Polen in der Europäischen Union: Konflikte und falsche Ansätze

Von Piotr Buras (European Council on Foreign Relations, Warschau)

Zusammenfassung
Nach zwei Jahren Regierungstätigkeit von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) befinden sich die Beziehungen zwischen Polen und den Institutionen der Europäischen Union und ihren wichtigsten Mitgliedsstaaten in einer tiefen Krise. Obgleich sich die Unterstützung für die Mitgliedschaft Polens in der EU weiter auf einem sehr hohen Niveau hält (über 80 Prozent), fällt in der öffentlichen Debatte immer häufiger das Schlagwort »Polexit« – wenn auch bisher nur als Warnung vor den verheerenden Folgen der Auseinandersetzungen zwischen Polen und der EU. Ein Austritt Polens aus der EU nach britischem Muster ist nicht das Ziel der regierenden Partei und würde sicherlich nicht auf die Zustimmung der Bevölkerung stoßen. In der sich verändernden EU, deren wichtigste Parameter demnächst ein elastisches Integrationsmodell und (nach dem »Brexit«) die Dominanz der Eurozone werden, kann allerdings der aktuelle Kurs Warschaus weitreichende Folgen nach sich ziehen.

Wenn der »Polexit« heute auch kein realistisches Szenario ist, so erscheint der »Auszug der EU aus Polen« immer wahrscheinlicher. Nicht etwa deshalb, weil der Europäische Rat gemäß Artikel 7 erwägt, Polen das Stimmrecht zu entziehen oder seine Mitgliedschaft aufzuheben (Letzteres ist allerdings gar nicht möglich), sondern weil sich in Zukunft die »echte« EU, in der die strengen Prinzipien der Solidarität, der Finanztransfers und des politischen Einflusses gelten, auf die Bereiche der Zusammenarbeit konzentrieren wird, an denen Warschau nicht teilnehmen will: die Eurozone, die Verteidigungspolitik, die Zusammenarbeit im Bereich der Migration und in sozialen Fragen. Die Mitgliedschaft im gemeinsamen Markt, die für die PiS-Regierung der einzige vollständig unterstützenswerte Bereich in der EU ist, wird nicht ausreichen, um die Vorteile der europäischen Integration in Gänze auszuschöpfen.

Der Konflikt Polens mit der Europäischen Union, präziser gesagt: mit EU-Institutionen und EU-Mitgliedsstaaten, hat drei Dimensionen. Erstens: Auf strategischer Ebene ist er eine Folge der fortschreitenden Ent-Europäisierung der polnischen Politik. Das heißt, die Überzeugung lässt nach, dass die Nachahmung des westeuropäischen Entwicklungsmodells und Wertesystems sowie das Streben nach möglichst tiefer Verankerung Polens in den EU-Strukturen ein Synonym für die polnische Staatsräson ist. Die Ent-Europäisierung ist das Ergebnis der Überzeugung der PiS-Regierung, dass die polnische Politik in der EU einer grundsätzlichen Korrektur zugunsten größerer Selbständigkeit und größeren Durchsetzungsvermögens bedarf. Die Europäische Union solle ihre Integrationsambitionen beschränken und eine »Union souveräner Staaten« werden; des Weiteren sei das westliche Gesellschaftsmodell kein attraktives Vorbild. Zweitens: Polen befindet sich in einem Rechtskonflikt mit der EU, sowohl in Bezug auf die Frage der Rechtsstaatlichkeit als auch in einigen anderen politisch wichtigen Bereichen. Drittens: Deutlich ist die fortschreitende Disharmonie zwischen polnischen Interessen bzw. der Art und Weise der Regierung, diese zu definieren, und der Richtung, in die sich die EU in einigen wesentlichen Politikbereichen entwickelt.

