auf jeden Fall ist die Bilanz seiner Tätigkeit seit seinem Amtsantritt im Jahr 2015 ambivalent. Wiederholt erwies er sich als treuer Verbündeter der PiS und ihres Vorsitzenden Jarosław Kaczyński. So hat er mehrfach gegen die Verfassung verstoßen, beispielsweise mit der Begnadigung des Geheimdienstkoordinators Mariusz Kamiński vor Beendigung des juristischen Verfahrens. Das höchst umstrittene Gesetz über die allgemeinen Gerichte hat er unterzeichnet, die Entmachtung des Verfassungstribunals stieß auf keinerlei ernsthaften Widerstand von seiner Seite. Auch die nationalistische Geschichtspolitik der PiS wird von ihm mitgetragen.
Es gibt jedoch zunehmend Anzeichen, dass Duda mehr Selbständigkeit gegenüber der PiS anstrebt. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte scheut er inzwischen keineswegs den Konflikt mit Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, der selbstherrlich meint, das Militär nach seinen radikalen Vorstellungen umbauen zu können. Dudas Antwort lautete, die polnische Armee sei »keine geschlossene Privatarmee«, sondern eine Institution, an deren Reform »gemeinsam gearbeitet« werden müsse. Auch lehnte der Präsident die Nominierung von Generälen ab, die vom Verteidigungsministerium vorgeschlagen worden waren. Seine Kanzleichefin Małgorzata Sadurska, der große Nähe zur PiS-Parteizentrale nachgesagt wird, ersetzte Duda durch eine Person seines Vertrauens. Seinen Vertrauten Krzysztof Szczerski, bisher Staatssekretär in der Präsidialkanzlei, ernannte er zum Kabinettschef.
Offen ist allerdings, wie weit Andrzej Duda gehen wird, sieht er sich doch nach eigenem Bekunden immer noch als Teil der »Reformbewegung«, die mit dem Machtantritt der PiS im Jahr 2015 in Gang gekommen sei. Einige politische Kommentatoren haben in den polnischen Medien bereits die Vermutung angestellt, er wolle sich mit Blick auf die Präsidentenwahl im Jahr 2020 eine eigene politische Basis aufbauen – vielleicht sogar in Form einer Partei. Der Politologe Marek Migalski hat ihn sogar direkt zu einem solchen Schritt aufgefordert. Zumindest hat unter einflussreichen Kommentatoren konservativer Medien, die bislang ziemlich bedingungslos aufseiten der PiS standen, ein Nachdenken darüber eingesetzt, ob Polen nicht eine konservative, demokratisch-republikanische Partei brauche, die weniger radikal und polarisierend als PiS auftreten sollte – sei es durch eine Veränderung der PiS oder den Aufbau einer Partei im Umkreis des Präsidenten, etwa nach dem Vorbild westlicher konservativer Parteien. Im Gegenzug wird Duda von radikalen, der PiS vollkommen ergebenen Medien heftig angegriffen und mit haltlosen Verdächtigungen denunziert. Justizminister Ziobro hat den Präsidenten in mehreren Interviews scharf kritisiert.
Noch ist Jarosław Kaczyński als Parteivorsitzender der Patron, der sich bemüht, PiS mit eiserner Hand zusammenzuhalten. Sichtbar ist aber ebenso, dass Dudas selbständigeres Auftreten die Reihen der Partei etwas in Unordnung gebracht hat. Diadochenkämpfe, die perspektivisch auf ein Abtreten Kaczyńskis von der politischen Bühne hindeuten, setzen ein. Auch zeigt sich, dass ein Teil der PiS-Wähler des Jahres 2015 auf Dudas Seite steht, wobei die Analysen der Wahlforscher differieren. Eine gewandelte PiS oder eine neue konservative Partei könnte außerdem für Wähler interessant werden, die bisher der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) ihre Stimme gegeben haben.
