Georges Sorel, der in seinem wichtigsten Buch »Über die Gewalt« von 1908 der modernen Politik den Begriff des Mythos zurückgab, hat darauf hingewiesen, dass ein Mythos weder wahr noch falsch sein muss, sondern auf anderen harten Kriterien gründet. Der von Sorel immer wieder bemühte Mythos des Generalstreiks hatte ihm zufolge die Funktion, ein Gefühl der Sinnhaftigkeit zu vermitteln, das Gefühl der Hilflosigkeit zu vermindern, das entsteht, wenn ein Individuum auf die Mechanismen der modernen Welt prallt, und auf diese Weise eine Gemeinschaft zu stiften sowie sie zur Tat zu mobilisieren.
Der Mythos ist in den Händen talentierter politischer Führer ein außerordentlich effektives Mittel – und zwar zum Guten wie zum Bösen, denn sowohl Carl Schmitt als auch Leszek Kołakowski, die sich ideengeschichtlich mit der Theorie des Mythos (und auch mit Sorels Werk) auseinandersetzten, haben darauf hingewiesen, dass Sorels Konzeption den radikalsten Sieg des Irrationalismus über den Rationalismus darstellte, insbesondere über die rationalistischen Utopien oder »großen Erzählungen« der Aufklärung. Der Mythos spielte eine fatale Rolle, sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums, speziell auf dem Gebiet des faschistischen und bolschewistischen Populismus, der gern die traditionellen Grenzlinien zwischen Rechts und Links überschritt. Berühmt ist Mussolinis Ausspruch nach seinem Marsch auf Rom: »Sorel verdanke ich am meisten.« Und als das geschwächte und durch den Ersten Weltkrieg destabilisierte liberal-demokratische Frankreich es nicht eilig hatte, dem verstorbenen Gegner jeglichen Liberalismus’ die Ehre zu erweisen, erboten sich die Bolschewiken und die italienischen Faschisten, ein Grabmal für Sorel zu stiften. Hermann Rauschning wiederum – der anfangs für die NSDAP aktiv war und später aus dem Dritten Reich flüchtete – behauptete in seinem Buch »Die Revolution des Nihilismus« von 1938, dass sogar der Antisemitismus, den viele Erforscher des Nationalsozialismus für dessen Fundament und Grundbestandteil halten, von zahlreichen führenden Nazis im Sinne eines Sorelschen Mythos verstanden worden sei. Sie hätten nicht an eine allgegenwärtige jüdische Verschwörung gegen Deutschland geglaubt, seien jedoch der Meinung gewesen, die mobilisierende Kraft des Antisemitismus sei in der durch die Niederlage im Krieg und die spätere Finanzkrise am Boden liegenden Weimarer Republik von größtem Wert.
Im Zusammenhang mit den folgenden Bemerkungen zu den Mythen, die das politische Leben und die politischen Konflikte in Polen nach 1989 geprägt haben, ist daher zweierlei zu beachten. Erstens kann ein Mythos nicht auf gewöhnliche »fake news« reduziert werden, die zynisch zur Erlangung kurzfristiger und lokaler politischer Ziele eingesetzt werden; ein Mythos ist ein höchst effektives Instrument zu einer langfristigen politischen Mobilisierung der Massen. Zweitens ist der Mythos in der modernen Politik ein sehr gefährliches Instrument, da er sich auf das Irrationale stützt und so das Erkennen des tatsächlichen Potentials der eigenen Gesellschaft bzw. des eigenen Staates erschwert und in Extremfällen politische Gewalt als erlaubt erscheinen lässt. Es ist daher angebracht, die in der Politik vorkommenden Mythen nicht nur unter dem Kriterium der effektiven politischen Mobilisierung zu betrachten, sondern auch im Hinblick auf die Verwüstungen, die sie im kollektiven Bewusstsein anrichten können.
