Das Ereignis: Polens viele Schritte zur Unabhängigkeit
Das Jahr 1918 begann für Polen mit gemischten Gefühlen. Während fern im Westen US-Präsident Woodrow Wilson seine 14 Punkte für eine Friedensordnung in Europa verkündete und als 13. Punkt auch ein unabhängiges Polen mit einem freien Zugang zum Meer verlangte, versuchten die Mittelmächte im Osten, Politik ohne Rücksicht auf Polen zu machen: Bei den Friedensverhandlungen von Brest Litowsk (poln. Brześć) zwischen dem revolutionären bolschewistischen Russland und den Mittelmächten saßen Polen weder mit am Tisch noch wurden ihre Wünsche gehört. Und so war schon der »Brotfrieden«, den die Mittelmächte am 9. Februar mit der jungen, von den Sowjets bedrängten Ukrainischen Volksrepublik schlossen, ein Schock für die Polen, gestand man den Ukrainern doch große historisch polnische Gebiete zu, einschließlich des Gebiets um Cholm (poln. Chełm). Als wenige Wochen später, am 3. März, die Sowjets schließlich den Bedingungen für einen Friedensvertrag zustimmten, hatten deutsche Soldaten fast das gesamte historische Staatsgebiet Polen-Litauens besetzt. Doch wo genau und wie sollte Polen hier als Staat entstehen?
Schon am 5. November 1916 hatten die in Wien und Berlin regierenden Kaiser ein Königreich Polen proklamiert; am 15. Januar 1917 war ein Provisorischer Staatsrat und nach dessen Scheitern am 15. September 1917 ein Regentschaftsrat eingesetzt worden. Zwar stellten sich nun nicht wie erhofft in großer Zahl Kriegsfreiwillige aus dem russischen Teilungsgebiet als Soldaten für die Armeen der Mittelmächte ein, doch der Aufbau polnischer staatlicher Strukturen in einem relativ kleinen, ehemals russischen Gebiet um Warschau und Lublin ging zügig voran, das politische und kulturelle Leben blühte auf, seit Herbst 1917 gab es auch eine Regierung. Und so bestanden, als die Ereignisse des Jahres 1918 an Tempo aufnahmen, bereits administrative Strukturen als Grundlage für einen künftigen unabhängigen Staat.
Als der »Brotfrieden« ohne Rücksicht auf polnische Interessen, wohl aber mit Rücksicht auf die Lebensmittelversorgung der Mittelmächte geschlossen war, erfasste eine massive Protestwelle das am deutschen Gängelband hängende Königreich Polen, ein Teil der politischen Szene unterstützte den Aufbau einer Geheimen Militärorganisation und die Anhänger einer prodeutschen Linie verloren rasch an Einfluss. Dann wankten die beiden verbliebenen Teilungsmächte: Der Machtverfall in der Donaumonarchie führte dazu, dass sich in Galizien am 28. Oktober eine »Liquidierungskommission« des Teilungsgebiets konstituierte und drei Tage später in Krakau die österreichischen Truppen entwaffnete. Im bis dahin der k. u. k.-Monarchie unterstellten Lublin entstand am 7. November eine sozialistische Provisorische Volksregierung unter Ignacy Daszyński; zwei Wochen zuvor hatte auch der Regentschaftsrat in Warschau schon eine Regierung eingesetzt.