Ent-Europäisierung und fehlerhafte Ansätze

Die Folgen der veränderten Einstellung gegenüber Europa als solchem werden in den Beziehungen zu Deutschland besonders deutlich, denn der frühere Kurs der »Europäisierung« war untrennbar damit verbunden, »auf Deutschland zu setzen«. Der Slogan »Der Weg nach Europa führt über Deutschland« war so selbstverständlich, wie er den Horizont der Bestrebungen der Vorgängerregierungen in der Europapolitik umriss. Diese gingen vor und insbesondere nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 davon aus, dass der Platz im Mainstream der Integration neben Deutschland und Frankreich nicht nur die beste Weise ist, die polnischen Interessen umzusetzen, sondern auch ein Ziel an sich. Dafür schienen Aspekte der Sicherheit und die Ambitionen, eine Führungsrolle in der EU einzunehmen, zu sprechen. Dort, wo es möglich war, suchte Polen Möglichkeiten der Verständigung mit den großen Akteuren und versuchte häufig, seine objektiv schwächere Position mit politischen Gesten und Erklärungen auszugleichen. Diese Art von Politik wurde von der PiS als zu unterwürfig, insbesondere Berlin gegenüber, in Frage gestellt. Dementsprechend wurde das Bestreben, dem Mainstream anzugehören, durch die Forderung ersetzt, die nationalen Interessen stärker zu betonen, sogar um den Preis wachsender Spannungen und offener Konflikte mit anderen Ländern. Von wesentlicher Bedeutung ist auch das Bewusstsein der wirtschaftlichen Asymmetrie zwischen Polen und Deutschland und bestimmter negativer Konsequenzen der Abhängigkeit Polens vom deutschen Markt. Die Wahl Deutschlands als Hauptverbündeten – vormals durch seine Rolle in der EU, die besondere Bedeutung der polnisch-deutschen Nachbarschaft und ihre Bedeutung für die ganze EU begründet – verlor ihren strategischen Charakter. Den Platz Berlins nahm London ein: Die Nähe der Konzepte zum Umbau der Europäischen Union in Richtung einer Union der souveränen Staaten war die Hauptbegründung für diese Abkehr.

Mit der Wahl des Ent-Europäisierungskurses machte die PiS mehr als deutlich, dass sie sich in der Avantgarde europäischer Prozesse befindet, nämlich der Anti-Establishment-Revolte. Im Jahr 2015 konnten die Welle des Populismus, die Instabilität im Zusammenhang mit der Migrationskrise und die Diskussion vor dem Referendum in Großbritannien suggerieren, dass sich die von der PiS repräsentierten Werte und die Vision der EU nach dem Prinzip des »Souveränismus« und der Renationalisierung in der Offensive befanden. Aber diese Annahme erwies sich letztlich als falsch, und die PiS-Regierung hatte sich in zwei grundsätzlichen Angelegenheiten verrechnet. Erstens hatte sie ihre Strategie auf der Annahme aufgebaut, dass die Annäherung an Großbritannien eine Neueröffnung der Europapolitik bedeuten würde, Polen erlauben würde, eine gestärkte Position als von Berlin und Paris unabhängiger Staat einzunehmen, und außerdem die Diskussion über die Reform der EU in Bahnen lenken würde, die den ideologischen Konzepten der PiS nahestehen. Der »Brexit« machte diese Hoffnungen zunichte.

Zweitens gewannen in keinem EU-Mitgliedsland offensichtlich antieuropäische und populistische Kräfte die Wahlen, und aus den Präsidentenwahlen in Frankreich, die fundamentale Bedeutung für die Zukunft der Union hatten, ging Emmanuel Macron als Sieger hervor, der am stärksten europäisch eingestellte Kandidat der vier wichtigsten Anwärter. In der Tat sind populistische Gruppierungen, die die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen Gestalt in Frage stellen, in manchen Mitgliedsländern stark. Mit Sicherheit wird ein beträchtlicher Teil der Gesellschaften für Populismus und antieuropäische Rhetorik auch weiterhin anfällig sein. Während allerdings die PiS mit einem historischen Zeitpunkt rechnete, der günstige Bedingungen für einen grundsätzlichen Umbau der EU in der von der polnischen Regierung bevorzugten Art und Weise schaffen sollte, sprach die politische Realität gegen diese Erwartungen. Es ist davon auszugehen, dass die Entscheidungen über die Reform der Union, die nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland fallen werden, in eine andere Richtung gehen werden, als in die von der PiS vor einigen Monaten erwartete. Anstatt einer Diskussion über die Rückübertragung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten und die Zurücknahme des Integrationsprozesses wird die Hauptströmung der Debatte nun neue Integrationsschritte bestimmen (Stärkung der Eurozone und der Sozialpolitik sowie einer gemeinsamen Verteidigungspolitik).