Der Mythos vom (gestohlenen?) Sieg der Polen über den Kommunismus
Die Rationalität der polnischen Politik wurde gleich zu Beginn der Dritten Republik stark geschwächt, da ein Mythos verteidigt werden musste, den wir als »Gründungsmythos« bezeichnen können. Ihm zufolge war das Jahr 1989 für Polen mehr als nur ein mehr oder weniger gelungenes Ausnutzen der internationalen Konjunktur, es war ein totaler Sieg der Solidarność-Gesellschaft und ihrer Eliten über die kommunistische Herrschaft. In aller Kürze besagt dieser Mythos, dass die Kommunisten angesichts der Solidarität und der Stärke der Polen nachgegeben haben, auch wenn sie durch ihren Rückzug präventiv verhinderten, dass die Polen diese Stärke und Solidarität zur Gänze zeigen konnten. Die von diesem Gründungsmythos verdeckte, verdrängte Wahrheit sieht so aus, dass die Solidarność-Gesellschaft in den 1980er Jahren eine vollständige Niederlage erlitt und praktisch komplett zerstört wurde. Erst der Sieg der USA im Kalten Krieg, der Misserfolg der Perestroika (die nach Gorbatschows Absicht eine Reform der UdSSR sein sollte, nicht deren Auflösung), der Fall der Berliner Mauer und das Auseinanderbrechen des Ostblocks veränderten die Lage in Polen diametral. Doch es war nicht die erste Solidarność und ihre Überbleibsel, die den Kommunismus von der Berliner Mauer bis nach Kamtschatka »stürzten«, denn sie waren bereits vorher vom Kommunismus in seiner Niedergangsphase zerstört worden. Außerhalb der mythischen Sphäre kann man sinnvoll darüber streiten, in welchem Maße die Entstehung der Unabhängigen Gewerkschaft Solidarność und die Notwendigkeit ihrer späteren Unterdrückung dazu geführt haben, dass der »real existierende Sozialismus« den letzten Rest an Legitimität verlor, wodurch Gorbatschows misslungene Reformen erzwungen wurden. Doch es war die Geopolitik, welche der Volksrepublik Polen den Todesstoß versetzte, wenn auch der Runde Tisch wahrscheinlich die sinnvollste Weise darstellte, wie die polnischen Eliten die durch die Geopolitik geschaffene Gelegenheit nutzen konnten. Von dem Umbruch des Jahres 1989 kann man daher als von einem »Verhandlungssieg« sprechen, um die vorsichtige und präzise Formel von Andrzej Paczkowski, diesem herausragenden Historiker der Solidarność und des Kriegsrechts, zu zitieren.
Je nachdem, wer den Gründungsmythos vom Erfolg der solidarischen Gesellschaft im Kampf gegen den Kommunismus für seine eigenen Zwecke interpretierte, aber auch je nachdem, gegen wen er in den jeweils aktuellen politischen und internen Auseinandersetzungen eingesetzt werden sollte, wurde der Systemwechsel von 1989 entweder zum Werk von Millionen Katholiken, welche die Predigt Johannes Pauls II. auf dem Warschauer Plac Zwycięstwa im Jahre 1979 in spiritueller und sozialer Hinsicht verwandelt hatte (die von der Rechten seit dem »Krieg an der Spitze« verwendete Version), zum Werk von Millionen Arbeitern, die von der Lektüre der Zeitschrift »Robotnik« und der Tätigkeit der – ihrerseits von diesem oder jenem mit der Intelligenz verbundenen Milieu der demokratischen Opposition inspirierten – Freien Gewerkschaften verwandelt worden waren (die von der Demokratischen Union (Unia Demokratyczna) und anderen sich aus der ehemaligen demokratischen Opposition herleitenden, meist in der Intelligenz verwurzelten Gruppierungen oder Milieus verwendete Version) oder zum Werk von zehn-, zwanzigtausend radikalen Studierenden, Gymnasiasten und jungen Arbeitern, die in einigen größeren Städten mehrmals jährlich die gesamten 1980er Jahre hindurch auf die Straße gingen und auch an der Streikwelle von 1988 teilnahmen, die kleiner und isolierter war als diejenige von 1980 (Ende der 1980er Jahre von den jüngeren und radikaleren Oppositionskreisen, deren Mitglieder in den 1960er Jahren geboren waren, zur Stärkung des eigenen Zusammenhalts verwendete Version).