Kaczyński und seine PiS werden bei ihren politischen Vorhaben und konkreten Schritten in Zukunft stärker mit der Präsenz des Präsidenten und möglichen Widerständen seinerseits rechnen müssen. Duda und seine Kanzlei werden vor allem bestimmten Ministern genauer auf die Finger schauen, zum Beispiel bei Gesetzesentwürfen, Umstrukturierungen und der Nutzung von Mitteln aus dem Staatshaushalt. Regierungsentscheidungen dürften auch in der Präsidialkanzlei intensiver vorbesprochen werden.
Für PiS entscheidend: der Durchgriff der Exekutive
Gerade das Vorgehen der PiS, d. h. ihrer Regierung und ihrer Abgeordneten, auf dem Gebiet der Justiz hat ihre grundlegenden Auffassungen von Staat und Politik in aller Deutlichkeit hervortreten lassen. Freimütig interpretieren Jarosław Kaczyński und seine nationalkonservativen Mitstreiter ihre Wahlsiege von 2015 als Auftrag der gesamten polnischen Nation, einen starken, zentralisierten Staat mit autoritären Zügen aufzubauen, einen systematischen Elitenwechsel durchzuführen und eine »moralische Wende« in Staat und Gesellschaft zu vollziehen, – den »guten Wandel« (dobra zmiana), wie sie es nennen. Das seit der Transformation von 1989 geschaffene, in ihren Augen »liberale und von internationalen Einflüssen zerstörte System« soll fundamental erneuert und durch ein »nationales« ersetzt werden, das sich an »traditionellen Werten« orientiert und ein Bekenntnis zu den historischen Errungenschaften der Polen beinhaltet – so wie sie von den Nationalkonservativen interpretiert werden. Da ihr Denken fast ausschließlich um Begriffe wie Nation, Nationalstaat und Souveränität kreist, bringen sie jeder Normensetzung durch das Völkerrecht ebenso wie allen übernationalen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Organisationen wie etwa der Europäischen Union erhebliches Misstrauen entgegen.
Die verfassungsrechtlichen und staatspolitischen Auffassungen der PiS spiegeln sich insbesondere in ihrem Umgang mit der Verfassung, dem Rechtsstaat und wichtigen Institutionen wider. Für die Dreiteilung der Staatsgewalt und das damit verbundene Prinzip der checks and balances haben die Nationalkonservativen wenig Sympathie; ihrer Auffassung nach muss die Exekutive der Legislative und der Judikative »die Richtung vorgeben«. Den Präsidenten, der laut Verfassung mit vergleichsweise weitreichenden Kompetenzen ausgestattet ist, sehen sie in erster Linie als Erfüllungsgehilfen; Parlamentarismus ist für sie ein notwendiges Übel. Seit ihrem Amtsantritt im November 2015 besteht die gängige Praxis der Regierung von Beata Szydło und der PiS-Abgeordneten darin, Gesetzesentwürfe nicht vorzustellen, um sie mit Experten sowie mit Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft zu beraten, sondern sie in nächtlichen Sitzungen des Parlaments »durchzupeitschen«.
Kaczyński und seine Mitstreiter betrachten jedwede gesellschaftliche Initiative und Tätigkeit, die nicht von ihnen gesteuert und inhaltlich beeinflusst wird, mit großem Misstrauen. Nach dem Vorbild des Kreml nehmen sie Nichtregierungsorganisationen ins Visier – insbesondere dann, wenn sie auch Zuwendungen aus dem Ausland erhalten. Was charakterisiert die Denkweise der Nationalkonservativen besser als die Forderung von Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, alle Stiftungen sollten von den Geheimdiensten überprüft werden. Im Gegenzug nutzen rechtsradikale Organisationen wie das National-Radikale Lager (Obóz Narodowo-Radykalny – ONR) das von PiS geschaffene »nationale Klima«, um verstärkt in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Elitenwechsel bedeutet für Kazyński die Entfernung aller postkommunistischen Kader, die noch im alten System Karriere gemacht haben, aus Politik, Justiz, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach Beginn der Transformation übertreibt er deren verbliebene Zahl und ihren Einfluss extrem. Tatsächlich geht es darum, die eigenen PiS-Funktionäre an den Schaltstellen zu platzieren, unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation. Inzwischen hat eine große Säuberungswelle den polnischen Beamtenapparat sowie den diplomatischen Dienst und das Militär erfasst.