Konflikte mit der Europäischen Kommission

Konflikte der Mitgliedsstaaten mit Brüssel sind das tägliche Brot der Integration. Ihr Kern sind Tausende von den EU-Organen verabschiedete Rechtsakte, die die EU-Staaten anschließend in ihr Rechtssystem überführen müssen. Die Nichtbefolgung dieses Regimes zieht Konsequenzen nach sich, als da wäre die von der Europäischen Kommission eingeleitete Prozedur des Vertragsverletzungsverfahrens – nicht ohne Grund wird die Kommission auch als »Hüterin der Verträge« bezeichnet. Wenn die Kommission nicht in der Lage ist, die Anwendung des EU-Rechts bei den Mitgliedsstaaten durchzusetzen, kann sie die betreffende Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bringen und dieser eine Geldstrafe verhängen.

Allein im Jahr 2016 eröffnete die Europäische Kommission 986 solcher Verfahren; Ende 2016 waren es insgesamt 1.657 offene Verfahren. Polen ist hier keineswegs der größte Sünder in der EU: In Angelegenheiten, die beispielsweise den gemeinsamen Markt betreffen, sank die Zahl der Fälle, in denen die Kommission Polen mangelnde Umsetzung des EU-Rechts vorwarf, bezogen auf die gesamte EU am stärksten, und zwar von 44 auf 33, das sind 34 Prozent seit November 2014. Die meisten rechtlichen Konflikte ficht die Europäische Kommission mit Deutschland aus.

Allerdings ist das politische Gewicht der einzelnen Konflikte um die Anwendung des EU-Rechts nicht immer gleich. Die einen ziehen kein Echo nach sich, die anderen gelangen auf die Titelblätter der Zeitungen und werden von den Staats- und Regierungschefs diskutiert. Demselben Vertragsverletzungsverfahren werden beispielsweise Fragen der Wasserwirtschaft und die Nichtumsetzung der Entscheidung der Kommission über die Verteilung von Migranten unterzogen. Wenn auch in rechtlicher Hinsicht die Fälle auf dem Papier ähnlich aussehen mögen, ist die Bedeutung der beiden Konflikte nicht vergleichbar. Im Falle der Umverteilung liegen nicht gewöhnliche Rechtsvorschriften und die Zukunft dieses oder jenen Wirtschaftssektors in der Waagschale, sondern fundamentale Interessen der Mitgliedsstaaten.

Zur Erinnerung: Im September 2015 traf der Rat der Europäischen Union, das wichtigste Entscheidungsorgan auf Ministerebene, entsprechend Artikel 78 des EU-Vertrags die Entscheidung, in der Ausnahmesituation des bisher nicht gekannten Flüchtlingszustroms einen Teil der Flüchtlinge, die sich in den am stärksten belasteten Ländern Italien und Griechenland aufhielten, einmalig auf andere EU-Länder aufzuteilen. Die Blockade Polens (sowie auch Ungarns und Tschechiens) führte zur Einleitung des genannten Verfahrens, das im Herbst möglicherweise mit der Weiterleitung an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg enden wird. Die politischen Kosten dieser Schlacht sind deutlich höher als die Strafe, die Polen treffen kann.

Die Mehrheit der Länder ist der Meinung, dass die Haltung Polens ein demonstrativer Beweis fehlender Solidarität bei der Lösung eines der wichtigsten Probleme ist, die heute vor der EU stehen. Das fehlende Verständnis der EU-Staaten sowie auch der Europäischen Kommission bekommt Polen in Bereichen zu spüren, die von besonderer Wichtigkeit für es sind: in den Verhandlungen über den EU-Haushalt sowie im Bereich Energie und in der Politik gegenüber Russland. Ähnlich verhält es sich mit zwei anderen wesentlichen Fronten, die Polen in Brüssel eröffnete: die Nichtbeachtung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, der die Einstellung der Holzfällarbeiten im nordostpolnischen Białowieża-Urwald anordnete, bis das Urteil in dieser Sache gesprochen worden sein wird, und das im Januar 2016 von der Europäischen Kommission begonnene Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs und die von ihm verhängten Strafen gegen Mitgliedsländer sind ein fester Bestandteil der EU-Realität. Die auf der Webseite des polnischen Verfassungstribunals veröffentlichte Liste umfasste bis zum Herbst 2015 einige Dutzend Angelegenheiten – manche hat Polen gewonnen, andere verloren, wieder andere sind noch laufende Verfahren. Die Situation aber, dass ein Land es ablehnt, sich an Entscheidungen oder Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu halten (wie es beispielsweise lange Zeit in der Angelegenheit des Białowieża-Urwalds der Fall war), ist präzedenzlos.