Alle Seiten entlarvten gern und in schmerzhafter Weise den Gründungsmythos in der Version, wie sie von den jeweiligen Konkurrenten innerhalb des aus der Solidarność hervorgegangenen Lagers verwendet wurde, um mit umso größerem Eifer die eigene Version zu verteidigen. In der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« erschienen in den 1990er Jahren häufig sehr wahre Texte über die reale Schwäche der Solidarność-Gesellschaft, die von den Kommunisten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ausgeschaltet worden war – denn dabei handelte es sich um einen leicht zu führenden Schlag gegen den Gründungsmythos in der Version des rechten Flügels der Solidarność. Jeder öffentlich geäußerte Zweifel an der politischen Effektivität und Stärke der aus dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników – KOR) hervorgegangenen Gruppen dagegen wurde von derselben Zeitung als ein religiöser Frevel empfunden. Rechte Medien wiederum schrieben häufig über die Schwäche und fehlende Repräsentativität der aus dem KOR hervorgegangenen Gruppen, doch was für sie unantastbar blieb, war der Mythos von der Kraft und der Mobilisierung des von der Kirche gestärkten Solidarność-Volkes, das die »Kommune« ganz sicher schneller und blutiger erledigt hätte, wenn nur die ehemaligen KOR-Leute es nicht ständig ruhig gehalten und gespalten hätten – natürlich im Rahmen ihrer eigenen verräterischen Vorbereitungen für den historischen Kompromiss mit den Kommunisten.
Die Überzeugung, die Solidarność hätte den Kommunismus bezwungen und der entscheidende Stoß wäre ihm vom polnischen Volk in den Fabriken, in den Studentenwohnheimen und auf den Straßen versetzt worden, musste die grundsätzliche Frage aufwerfen, wozu es dann überhaupt nötig gewesen wäre, mit den Machthabern der Volksrepublik »den Sieg auszuhandeln«, wozu es eines Runden Tisches bedurft hätte, wenn man die Postkommunisten einfach hätte ins Gefängnis werfen können. Angesichts der fehlerhaften Prämisse musste die Schlussfolgerung paranoid ausfallen: Den Kommunisten gehe es trotz unseres vollständigen Sieges über sie gut, da uns dieser Sieg durch verdeckte Verräter in den eigenen Reihen gestohlen worden sei – durch die »Judenkommune« oder durch ein einflussreiches Netz »informeller Mitarbeiter«. Wenn auch diese Rationalisierung gewisse Spannungen in dem aus der Solidarność hervorgegangenen Lager abbildete, so wurde ihr holzschnittartiger, primitiver Charakter für die Solidarność-Kreise zu einer ausweglosen Falle. Es sei denn, dass sie – wie von Jarosław Kaczyński – sehr bewusst als politischer Mythos eingesetzt wurde, an dessen Wahrheit man selbst nicht glaubt, der aber in hervorragender Weise geeignet ist, das eigene Lager gegen die politische Konkurrenz zu mobilisieren, die Legitimität der Dritten Republik zu untergraben und an die Macht zu gelangen.
Der Mythos des Antikommunismus und der »historische Kompromiss«
Der Gründungsmythos vom Sieg der Solidarność über den Kommunismus brachte massenweise Politiker hervor, die sich zwar mit den Postkommunisten arrangierten, mit ihnen verhandelten und politische Geschäfte machten, die wussten, dass es 1989 einen »Verhandlungssieg« gegeben hatte, die aber mit den eigenen Parteisoldaten und Anhängern in einer radikalen antikommunistischen Sprache kommunizierten. Gleichzeitig wussten alle, die sich des Mythos vom »Kampf mit der Kommune« bedienten, dass die sog. postkommunistische Spaltung überwunden werden musste, um die durch den kalten Bürgerkrieg der 1980er Jahre auseinandergebrochene polnische Gesellschaft wieder zusammenzuführen. In der Dritten Republik wurden zwei Typen von historischem Kompromiss vorgeschlagen. Der erste im berühmten gemeinsamen Aufruf von Adam Michnik und Włodzimierz Cimoszewicz zu »Wahrheit und Versöhnung« von 1995, der dazu aufforderte, zwei Arten von Erinnerungen miteinander zu versöhnen: die bei ehemaligen Anhängern der Solidarność einerseits und des Kommunismus andererseits verbreiteten. Dies musste allerdings um den Preis des Nachdenkens über sich selbst und die eigene Biographie, über die Fehler und Verbrechen der regierenden kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR) wie über den sozialen Aufstieg in der Volksrepublik Polen geschehen; um den Preis des Nachdenkens über das Heldentum der Opposition und die »verfemten Soldaten« des antikommunistischen Partisanenkampfs der 1950er Jahre, aber auch über deren Fehler und Sackgassen; dies alles ohne falsche Symmetrie, aber auch ohne Lügen in Schwarz-Weiß-Manier. Das Problem dieses Vorschlags beruhte darauf, dass er von den Eliten beider Lager formuliert worden war und hauptsächlich bei den Eliten Gehör fand, bei jenen also, die an der Transformation des Runden Tisches aktiv teilgenommen hatten und sie als einen Erfolg ansahen, auch als den eigenen Erfolg. Das »Fußvolk« beider Lager – echte Radikale, tatsächliche Opfer, die keine materielle oder symbolische Entschädigung erhalten hatten, oder auch einfach Versager, die ihre eigenen Misserfolge immer den anderen oder der »Geschichte« anlasteten, – empfand diesen Appell als einen weiteren Verrat.