Ein weiteres Ziel des nationalkonservativen Kontrollbedürfnisses sind die Medien, Bildung und Erziehung, kulturelle Einrichtungen sowie alle Institutionen, die sich mit Geschichtspolitik und kollektiver, historischer Erinnerung befassen. Insbesondere die Medien werden propagandistisch genutzt, um die Politik und die Weltanschauung der PiS zu verbreiten. Mehrere Gesetze dienten bereits dazu, den Landesrundfunkrat (Krajowa Rada Radiofonii i Telewizji – KRRiT) als Kontrollinstanz zu entmachten, die Vorstands- und Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (Radio und Fernsehen) auszutauschen und diese Medien in »staatliche Rechtspersonen« umzuwandeln, die »eine Mission erfüllen«, wie sich Kulturminister Piotr Gliński ausdrückte. Seither ist die abendliche Hauptnachrichtensendung des TVP 1, Wiadomości, nur noch eine reines Propagandainstrument der PiS-Regierung, die – mit umgekehrtem Vorzeichen – an die Propaganda der kommunistischen Epoche erinnert. Noch gibt es Medien im elektronischen und im Printformat, die ein Gegengewicht zu den Bestrebungen der Nationalkonservativen bilden. Im Kulturministerium existieren Pläne, die darauf hinauslaufen, den Umfang ausländischer Anteile an den Medien stark zu begrenzen. Wie es heißt, soll dieser Anteil in Zukunft maximal 15 bis 20 Prozent betragen. Im Fokus dieser Bestrebungen stehen die Publikationen der Mediengruppe Polska Press, deutsche Anteile an polnischen Regionalzeitungen und auch der Fernsehsender TVN.
Ein Herzstück der nationalkonservativen Kulturpolitik ist die Geschichtspolitik. Ihr Ziel ist die Stärkung einer auf Märtyrertum und Heroismus beruhenden nationalen Identität und nicht die Förderung eines Geschichtsbewusstseins, das den Stolz auf historische Leistungen mit der kritischen Reflexion von Schwächen und Fehlleistungen verbindet. Zur Verwirklichung dieser Geschichtspolitik werden enorme Mittel aus dem Staatshaushalt eingesetzt, um kulturelle Einrichtungen wie Museen, die Produktion von Kinofilmen wie Smoleńsk und Wołyń, die Herausgabe von Büchern, das Auftreten polnischer Kulturschaffender im Ausland und die Gestaltung des Schulunterrichts zu fördern. Bücher genehmer Autoren finden sich landesweit in fast allen Zweigstellen der staatlichen Polnischen Post, renommierte Autoren wie Czesław Miłosz (Literaturnobelpreisträger des Jahres 1980) werden aus dem Schulkanon verbannt.
Vor dem Hintergrund ihrer nationalistisch-autoritären Staatskonzeption ist es nicht weiter verwunderlich, dass die PiS Außenpolitik bzw. die Gestaltung bilateraler und internationaler Beziehungen verstärkt als Element der Innenpolitik versteht, als Mittel, die eigenen Wähler und weitere Gesellschaftsschichten an die eigene Partei zu binden. Das zeigt sich am Auftreten der Regierung in Sachen Europäischer Union, das sehr stark vom Impetus der »Verteidigung polnischer Interessen gegenüber der ungerechtfertigten und arroganten Einmischung der EU-Kommission« bestimmt wird, auch wenn sich die Kommission zu Recht auf EU-Recht beruft, das auch von Polen sanktioniert worden ist. Das zeigt sich auch bei der in den letzten Wochen sehr stark forcierten antideutschen Rhetorik, die von der Regierung, dem Fernsehsender TVP und den nationalkonservativ dominierten Medien koordiniert vorgetragen wird.