Derweil lag das Deutsche Kaiserreich in seinen letzten Zuckungen. Schon in den beginnenden Revolutionswirren erinnerte sich die deutsche Reichsregierung an Józef Piłsudski. Der charismatische einstige Sozialist und Anführer der Polnischen Legionen, die zeitweise an der Seite der Mittelmächte gekämpft hatten, saß seit Mitte 1917 unter sehr erträglichen Bedingungen in der Festung Magdeburg. Vielen galt er als größte Hoffnung: Die polnische Politik glaubte, nur er könnte die soziale Umwälzung auch in Polen aufhalten, und die deutsche Staatsführung meinte zudem, der eher deutschfreundliche Piłsudski würde die antideutschen Nationaldemokraten mit Roman Dmowski in Schach halten. Und so geleitete ihn Harry Graf Kessler am 8. November in Verkleidung aus dem bereits von der Revolution erfassten Magdeburg; am 10. November traf er mit dem Zug in Warschau ein. Innerhalb weniger Tage übertrugen ihm der Regentschaftsrat und auch die Lubliner Regierung die Macht. Kaum war er eingetroffen, erklärte sich der Zentrale Deutsche Soldatenrat in Warschau bereit, alles stehen und liegen zu lassen und geordnet in die Heimat abzuziehen. Was am 11. November geschah, schilderte die Schriftstellerin Maria Dąbrowska in ihrem Tagebuch: »Bei Nacht Schießerei. Morgens früh an allen Straßenecken Entwaffnung der deutschen Offiziere. Aber nicht nur die Miliz entwaffnet, auch die Menge […]. Den ganzen Tag über Massen auf den Straßen. […] Überall Autos mit unseren Soldaten.« Die deutsche Besatzung verließ Warschau und das sich bildende polnische Staatsgebiet innerhalb weniger Tage, während zwischen Lettland und der Ukraine deutsche Einheiten teils noch bis Mitte 1919 stationiert blieben.
Am 14. November löste sich der Regentschaftsrat auf. Piłsudski erhielt die vollständige Macht und setzte eine von den Sozialisten dominierte Regierung ein – zunächst unter Ignacy Daszyński und dann unter Jędrzej Moraczewski; sich selbst ernannte er am 22. November zum Provisorischen Staatschef. Bald darauf wurden für Ende Januar Wahlen anberaumt.
Zur Wiederentstehung Polens kam es also ohne siegreiche Schlachten, ohne wagemutige Heerführer, ohne symbolische Triumphe, sondern allein durch die Implosion der bisherigen Teilungsmächte. Es gab auch nicht den einen Geburtstag polnischer Staatlichkeit, sondern es handelte sich um zahlreiche Schritte in rascher Abfolge. Keine große Militärparade krönte nach 123 Jahren die wiedererlangte Unabhängigkeit, und zwar schlicht deshalb, weil es noch so gut wie kein polnisches Militär gab. Dabei wäre es bitter nötig gewesen, denn in Lemberg lieferten sich Ukrainer und Polen schon seit dem 1. November Gefechte, die Stadt war viele Wochen lang schwer umkämpft, und nur mit Mühe konnten rasch zusammengeworfene polnische Einheiten mit bewaffneten Zivilisten die Ukrainer zurückschlagen. (Dieser erste Sieg über die Ukrainer führte am 22. November zu einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung der Stadt – der Mythos der Verteidigung Lembergs ist ein vergifteter Mythos.) Parallel zu diesem Krieg im Osten machte sich die Nationalbewegung im nach wie vor deutsch besetzten Posen die Ankunft des weltberühmten Pianisten Ignacy Jan Paderewski zunutze, der auf Tasten und durch Reden in Nordamerika unermüdlich für Polens Unabhängigkeit gekämpft hatte. Sie löste am 27. Dezember 1918 einen Aufstand aus und warf die deutsche Besatzung innerhalb weniger Wochen aus einem größeren Teil der Provinz Posen. So endete das Jahr 1918 doch noch mit blutigen Gefechten, gleichzeitig aber auch mit Begeisterung. Denn als Paderewski am Neujahrstag 1919 in Warschau eintraf, spielten sich unvergleichliche Szenen ab. Maria Dąbrowska: »Etwas Ähnliches habe ich meinen Lebtag nicht gesehen. […] fast drei Viertelstunden lang zog die Menge mit den Fackeln an den Fenstern vorbei. […] Noch nie ist ein Meister der Kunst in Polen so begrüßt worden.«
Die Erinnerung an 1918 bis zum demokratischen Umbruch von 1989
Das Jahr 1918 war natürlicher Bezugspunkt für Generationen von Polen und ist es bis heute geblieben: Das Ende der Teilungszeit mit all ihren Demütigungen und gescheiterten Aufständen, die Wiedergeburt eines eigenen Staates, eines Nationalstaates, eigentlich eines Nationalitätenstaates, mit dem Namen »Republik Polen«, markierten eine grundlegende Zäsur in der Geschichte Polens. Außerdem war es ein Symbol des Aufbruchs, wie es wenige in der nationalen Historie gab. Am ehesten reichte noch die Maiverfassung von 1791 daran heran, auch sie stand für Neubeginn, selbst wenn sich die Nation damals zutiefst uneins war und der Staat vier Jahre später vollends unterging. Aber als Erinnerungs- und Feiertag war der 3. Mai kaum umstritten.