Es war genau dieses »Fußvolk« der beiden Lager, an das sich Jarosław Kaczyński wandte. Während Adam Michnik seine Formel eines historischen Kompromisses in eine flammende, emotionale Sprache fasste, verwirklichte Jarosław Kaczyński einen historischen Kompromiss auf kühle und pragmatische Weise. Der Mitgründer der Partei Zentrumsallianz (Porozumienie Centrum) und anschließend der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) duldete seit Anfang der 1990er Jahre Personen in seinen Parteien, die aus dem Umkreis der regimenahen national-katholischen Organisation Pax stammten, und ebenso ehemalige »konservative« PZPR-Mitglieder aus dem niederen Parteiapparat, also meistens Anhänger einer autoritären Obrigkeit, denn nur eine solche galt ihnen als stark. Weiter knüpfte er Kontakte zu Geschäftsleuten aus der Nomenklatur oder gestattete es seinen Leuten, solche Kontakte aufzunehmen. Die erste Basis in der Geschäftswelt stellte für das politische Milieu Jarosław Kaczyńskis die Firma »Telegraf« dar, in die Anfang der 1990er Jahre Geld von Unternehmern aus der ehemaligen PZPR floss, die der Meinung waren, man müsse sich das Wohlwollen von Lech Wałęsas engstem Mitarbeiter (und später: von einem einflussreichen Führer der aus der Solidarność hervorgegangenen Rechten) erkaufen. In dieser praktischen Hinsicht unterschied sich Jarosław Kaczyński nicht von den Vertretern der Unia Demokratyczna, der Christlich-Nationalen Vereinigung (Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe – ZChN) oder dem Liberal-Demokratischen Kongress (Kongres Liberalno-Demokratyczny – KLD). Seiner inneren Überzeugung nach jedoch verwendete er, Jarosław Kaczyński, Geld, Kontakte, ja sogar Beamte des ehemaligen Regimes und Mitglieder des PZPR-Parteiapparates zur Verwirklichung seiner Vision vom Umbaus des Staates, während seine politischen Gegner durch solche Kontakte korrumpiert, des politischen Willens beraubt und zu Geiseln des Postkommunismus gemacht wurden.
Da der Antikommunismus für Kaczyński nie ein Ziel darstellte, sondern bloß ein Mittel zum Zweck, einen Mythos im Sinne Sorels, ein wichtiges Instrument der politischen Mobilisierung neben anderen, traf er im Einklang mit den jeweiligen politischen Bedürfnissen – wenn es galt, um die Macht zu kämpfen oder die Machthaber aus der (zum Teil weit unterlegenen) Opposition heraus anzugreifen, – immer wieder souveräne Entscheidungen im Hinblick auf die antikommunistische Symbolik, indem er sie verschärfte oder abmilderte, indem er historische Trennlinien überschritt oder deren Unüberschreitbarkeit betonte. Und er war es schließlich, der darüber entschied, wer Kommunist und wer Antikommunist, wer Agent oder Patriot war, und zwar ohne Ansehen der realen Biographien.