Kaczyńskis »Dezisionismus«
Das politische Denken von Jarosław Kaczyński und seiner Partei PiS basiert auf der Überzeugung, dass nicht eine primär politisch bzw. staatsbürgerlich definierte Gesamtheit, ein Demos, also das gesamte Volk eines Staates oder die Summe seiner Bürger, der Souverän ist, sondern die Nation. In diesem Narrativ verfügt die Nation über eine stark ausgeprägte, Gemeinschaft stiftende Identität: Die Nation ist eine Gruppe von Menschen, die sich durch eine gemeinsame Geschichte bzw. gemeinsame historische Auffassungen auszeichnet, durch gemeinsame Werte (insbesondere christliche in Gestalt des polnischen Katholizismus) sowie gemeinsame Vorstellungen, wie man als Gemeinschaft leben will und soll. Dabei bilden Weltanschauung, Lebensstil sowie das kollektive und kulturelle Gedächtnis eine Einheit. Infolge dessen sind Andersgläubige, Atheisten, Agnostiker, homosexuelle Bürger oder auch Demonstranten, die gegen die PiS-Regierung protestieren, nicht Teil dieser nationalen Gemeinschaft, sondern »Polen minderer Sorte«, wie PiS-Funktionäre immer wieder durchblicken lassen. Der polnische Hochschullehrer und Publizist Aleksander Hall schreibt in seinem Buch »Zła zmiana« (wörtlich: Der schlechte Wandel): »Es scheint, dass die Ansichten des Vorsitzenden der PiS dem nahekommen, was vor Jahrzehnten Carl Schmitt (der höchst umstrittene deutsche Staatsrechtslehrer der ausgehenden Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus – R.V.) schrieb, der Schöpfer der Doktrin des sogenannten ›Dezisionismus‹, der den Vorrang politischer Entscheidungen vor rechtlichen Normen in einer Ausnahmesituation des Staates hervorhob.«
Die polnischen Nationalkonservativen beanspruchen zwar für sich, die ganze Nation bzw. das ganze Volk zu vertreten, tatsächlich aber betreiben sie deren Spaltung. Dabei werden unterschiedliche Wertvorstellungen, differierende Meinungen und sogar die Verschiedenheit der Lebensentwürfe und Handlungsmuster künstlich überhöht und quasi zu Bürgerkriegsfronten erklärt. Für Kaczyński und seine Mitstreiter ist die verbale Attacke auf den politischen Gegner wichtiger als die politische Diskussion, ganz zu schweigen von der Diskussionskultur. Treten sie gegen Liberalkonservative, Liberale und Linke auf, dann tun sie das mit religiöser Inbrunst, die jegliche Rationalität vermissen lässt. Das Ergebnis ist eine Vertiefung der Spaltungen in der Gesellschaft, die oft sogar soziale Beziehungen zerstört.
Die Stärken und Schwächen der (außerparlamentarischen) Opposition
Das Vorgehen der PiS und ihrer Regierung auf dem Gebiet der Justiz hat den größten gesellschaftlichen und politischen Widerstand seit dem Amtsantritt der Nationalkonservativen im Jahr 2015 hervorgerufen. Dabei waren die Demonstrationen und Versammlungen im Juli dieses Jahres keinesfalls die ersten Proteste dieser Art. So hatte schon der Versuch der Regierung im vergangenen Jahr, eine Gesetzesnovelle zur weiteren Verschärfung des Abtreibungsgesetzes durch das Parlament zu bringen, enormen Widerstand ausgelöst. Über einhunderttausend Menschen, vor allem Frauen, waren schwarz gekleidet auf die Straße gegangen, um für das Recht auf Abtreibung zu demonstrieren. Sie erreichten, dass die Novelle vorerst zurückgezogen wurde. Erfolgreichen Widerstand in Form von Demonstrationen, Petitionen und Volksbefragungen gab es auch gegen die von PiS favorisierte Eingemeindung umliegender Ortschaften in den Großraum Warschau sowie gegen die von der Regierung beabsichtigte Erhöhung der Benzinsteuer. Weniger erfolgreich war der Widerstand gegen die massenhaften Abholzungen von Wäldern im nordostpolnischen Białowieża-Naturschutzgebiet.