Der rechtliche Kontext des Krieges mit der Europäischen Kommission ist noch ein anderer: Der von ihr angewendete Mechanismus des Dialogs über die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Polen hat keine Grundlage in den europäischen Verträgen, weshalb Warschau der Meinung ist, ihn ignorieren zu können. Die Kommission kann sich jedoch zu einem beliebigen Zeitpunkt an die Mitgliedsstaaten mit dem Ziel wenden, Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags mit dem Entzug des Stimmrechts im Europäischen Rat zu bestrafen. Allerdings wäre die Realisierung dieses Ziels sehr unwahrscheinlich und riskant, denn eine solche Entscheidung verlangt Einstimmigkeit und Ungarn steht auf der Seite Polens.

Der anhaltende Konflikt und vor allem die ihm zugrunde liegende Demontage des Rechtsstaates in Polen verringern die Glaubwürdigkeit Polens als politischer Partner und als Ort, der Investitionen und Geschäfte zu tätigen wert ist. Außerdem ist einer der entscheidenden Faktoren für den Einfluss in der EU und für die Möglichkeit, angestrebte Ziele zu erreichen, die Bereitschaft der Partner, der betreffenden Regierung entgegenzukommen, was diese wiederum auch dafür nutzen kann, die eigene Position innenpolitisch zu stärken, nach dem Motto »unser Erfolg in Brüssel«. Dieser Art Gesten sind ein wichtiges Bindemittel in der Kompromisskultur und den Verhandlungsgepflogenheiten der EU. Indessen ist unter den jetzigen Bedingungen die Bereitschaft anderer Länder, Warschau in den für die PiS-Regierung und für Polen wesentlichen Fragen zu unterstützen, sehr begrenzt.

Mehr noch, das sich verschlechternde Image Polens erleichtert und legitimiert auch eine Politik zum Schaden Polens. Ein Beispiel dafür, wie sich die Position und damit auch der Einfluss Polens in der EU verschlechterten, ist die Reise des französischen Präsidenten Macron im August nach Ostmitteleuropa. Er sprach dort unter anderem über die Frage der entsandten Arbeitnehmer, die auch für Polen von großem Interesse ist (Frankreich will die Möglichkeiten der Arbeit auf der Grundlage von Entsendungen beschränken, um die Interessen der eigenen Arbeitnehmer zu schützen). Macron umging Warschau wie auch Budapest in großem Bogen und versuchte wirksam, die Einheit der Visegrád-Gruppe zu sprengen.

Interessenkollisionen

Die Art und Weise, die polnischen Interessen zu definieren, und ihre Umsetzung in einigen Angelegenheiten mit Schlüsselbedeutung entfernt sich zunehmend von der Richtung, in die die Europäische Union strebt. Die Verteidigung der eigenen Interessen ist die Grundlage für die Anwesenheit in der EU. Jedoch gibt es Bereiche, in denen Polen nicht in der Lage ist, den Kurs der EU zu verändern, da es auf einsamem Posten steht. In solchen Fällen ist es keine Kapitulation, sich an den Mainstream anzupassen, sondern vielmehr die am meisten versprechende Strategie, Unterstützung von der EU für eigene Modernisierungsprogramme zu erhalten. Dies betrifft insbesondere die Energie- und Klimapolitik. Die EU ist bereit, die Modernisierung des polnischen Energiesektors mit zu finanzieren, unter der Bedingung, dass Warschau aufhört, darauf zu beharren, dass sein nationales Interesse mit dem Interesse des Kohleenergiesektors identisch ist.