Schlussendlich bot Jarosław Kaczyński den aus der Solidarność und aus der PZPR stammenden »Fußvölkern« eine gänzlich andere historische Kompromissformel an als Adam Michnik: eine solche, die Selbstreflexion und das Überdenken der eigenen Biographie ausklammerte. Sein Angebot an das Solidarność-»Fußvolk« bestand in dem verhältnismäßig einfachen Versprechen, Revanche zu nehmen an den »verräterischen Eliten« des eigenen Lagers sowie an den Postkommunisten, allerdings nur an denen, die die Systemtransformation nach 1989 akzeptiert und am Aufbau der Dritten Republik teilgenommen hatten. Das Angebot an das aus der PZPR stammende »Fußvolk« war komplizierter und lautete: Wenn ihr euch mir anschließt und für mich dasselbe tut, was ihr für Jaruzielski, Gierek, Gomułka und Moczar getan habt, nämlich mir dabei helft, die Verfassung zu umgehen und zu brechen, wenn ihr eine populistisch-nationale Ideologie für mich konstruiert und die Opposition ihres Schutzes durch das Recht beraubt, dann werdet ihr zu Antikommunisten und Katholiken seit jeher, zu »verfemten Soldaten«, zu Helden. Aber wenn ihr euch mir und meiner Macht entgegenstellt, dann werden meine Historiker und Publizisten »Nomenklatura-Kinder« oder »-Eltern«, »Agenten« und »Kommunisten« aus euch machen, so dass ihr schließlich euer Vermögen, eure Funktionen und euren guten Namen verliert.
Staatsanwalt Stanisław Piotrowicz, der bis zum Ende der Volksrepublik Polen nicht nur Mitglied der PZPR war, sondern als diensteifriger Staatsanwalt Regimegegner juristisch verfolgte, ist jetzt der »Hausjurist« der PiS sowie Vorsitzender der Kommission für Gerechtigkeit und Menschenrechte des Sejm. Er bereitet für Kaczyński die wichtigsten Szenarien zur Zerstörung des Verfassungsgerichts und zum Bruch oder Umgehen der Verfassung vor. Sein neues Glaubensbekenntnis, das die Vergebung sämtlicher Sünden verbürgt, hat er offen ausgesprochen: »Im Jahre 1978 bin ich unter Zwang in die PZPR eingetreten«, »in den 1980er Jahren war ich als Staatsanwalt tätig, um unschuldigen Opfern von Repressionen zu helfen«, »ich habe mehr riskiert als die Leute, die Flugblätter verteilten«, »ich bin in die PiS eingetreten, denn nun gab es in Polen endlich eine patriotische Partei«. Natürlich sind das Lügen, aber so effektive, dass sie die »postkommunistische Teilung« im Bewusstsein derjenigen Menschen aufheben, die heutzutage massenhaft das Angebot des »historischen Kompromisses« in der von Jarosław Kaczyński konzipierten Form annehmen.
Der Smolensk-Mythos oder »auf eigene Weise sterben«
Gegen Ende der 1990er Jahre formulierte Aleksander Smolar auf wohl prägnanteste Weise die These, dass auf Polen das Fatum der nachahmenden Modernisierung laste. Er wies darauf hin, dass es die lange Unterbrechung der polnischen staatlichen Tradition wie auch die Armut und der schlechte kulturelle Zustand des Landes und seiner Gesellschaft nach einem halben Jahrhundert Kommunismus unausweichlich gemacht hätten, dass Polen fertige Institutionen und rechtliche Regelungen des liberalen Westens übernehmen musste – im vollen Bewusstsein des Preises, den die Peripherien stets dem Zentrum für das bloße Recht auf Nachahmung zu zahlen hätten. In der Tat ist es bei den Engländern zur industriellen Revolution gekommen, bei den Franzosen zur gesellschaftlichen Revolution, bei den Deutschen zur romantischen Konterrevolution. Polen dagegen wurde an der Schwelle zur Moderne als Subjekt des politischen und gesellschaftlichen Lebens ausgeschaltet, das ein eigenes Kulturmodell hätte erschaffen oder zumindest die aus den westlichen Zentren der Moderne zu uns dringenden Nachahmungsmuster in merklicher und sinnvoller Weise hätte modifizieren können.