Doch der Protest im Sommer dieses Jahres übertraf alle derartigen Aktionen der letzten zwei Jahre. Eine Woche lang gingen vor allem junge Leute auf die Straße, um Widerstand gegen die Justiz»reform« der PiS zu zeigen. Am Wochenende des 22./23. Juli kam es zu Protestaktionen in nahezu 200 größeren, mittleren und kleinen Städten und Gemeinden in ganz Polen. Vor dem Präsidentenpalais, dem Pałac Namiestnikowski, in Warschau versammelten sich zirka 50.000 Menschen und forderten Präsident Duda auf, sein Veto gegen die drei genannten Gesetze einzulegen. Bei den Kundgebungen erwiesen sich oft junge Leute, die zuvor nie in dieser Weise aufgetreten waren, als mitreißende RednerInnen.
Oft waren die Versammlungen, die von neuen Gruppen organisiert wurden, viel einfallsreicher und lebendiger als jene Aktionen, bei denen die Führer der parlamentarischen Oppositionsparteien auftraten. Zu den außerparlamentarischen Gruppierungen zählen unter anderem die Partei Gemeinsam (Razem), Bürger.pl (Obywatele.pl), Demokratie der Arbeitenden (Pracownicza Demokracja), Inicjatywa Polska (Initiative Polen), Grüne Partei (Partia Zielona), Mädels für Mädels (Dziewuchy Dziewuchom), Feministische Initiative (Inicjatywa Feministyczna), Aktion Demokratie (Akcja Demokracja) und Jugend 2017 (Młodzi 2017). Überwiegend handelt es sich um Gruppierungen, die sich nicht als Parteien, sondern als basisdemokratische Elemente der Zivilgesellschaft verstehen. Dabei stimmt es nur teilweise, wenn polnische Soziologen wie Tomasz Szlendak behaupteten, die Juliproteste seien ein »Aufstand der Klassen« gewesen, womit vor allem die junge städtische Intelligenz gemeint war. In der Tat war diese der Hauptträger des Widerstands, aber vielfach mischten sich auch junge Arbeiter und Bauern, Krankenschwestern, städtische Bedienstete sowie Handwerker und kleine Unternehmer unter die Protestierenden. Auch wenn besonders die von PiS kontrollierten Medien ein anderes Bild präsentierten, bestimmten die von den außerparlamentarischen Gruppierungen initiierten Aktionen stärker als die Auftritte der parlamentarischen Oppositionspolitiker das Bild der Proteste.
Inhaltlich werden zwei Tendenzen in der außerparlamentarischen Protestbewegung sichtbar. Zum einen finden sich darin liberaldemokratische Auffassungen, die geprägt sind vom Wunsch nach Einhaltung der Verfassung, nach Gewährung von Rechten und Freiheiten sowie nach einer Justiz, die rechtsstaatlich funktioniert und nicht politisch instrumentalisiert wird. Der Politikwissenschaftler Aleksander Smolar prägte deshalb die Begriffe »Verfassungsbewegung« und »Verfassungsgeneration«.
Zum anderen zeigen sich linksliberale und dezidiert linke Auffassungen, wenn es um ökonomische und soziale Probleme geht. Viele Mitglieder und Anhänger der Protestbewegung empfinden die gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sie die Parteien Bürgerplattform und Die Moderne (Nowoczesna) als größte parlamentarische Oppositionsparteien sehr kritisch sehen bzw. eine Kooperation mit ihnen weitgehend ablehnen.