Die Verteidigung der Kohle wie die Unabhängigkeit, was schon per se auf falschen Prämissen beruht, stellt Polen unweigerlich quer zur Evolution der gesamten EU im Bereich der Wirtschaftspolitik. In der letzten Zeit hat Polen dies mindestens zweimal schmerzhaft an eigener Haut erfahren. Im November 2016 schlug die Europäische Kommission das sogenannte Winterpaket vor, das ist ein Paket von Verordnungen u. a. zur Regulierung des Strommarktes. Festgelegt wurde, dass die Kraftwerke, die mehr als 550 Gramm CO2 pro Kilowattstunde (dies ist der durchschnittliche Emissionswert der Kraftwerke in der EU) ausstoßen, keine staatliche Unterstützung erhalten werden. Dies betrifft alle polnischen Kohlekraftwerke, weshalb Warschau heftig protestierte. Im Februar 2017 wiederum verlor Polen die Schlacht um die Reform des EU-Emissionshandels. Sie hat zum Ziel, die Anzahl der Emissionsberechtigungen zu reduzieren, das heißt die Dekarbonisierung der Wirtschaft zu beschleunigen. Die Mehrheit der entscheidenden Vorschriften stand im Widerspruch zu der Haltung Polens, das völlig andere Lösungen forderte: Die Hauptforderung des Umweltressorts war die Berücksichtigung der natürlichen Absorption von CO2 durch die Waldgebiete (so dass die polnischen Kraftwerke mehr CO2 hätten ausstoßen dürfen) sowie die Einführung der Kategorie der »Schlüsselkernkraftwerke«, die eine kostenlose Emissionsberechtigung erhalten sollten.

Sogar Vertreter der PiS gaben zu, dass »wir als das am stärksten von der Kohle abhängige EU-Land nicht viele Verbündete haben«. Trotzdem entschieden sie sich für die totale Konfrontation – und gingen am Ende mit leeren Händen aus. Die Konsequenzen der Schlacht um die Energie- und Klimapolitik, in der die polnische Staatsräson als Verteidigung der Kohle um jeden Preis definiert wird, können sich für die polnischen Beziehungen zur EU als weitreichend und gefährlich erweisen. Schon heute lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass weitere Regulierungen der EU in diesem Bereich (Umweltnormen, Emissionskosten, Prinzipien für die Unterstützung der Energiemärkte) aus Sicht des von der polnischen Regierung bevorzugten Modells des Energiesektors schädlich sein werden. In diesem Sinne kann sich die Prophezeiung, dass die EU die polnischen Kraftwerke und Bergwerke »fertig machen« wird, bewahrheiten. Und wenn es so kommen wird – wer wäre bereit zuzugeben, dass die Ursache in der kurzsichtigen und lobbyorientierten Politik begründet lag, deren negativen Folgen hätten vermieden werden können?

Vielleicht aber ist das Gewicht dieser Gefahren der Regierung bewusst geworden. Im September 2017 begann das Energieressort eine Veränderung in der Frage des Energiemixes zu signalisieren. Anstatt der geplanten Investitionen in neue Kohlekraftwerke wurde der Bau eines Gaskraftwerks angekündigt. Wenn sich dieser Kurs, die Abkehr von der Kohle und die Hinwendung zum Gas (plus Windenergie und eventuell Atomenergie, was weniger wahrscheinlich ist), hält, handelt es sich um eine grundsätzliche Umkehr in der polnischen Energiepolitik, bei deren Umsetzung die eigene Mitgliedschaft in der EU eine Schlüsselrolle spielen würde.

Die von der PiS falsch definierte Staatsräson führt jedoch zu Entscheidungen, die auch in anderen Bereichen die Entfernung von der EU vergrößern, zum Beispiel beim Euro, in der Migrationspolitik und in der Verteidigungspolitik. Wenn Polen dafür kämpft, dass Menschen aus anderen Kulturkreisen die Immigration verwehrt wird, dann kann dies nicht mit einer wirksamen EU-Flüchtlingspolitik in Einklang gebracht werden, deren wesentliches Element zum Beispiel die Schaffung legaler Wege der Wirtschaftsmigration aus Afrika oder dem Nahen Osten nach Europa sein muss. Wenn ein fundamentales Interesse Polens im Bereich der nationalen Verteidigung der staatlich unterstützte Aufbau einer autarken Rüstungsindustrie ist (die vor allem die polnischen Streitkräfte ausstattet), dann kommt Polen die beginnende zunehmende Integration im Bereich der Sicherheit und Verteidigung in der EU, die auch die Kooperation in Technologie und Fertigstellung umfasst, nicht gelegen. Frankreich, Deutschland und andere EU-Länder sind der Auffassung, dass eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik eines der bedeutenden Felder ist, auf dem die EU einer Stärkung bedarf. Polen indessen kehrt dieser den Rücken zu.