Während die Transformationseliten sich nur sehr selten zum Nachahmungscharakter der polnischen Transformation bekannten (indem sie eine eigene Version des Mythos vom Sieg über den Kommunismus oder auch den Mythos von der originellen und souveränen »Balcerowicz-Transformation« verwendeten, die mehr sei als der Anschluss der polnischen Wirtschaft an die sich globalisierende freie Marktwirtschaft nach Entfernung der durch die Existenz des Ostblocks bedingten politischen Hindernisse), wurden das »Nachahmertum« und der »neokoloniale Charakter« der polnischen Transformation zu einem der Hauptvorwürfe, der gegen sie von Seiten führender rechter Intellektueller vorgebracht wurde, etwa von Jadwiga Staniszkis, Ryszard Legutko, Zdzisław Krasnodębski oder Andrzej Zybertowicz. Abgesehen von Jadwiga Staniszkis jedoch, die versuchte, positive Modelle einer »anderen Modernisierung« oder sogar einer »anderen Modernität an den Peripherien« zu entwerfen, entlarvte die Tatsache, dass die Angriffslust auf die »große Nachahmung« die Fähigkeit stark überwog, in positiver Weise eine eigene starke Tradition aufzuzeigen, die von der Nachahmung angeblich zerstört und geschwächt werde, den Ressentiment-Charakter der meisten dieser Kritiken.
Sigmund Freud hat in »Jenseits des Lustprinzips« die bedeutende Bemerkung gemacht, dass »der Organismus nur auf eigene Weise sterben will«. Da die Schlüsselelemente der Systemtransformation in den auf 1989 folgenden Jahren, d. h. der faktische Wiederaufbau des materiellen, normativen und institutionellen Lebens der Polen, für die gegen die Transformation eingestellte Rechte aufgrund ihres unvermeidlichen Nachahmungscharakters unattraktiv und »unpolnisch« waren, war es logisch, dass die polnische Rechte zu den Märtyrermythen zurückkehrte, da sie als einzige Bestandteile der polnischen Tradition ihre faktische Eigenständigkeit, Souveränität, ja Attraktivität garantierten. Jarosław Marek Rymkiewicz hat in seinem 2008 erschienen Buch »Kinderszenen« (so der polnische Titel, d. Red.) in radikalster Form die These aufgestellt, dass angesichts der Schwäche aller anderen Aspekte der polnischen Tradition die einzige Kraft, welche die Polen zum Polentum hinziehe, das Märtyrertum sei. Nach Rymkiewiczs Auffassung seien weder eine machtvolle Staatstradition noch eine starke Wirtschaft oder reiche weltliche Errungenschaften institutioneller oder normativer Art in der Lage, die Polen zu faszinieren, denn all dies hätten wir nun einmal nicht aufzuweisen. Die Polen könne allein ein »Massaker« in effektiver Weise an das Polentum binden. Diese Rolle weist Rymkiewicz in seinem Buch dem Warschauer Aufstand zu, und zwar gerade als schreckliche Niederlage, die in politischer und militärischer Hinsicht womöglich irrational gewesen sei. Doch dank seiner hunderttausend – hauptsächlich ziviler – Opfer stelle der Warschauer Aufstand eine Art Identitätsanker für die nachfolgenden Generationen der Polen dar, die von einem so grässlichen Massaker fasziniert seien, aber zugleich von Schuldgefühlen geplagt, falls sie mit dem Polentum brechen oder zumindest ihre Verbindung mit ihm selbst aushandeln wollten. Als ich nach dem Erscheinen dieses Buchs die Gelegenheit hatte, mit dessen Autor ein sehr polemisches Interview zu führen, behauptete Rymkiewicz in provokanter Weise, wenn im Warschauer Aufstand nicht hunderttausend, sondern zweihunderttausend Polen massakriert worden wären, wäre er doppelt so wertvoll für den Aufbau der polnischen Identität. Im Geiste eines vollständigen Nihilismus fügte er hinzu, dass man zur Erhaltung des Polentums solche Massaker regelmäßig wiederholen müsse.