Glaubt man den Umfragen, dann kommen diese Parteien auf Werte zwischen 20 und 23 Prozent (Bürgerplattform) bzw. neun Prozent (Nowoczesna). Selbst wenn sie ein Bündnis eingingen, wären sie allein noch keine entscheidende Kraft gegen die regierende PiS, die in den Umfragen mitunter sogar auf 40 Prozent kommt. Die Bewegung Kukiz ‘15 spielt mal den Partner, mal den Gegner der PiS, ist also unberechenbar, und die eigenbrötlerische Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) und die postkommunistische, von der Protestbewegung ebenfalls nicht geschätzte Partei Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) bewegen sich um fünf Prozent.
Vor diesem Hintergrund haben der Politologe Aleksander Smolar und der Journalist Jacek Żakowski zwei interessante Vorschläge zur weiteren politischen Entwicklung in Polen gemacht. Kurzfristig, so Smolar, gehe es um die taktische Frage, wie der im Juli sichtbar gewordene Widerstand aufrechterhalten werden kann, und langfristig brauche die gesamte Opposition eine Strategie, wie sie das Vertrauen der Mehrheit der Gesellschaft erwerben kann. Konkret plädierte er für die Durchführung eines »Kongresses der polnischen Demokratie«, bei dem Vertreter der parlamentarischen und der außerparlamentarischen Opposition über ein mögliches Bündnis sowie die politischen und ökonomischen Inhalte einer solchen Kooperation beraten sollten. Gegenstand eines solchen Kongresses, so Smolar, müsse auch die kritische Bewertung der Entwicklung Polens seit 1989 seitens aller politischen Kräfte sein. Żakowski erklärte, dass es nur dann eine Chance gebe, PiS von der Macht zu verdrängen, wenn »Anti-PiS«, also Bürgerplattform plus Die Moderne, mit »Nein-PiS«, also der außerparlamentarischen Opposition, ein organisatorisches und inhaltliches Bündnis eingingen. Dies aber, so Żakowski, erfordere insbesondere die Selbstkritik der Bürgerplattform im Hinblick auf ihre Regierungszeit von 2007 bis 2015 unter Ministerpräsident Donald Tusk.
Ausblick
Der politische Herbst in Polen dürfte »heiß« werden. Die Öffentlichkeit des Landes wartet vor allem auf die Gegenentwürfe von Präsident Duda zu den Gesetzen über das Oberste Gericht und den Landesgerichtsrat. Damit wird dann auch die Diskussion über die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen Duda und der regierenden Partei PiS neue Nahrung erhalten. Die Debatte über die polnische Verfassung wird anhalten, da der Präsident bereits ein Referendum dazu angekündigt hat. Vermutlich werden auch die Pläne der Regierung zur Neuordnung der Besitzverhältnisse im Bereich der Medien konkrete Gestalt annehmen. Zudem stellt sich die Frage, wie sich das innere Machtgefüge der PiS entwickeln wird. Bleibt es dabei, dass eine mögliche Ablösung von Ministerpräsidentin Szydło durch Parteichef Kaczyński nur ein Gerücht ist, oder wird sie tatsächlich realisiert werden? Kann Kaczyński die verschiedenen Strömungen in der Partei weiterhin dirigieren und die Einheit der PiS bewahren? In den europäischen Hauptstädten wiederum fragt man sich, ob die Anti-EU- und antideutsche Propaganda der PiS weiter eskalieren wird. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Polen ihr Land weiterhin in der EU sehen möchte. Die gesamte polnische Opposition, die parlamentarische wie die außerparlamentarische, steht vor der Aufgabe, organisatorisch und inhaltlich zu gemeinsamem Handeln zu kommen, will sie die Chance wahren, die PiS-Regierung bei der nächsten Wahl abzulösen. Immerhin wird schon öffentlich diskutiert, was »nach PiS« am rechtlichen, politischen und wirtschaftlich-sozialen System Polens alles »repariert werden« müsse und wie lange das dauern könnte.