Nun also das Jahr 1918. Dass man es feiern musste, war klar, doch das Datum – mithin das Datum der Wiedererlangung der Unabhängigkeit – war alles andere als eindeutig. Aus allen möglichen Daten schien sich der 11. November rasch durchzusetzen, weil an diesem Tag die Unterzeichnung des Waffenstillstands im Westen mit der Entwaffnung der Deutschen in Warschau zusammenfiel. Damit gab es zumindest ein halbwegs militärisch anmutendes Ereignis als Anlass für den Gedenktag. Allerdings plädierte Józef Piłsudski noch 1925 dafür, die Staatsgründungsfeier am 22. November zu begehen, dem Tag, an dem er sich zum Provisorischen Staatschef ernannt hatte. Nach seiner erneuten Machtergreifung 1926 ließ er jedoch den 11. November bestehen. In einem Runderlass erklärte der neue Machthaber in diesem Jahr: »Am 11. November wird der polnische Staat den 8. Jahrestag begehen, an dem er das Joch der Unfreiheit abgeworfen und die volle, faktische Unabhängigkeit erlangt hat. Dieses Datum sollte in der festen Erinnerung der Bevölkerung bleiben«. Von nun an nahm Piłsudski an diesem Tag oder am darauffolgenden Sonntag auf dem Sächsischen Platz (Plac Saski) Militärparaden ab, der Platz wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des Piłsudski-Kults. Obwohl die Nationaldemokraten mit dem Piłsudski-Lager verfeindet waren, konnten auch sie an diesem Tag feiern und den Anteil Roman Dmowskis an der Wiedergeburt Polens würdigen (er war seinerzeit in Frankreich für Polens Sache eingetreten); nur die Linken begingen noch den 7. November, an dem die Regierung Daszyński gebildet worden war.
1937, zwei Jahre nach Piłsudskis Tod, wurde der 11. November dann von der autoritären Regierung zum Staatsfeiertag aufgewertet, der pompös und mit viel militärischem Brimborium begangen wurde. Dies diente zum einen der Herrschaftslegitimation, zum anderen galt es als Zeichen von Stärke in einer immer unruhigeren internationalen Lage.
Die beiden Nationalfeiertage – 3. Mai und 11. November – wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs im kommunistischen Polen verdrängt und durch einen anderen staatlichen Feiertagskalender ersetzt: Man beging als Nationalfeiertag den 22. Juli (an diesem Tag wurde 1944 das Manifest des kommunistischen Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung verkündet), den 1. Mai (Tag der Arbeit) und den 9. Mai (Tag des Sieges nach sowjetischer Datierung). Zwar wurde der 11. November im Jahr 1945 nochmals offiziell begangen, doch schon jetzt galt er der Staatspropaganda aufgrund der Rolle, die Józef Piłsudski am 11. November 1918 gespielt hatte, als suspekt. Außerdem verwendete die Volksrepublik den bürgerlichen Staat der Zwischenkriegszeit, die Zweite Republik, als Negativfolie, da er geprägt gewesen sei von sozialer Ungleichheit, Kapitalismus und Nationalismus.
Die Kommunisten versuchten also, den 11. November in Vergessenheit geraten zu lassen. Seit 1946 war es verboten, ihn feierlich zu begehen; wenn überhaupt, so wurde an den 7. November erinnert. An diesem Tag wurde nicht nur die Oktoberrevolution gefeiert, sondern er erinnerte auch an die Bildung der Regierung Daszyński im Jahr 1918. So stellte die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR) – die immerhin aus der Zwangsvereinigung von Kommunisten und Polnischer Sozialistischer Partei (Polska Partia Socjalistyczna – PPS) entstanden war – im Jahre 1968 diesen 7. November als eigentlichen Gründungsmythos in den Mittelpunkt staatlicher Feiern in Lublin. Doch konnte sich dieses Datum nicht durchsetzen, zumal nicht in einem Jahr, in dem sich die Partei mit den »Märzereignissen« und der antisemitischen Kampagne selbst in den Augen vieler Sympathisanten diskreditiert hatte.