Die demonstrative Zurückweisung des Angebots des europäischen Airbus-Konzerns für den Kauf von Caracal-Hubschraubern und die überraschende Reduzierung der polnischen Präsenz im Eurokorps auf ein Minimum sind die sichtbarsten Beispiele für diese Haltung. Zudem hat sich Polen Anfang 2017 unerwartet auch aus einem anderen Projekt der europäischen militärischen Zusammenarbeit zurückgezogen, und zwar von dem Plan einiger EU-Länder, unter der Schirmherrschaft der Europäischen Verteidigungsagentur gemeinsam sogenannte fliegende Zisternen zu kaufen, das heißt Multifunktionsflugzeuge. Der gemeinsame Einkauf sollte die sehr hohen Kosten der Maschinen reduzieren und das Konzept umsetzen, die Verteidigungsfähigkeit der Bündnispartner zu bündeln.

Die unklare Haltung der Opposition und die Passivität der Gesellschaft

Die Haltung der PiS-Regierung in der EU war und ist Gegenstand zahlreicher Analysen sowie der Kritik vonseiten der Opposition und der Medien. Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Ereignisse scheinen zwei Fragen von fundamentaler Bedeutung zu sein. Erstens: Obwohl der europapolitische Kurs der Regierung nicht unbedingt von der Mehrheit der Gesellschaft unterstützt wird (ungefähr die Hälfte beurteilt die Konfrontation mit der Europäischen Kommission als schädlich, die Mehrheit ist der Auffassung, dass die Position Polens in der EU schwächer wird), haben diese relativ negativen oder gleichgültigen Bewertungen keinerlei Bedeutung für die Unterstützung, die die Gesellschaft der Regierungspartei entgegenbringt. Die PiS unterstützen zirka 40 Prozent der Bevölkerung (oder sogar mehr), was bedeutet, dass das Gewicht der Europapolitik und deren Bewertung aus der Perspektive der von den Polen getroffenen politischen Wahl gering ist. Das gleiche betrifft notabene die Fragen der Verfassung und des Gerichtswesens. Die Polen stimmen vielleicht der PiS in diesen Angelegenheiten nicht zu, aber diese fehlende Übereinstimmung hindert einen großen und stabilen Teil der Wählerschaft nicht, diese Partei wieder zu wählen. Die Einlösung von Wahlversprechen und die großzügige Sozialpolitik spielen eine deutlich größere Rolle. Mehr noch, in der unlängst erschienenen Analyse der Stefan Batory Stiftung »Polacy wobec UE: Koniec konsensusu.« (zu Deutsch: Die Polen gegenüber der EU: das Ende des Konsens) stellte unser Autorenteam (Adam Balcer, Piotr Buras, Grzegorz Gromadzki und Eugeniusz Smolar) fest, dass es keinen Widerspruch zwischen der hohen Unterstützung für die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union einerseits und der Sympathie für viele Ansichten, die die von der PiS initiierte Korrektur der polnischen Europapolitik begründen, andererseits gibt. Die die Souveränität betonende Rhetorik sowie die Stärke konservativer Werte sind wichtige Merkmale für die Justierung der Polen nicht nur in außenpolitischen Angelegenheiten.

Zweitens ist die Haltung der Opposition in Fragen der Europäischen Union nicht eindeutig und es ist letztlich nicht klar, in welche Richtung die polnische Politik nach einem möglichen Machtwechsel laufen wird. Mit Sicherheit würde die Regierung der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) davon absehen, die Verfassung in Frage zu stellen, und den Streit um die Rechtsstaatlichkeit beenden, der Polen heute am meisten schadet. Aber die PO hat keine klare Haltung zum Beitritt zur Eurozone, sie laviert in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen und auch in der nicht direkt mit der EU verbundenen Frage der Reparationszahlungen vonseiten Deutschlands (der Verteidigungsminister in der damaligen PO-Regierung, Tomasz Siemoniak, sagte in einem Radiointerview, dass Reparationen Polen im Grunde zustünden, aber die PiS die Angelegenheit nicht angemessen angehe).