Aus zeitlichem Abstand heraus kann man kaum glauben, dass »Kinderszenen« vor der Flugzeugkatastrophe von Smolensk geschrieben wurde, denn wie Rymkiewicz auf das Märtyrertum als auf das effektivste, vielleicht sogar einzige Argument gegen die »nachahmende Transformation« zu setzen, wurde zur grundlegenden Strategie der polnischen Rechten nach dem 10. April 2010. Am Morgen dieses Tages zerschellte das Regierungsflugzeug beim Landeanflug auf den in dichtem Nebel liegenden Flughafen von Smolensk, der auf solche Besuche nicht vorbereitet war, über eine veraltete Ausstattung verfügte und schon lange vom russischen Linienverkehr gemieden wurde. Seit vielen Jahren jedoch wurde dieser Flughafen von offiziellen polnischen Staatsdelegationen genutzt, denn er verfügte über einen einzigen Vorteil – er war am nächsten an Katyn gelegen.
An Bord des Flugzeugs befanden sich neben dem Präsidentenpaar viele Parlamentarier, Regierungsmitglieder und Minister der Präsidentenkanzlei. Sie repräsentierten alle Gruppierungen, doch Politiker der PiS waren am zahlreichsten vertreten. Die Passagiere des Fluges eilten zu den Feierlichkeiten aus Anlass des Jahrestages des Verbrechens von Katyn. Für Lech Kaczyński sollte der Besuch in Katyn – wo auf ihn Pfadfinder, Veteranen, Bischöfe, aber auch die Kameras aller polnischer Fernsehstationen warteten – seine Kampagne zum Präsidentschaftswahlkampf einläuten. Der Amtsinhaber ging dabei nicht als Favorit ins Rennen, und sich zum Auftakt der eigenen Kampagne zu verspäten, hätte ihn angesichts dieser Lage aufs Schlimmste kompromittiert. Daher war es »unmöglich« für die Präsidentenmaschine, die Ersatzflughäfen in Minsk oder Moskau anzufliegen, obwohl die russischen Fluglotsen in Smolensk den polnischen Piloten immer wieder offiziell mitteilten, dass wegen des dichten Nebels »die Umstände für eine Landung nicht geeignet sind«.
Damit der Flugzeugabsturz von Smolensk die Dynamik der politischen und gesellschaftlichen Prozesse in Polen ändern konnte, durfte er nicht einfach nur der tragischste Verkehrsunfall in der polnischen Geschichte bleiben, sondern musste zu einem Anschlag werden und in die polnische Tradition des Märtyrertums eingereiht werden – neben das Verbrechen von Katyn und neben die vielen blutig niedergeschlagenen polnischen Aufstände. Und die Opfer dieses Unfalls mussten Märtyrerstatus erlangen. Der konservativste Teil der polnischen Kirche wiederum kam zu dem Schluss, der Smolensk-Mythos sei das einzig effektive Mittel im Kampf gegen die »aus Brüssel heraufziehende« Säkularisierung. Am deutlichsten sprach das wenige Tage nach dem Absturz der junge und charismatische katholische Publizist Tomasz Terlikowski aus, der von vielen konservativen Bischöfen und Priestern als repräsentative Stimme eines neuen, traditionalistischeren und antieuropäischen polnischen Katholizismus angesehen wird. Terlikowski schrieb: »Wir wollten vor der uns von Gott auferlegten Mission in die ‚Normalität’ des Westens entfliehen. Wenn das so war, dann ist diese Tragödie eine deutliche Erinnerung daran, dass es uns nicht gegeben sein wird, ein ‚normales’ Volk zu sein, das in aller Seelenruhe leben kann, dass der Herrgott von Zeit zu Zeit einen Blutzoll von uns fordert«. Fasziniert von Jarosław Marek Rymkiewicz und dessen in »Kinderszenen« entwickelten Theorie vom Massaker als dem wichtigsten Anker, der die Polen an die eigene nationale Identität bindet, schrieb der junge Dichter Wojciech Wencel kurz nach dem Absturz in einem Gedicht: »Noch ist Polen nicht verloren, solange wir sterben«.