In der inoffiziellen Erinnerungskultur blieb der 11. November jedoch wichtig, auch als Symbol für eine widerständige Gegenerinnerung: Die Zweite Republik war schließlich der einzige sinnvolle historische Anknüpfungspunkt, wenn man sich nicht auf das Erbe der Volksrepublik berufen wollte. Erste oppositionelle Kundgebungen zum Unabhängigkeitstag fanden 1978 in Warschau und einigen anderen Großstädten statt. Nach Gründung der Gewerkschaft Solidarność wurde der Tag 1980 und 1981 mit Großdemonstrationen der Opposition gefeiert. Auch während des Kriegsrechts hielt die in die Illegalität gezwungene Opposition an Kundgebungen zu diesem Tag fest, die mit einer raschen positiven Neubewertung des Piłsudski-Bildes einhergingen.
Die Erinnerung an 1918 seit 1989
Mit dem Ende der Volksrepublik Polen und dem Beginn der Dritten Republik 1989/90 standen das Land und seine Eliten vor der Notwendigkeit, neue Kontinuitäten und historische Bezüge zu konstruieren. Wesentlich war hierbei der Rückgriff auf die Traditionen der Zweiten Republik, während die symbolischen »Errungenschaften« der kommunistischen Zeit zunehmend an Bedeutung für die Legitimation der Gegenwart verloren. Schon der letzte kommunistische Sejm hatte am 15. Februar 1989 – unmittelbar nach Beginn der Gespräche am Runden Tisch – den Forderungen zahlreicher Kreise nachgegeben und den 11. November zum Nationalen Unabhängigkeitstag erklärt (auch der 3. Mai erhielt 1990 seine Rolle zurück). Es entwickelten sich neue Formen, um diesen Tag öffentlich zu begehen, während andere nicht wieder aufgegriffen wurden. Neu war zum Beispiel ein »Unabhängigkeitslauf«, der seit 1989 in Warschau stattfindet – 2017 nahmen mehr als 15.000 in Weiß und Rot gekleidete Menschen daran teil. Wie bereits vor dem Krieg gab es auf dem Siegesplatz (Plac Zwycięstwa), dem früheren Plac Saski, am Grabmal des Unbekannten Soldaten, eine Zeremonie mit politischen Ansprachen und militärischer Umrahmung. Die Feierlichkeiten fielen besonders bei runden Jahrestagen festlich aus, so 1998 zum 80. Jubiläum der Staatsgründung: Eine Sondersitzung der beiden Parlamentskammern unter Beteiligung des Präsidenten und des letzten Exilpräsidenten, des Ministerpräsidenten und des Kardinalprimas von Polen verabschiedete eine Resolution, in der es u. a. hieß: »[…] alle, selbst die schmerzhaftesten Erfahrungen, die Polen im Laufe der Geschichte erfahren hat, waren nicht in der Lage, den Geist der Freiheit und des Patriotismus zu ersticken. Das ist für uns ein Testament und eine Botschaft, der wir treu zu bleiben verpflichtet sind. Das hat 1980 zum Aufbegehren der Solidarność geführt und in der Folge zur Wiedererlangung der Souveränität […].« Außerdem kamen die Präsidenten von sechs weiteren Staaten Ostmitteleuropas nach Warschau, um einer Kavallerieparade, einer Messe in der Warschauer Kathedrale, Konzerten und einem Feuerwerk beizuwohnen.
In ihren Ansprachen zum Nationalfeiertag hoben die Präsidenten Polens in der Regel die einende Kraft des Anlasses hervor und riefen zur gemeinsamen Arbeit für Polen auf. In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung stießen diese Worte bei den politischen Gegnern – vor allem auf der Rechten – aber auf immer größere Kritik.
In dem Bestreben, die Bevölkerung stärker an dem Nationalfeiertag teilhaben zu lassen, wurden in Warschau sowie in zahlreichen weiteren größeren und kleineren Städten immer weitere Veranstaltungen geplant: Konzerte mit patriotischen Liedern (auch zum Mitsingen), historische Rekonstruktionen, Ausstellungen, Vorträge, natürlich überall Ansprachen von Woiwoden oder Bürgermeistern, in den katholischen Kirchen allenthalben festliche Hochämter. Besonders große Anziehungskraft übten seit Beginn des neuen Jahrtausends große Paraden in den Städten aus. So gibt es in Danzig (Gdańsk) seit 2003 eine »Unabhängigkeitsparade« unter der Schirmherrschaft des Stadtpräsidenten, mit historisch kostümierten Teilnehmern, Oldtimern und vielen Fahnen. Durch Breslau (Wrocław) zieht seit 2002 eine »Freudige Unabhängigkeitsparade«, an der teils weit mehr als 10.000 Menschen teilnahmen.