Die mit der vorhersehbaren Entwicklung der EU nicht kompatible Definition der polnischen Staatsräson in wichtigen Politikfeldern sowie die Abneigung Polens, an den genannten, die Integration fördernden Unternehmungen teilzunehmen, können zu einem nicht weniger wesentlichen Faktor eines fortschreitenden Bruchs mit der EU werden als die Konflikte um die Rechtsstaatlichkeit und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Es kann sich zeigen, dass sich die relativen Vorteile unserer EU-Mitgliedschaft in der sich verändernden EU verringern werden. Von der Zugehörigkeit zur Eurozone sowie der Zusammenarbeit bei der Lösung fundamentaler Zukunftsprobleme wie Migration und Sicherheit wird die Qualität der Mitgliedschaft in der EU abhängen. Bereits nach wenigen Jahren wird Polen die negativen Folgen seiner heutigen Entscheidungen spüren: die Verlagerung eines Teils der finanziellen Mittel zugunsten derjenigen Länder, die die größten Lasten der Aufnahme von Flüchtlingen tragen, sowie in die Eurozone, der fehlende Zugang zu den gemeinsamen Verteidigungsmitteln (die nur für gemeinsame europäische Projekte vorgesehen sind), eine ernsthafte Krise und ein deutlicher Kostenanstieg bei der Modernisierung des polnischen Energiesektors infolge der Divergenzen mit dem EU-Recht. Mit anderen Worten, mehr als ein Austritt aus der EU mit Getöse droht uns, unbeabsichtigt aus dem Kreis herauszufallen, der Solidarität, finanzielle Unterstützung und die Möglichkeit der politischen Einflussnahme bietet. Und dann können tatsächlich ernstzunehmende Fragen nach dem Sinn der EU-Mitgliedschaft auftreten.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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Analyse

In Straßburg und im Netz. Die Aktivität der polnischen EU-Abgeordneten in der ersten Hälfte der siebten Wahlperiode des Europäischen Parlaments

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Die siebte Wahlperiode des Europäischen Parlaments, die im Januar 2012 Halbzeit hatte, war die zweite, in der polnische Abgeordnete in Straßburg und Brüssel auf den Parlamentsbänken saßen. In den Europawahlen 2009 wählten die Polen eine Gruppe von Repräsentanten, in der Experten stark vertreten sind – häufig im Bereich der europäischen Politik bereits erfahrene Politiker, die aus einer der drei großen politischen Strömungen kommen. Unter anderem aus diesen Gründen sind die aktuellen polnischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihren Aktivitäten effektiver als die Abgeordneten der Wahlperiode 2004 bis 2009. Sie widmen ihre Tätigkeit häufiger europäischen Themen, als dass sie sich in der heimischen Politik engagieren. Ablesen lässt sich dies auch an ihrer Kommunikation mit Hilfe der neuen Medien. (…)
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Analyse

Die Polen und die Energiewende

Von Michał Olszewski
Der Autor vergleicht die Diskussion und die konkreten Schritte zu der von der Politik postulierten Energiewende in Deutschland mit der Situation in Polen. Während er die Umsetzung in Deutschland von einer breiten Mehrheit getragen sieht, stellt er für Polen große Vorbehalte gegenüber erneuerbaren Energien und einer grundlegenden Umstrukturierung des Energiesektors fest. Zurückzuführen sei die Zurückhaltung weniger auf finanzielle Gründe als auf das mangelnde Verständnis von der umweltpolitischen Notwendigkeit und auf den Einfluss von traditionellen energiepolitischen Lobbygruppen. Der Autor behauptet einen Mangel an Einsicht, dass es keine Alternative zu dem von der EU befürworteten Energiekurs gibt, und an Mut, sich in Polen den mit einer energiepolitischen Wende einhergehenden Reformen zu stellen.
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