Die dritte Republik bricht unter dem Gewicht von Mythen zusammen
Der Smolensk-Mythos trug zusammen mit der »Tonbandaffäre«, die den Mangel an Wachsamkeit, die Abnutzung, aber auch die Machtarroganz der politischen Eliten der Dritten Republik, und zwar nicht nur der Politiker der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), entlarvte, zu einer Atmosphäre des inneren Legitimationsverlustes des gesamten neuen Staates und der ganzen Systemtransformation nach 1989 bei. Dazu kamen zwei weitere Krisen – die Finanz- und die Flüchtlingskrise –, die das Image der EU beschädigten und die äußere, geopolitische Legitimation der Dritten Republik schwächten. Die Europäische Union verlor einen erheblichen Teil ihrer Attraktivität im Bereich der Institutionen und Normen und ebenso einen Teil ihrer »disziplinierenden« Kraft, über die sich Jarosław Kaczyński bereits während seiner ersten Regierungszeit in den Jahren 2006/07 beschwert hatte, als er noch die Reaktion der EU-Institutionen auf Maßnahmen gegen die Unabhängigkeit der Gerichte, gegen die Selbstverwaltung und gegen Nichtregierungsorganisationen oder andere die Willkür der Machthaber einschränkende Institutionen der liberalen Demokratie in Polen fürchtete. Heute nutzt Kaczyński bewusst jede neue Krise in den Beziehungen zur EU – häufig ausgelöst durch die von ihm kontrollierte PiS-Regierung – zur Stärkung der eigenen Autorität als Verteidiger der polnischen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.
Wenn man versucht, die Politik der letzten dreißig Jahre darzustellen, kann man manchmal den Eindruck haben, dass wir Ruinen beschreiben. Einerseits hat sich das Land wirtschaftlich verändert und seine geopolitische Lage hat sich gewandelt – beides zum Besserem. Auf der anderen Seite jedoch haben sich die polnische Innenpolitik und die von ihr zur Mobilisierung genutzten Mythen als größte Quelle der Instabilität erwiesen, so dass sie schließlich die Errungenschaften der Transformation auf wirtschaftlichem und geopolitischem Gebiet geradezu bedrohen, anstatt sie zu schützen und zu festigen.
Der Mythos vom »Sieg über den Kommunismus, der den Polen geraubt wurde« und den eine starke Regierung den Polen zurückgeben sollte, indem sie den »Kampf mit der Kommune« zu Ende führt, der Mythos von der »Dekommunisierung« und der Lustration als wichtigster Waffe in diesem Kampf, bei einem völlig willkürlichen und politisch instrumentalisiertem Umgang mit wirklichen Biographien und der tatsächlichen Geschichte, der Mythos von Polen als mächtiges Land, der sich im Streben nach absoluter Souveränität, vor allem gegenüber Brüssel, ausdrückt, schließlich die Märtyrermythen, aus denen sich die Einzigartigkeit der polnischen Tradition ergeben soll, – all dies hat sich als außerordentlich wirksam für die politische Mobilisierung erwiesen, für die Machtergreifung durch die Partei, die mit diesen Mythen operiert. Die Nachteile für das Bewusstsein einer anhand dieser Mythen erzogenen Gesellschaft jedoch sowie die Nachteile für die Position Polens in Europa und für das gesamte europäische Gleichgewicht können sich als größer erweisen als alle Vorteile aufgrund einer dank diesen Mythen gestärkten Zentralmacht. Umso mehr, als ein zentralisierter und von einer Partei dominierter Staat, der sich auf einen Mythos gründet, – trotz des Anscheins, dass er einfacher zu »steuern« ist und der Regierungs- und Parteichef der Gesellschaft leichter seinen Willen aufzwingen kann, – nie wirklich stabil ist. Wenn er auf die – wirtschaftliche oder geopolitische – Wirklichkeit trifft, zeigt der Mythos stets seine Schwäche. Er gleicht einer Droge, die den Organismus für eine gewisse Zeit anregt, allerdings um den Preis seiner Schwächung und späteren Zerstörung.
In den 1930er und 40er Jahren nutzten die Deutschen die täuschende Kraft des Mythos; sie zerstörten zuerst ganz Europa und führten dann eine Katastrophe des eigenen Volkes und Staates herbei, wie ihre Geschichte sie noch nicht gesehen hatte. Die Polen haben ein unvergleichlich kleineres institutionelles und wirtschaftliches Potential, so dass sie diesen Prozess der Zerstörung (oder zumindest der Vergeudung) des in der Transformation Errungenen und der Schwächung der eigenen Position in Europa wohl bei sich selbst beginnen und an sich selbst zu Ende führen werden.
Übersetzung aus dem Polnischen: Sven Sellmer
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem Jahrbuch Polen 2018: Mythen, hrsg. v. Deutschen Polen-Institut Darmstadt, Wiesbaden 2018.