Allerdings stellte sich dieser inklusiven Erinnerung an das Jahr 1918 zunehmend eine nationalistische entgegen. Schon zu Beginn der 1990er Jahre häuften sich – wie man den »Braunbüchern« des antifaschistischen Vereins Nigdy więcej (Nie wieder) entnehmen kann – am 11. November nationalistische, rechtsradikale und neofaschistische Vorfälle: Skinheads und radikale Fußballfans paradierten in vielen Städten, verbrannten deutsche und US-amerikanische Flaggen, hoben die Hand zum Hitler-Gruß (1993), veranstalteten Fackelzüge (1996), skandierten »Fort mit der jüdischen Besatzung. Für ein großes katholisches Polen« (1997) usw. Seit 2010 organisieren mehrere rechtsradikale Parteien und Vereine in Warschau Großdemonstrationen mit patriotisch-musikalischem Begleitprogramm, die sie »Unabhängigkeitsmarsch« nennen. Zu den Hauptorganisatoren zählt die neofaschistische Organisation Nationalradikales Lager (Obóz Narodowo-Radykalny – ONR). Diese Märsche wurden immer häufiger auch von führenden Mitgliedern nationaler bzw. nationalistischer Parteien unterstützt, darunter der heutigen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) oder der Union für Realpolitik (Unia Polityki Realnej). Rechte Historiker oder Journalisten gesellten sich ebenso dazu wie Hooligan-Gruppen sowie – verstärkt seit 2011 – Abordnungen ausländischer rechtsradikaler Organisationen. 2012 (Motto: »Wir holen uns Polen zurück«) soll der Marsch 25.000 Menschen vereint haben, 2017 (Motto: »Wir wollen Gott«) 60.000. Teilweise stellten sich linke und liberale Gegendemonstranten diesem Marsch entgegen, teilweise wurden alternative Umzüge organisiert, etwa durch den damaligen Präsidenten Bronisław Komorowski. Bei einigen Märschen kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Krawalltouristen aus halb Europa, über die auch im Ausland intensiv berichtet wurde. Ebenfalls international kommentiert wurde, dass 2017 an der Spitze des Umzugs rassistische Transparente getragen und antisemitische Parolen skandiert wurden, während die rechtsnationale Regierung das entweder nicht zur Kenntnis nehmen oder marginalisieren wollte.
Offensichtlich hat ein Teil der Bevölkerung das Bedürfnis, in militaristischer und nationalistischer Weise an die Geschichte der Nation zu erinnern und sich in der Menge dem Rausch eigener Größe hinzugeben. Somit zeigt sich auch anhand der Feiern zum 11. November, wie zerrissen die polnische Gesellschaft ist und welch starke Aggressionen unterschiedliche Interpretationen von Vergangenheit und kollektiven Identitäten auslösen können. Immerhin scheint die Erinnerung an 1918 gesamtgesellschaftlich große Akzeptanz zu genießen. In einer Umfrage von 2008 erklärte die Hälfte aller Befragten, am 11. November etwas Besonderes zu tun, und 2016 galt die Wiedererlangung der Unabhängigkeit für 52 Prozent der Befragten als wichtigstes Ereignis in der polnischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. Grafik 1 auf S. 12).
2018: »Niepodległa« – das Jubiläum, seine Chancen und Gefahren
Am 25. Mai 2017 rief der polnische Sejm das Jahr 2018 zum Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit aus. In der entsprechenden Resolution wird zu einem parteiübergreifenden, die Nation einenden Gedenken aufgerufen, die angeführten »Väter der Unabhängigkeit« umfassen neben Józef Piłsudski den Nationalisten Roman Dmowski, den Sozialisten Ignacy Daszyński und auch den Bauernführer Wincenty Witos (vgl. die Resolution auf S. 7). Im Herbst folgte eine weitere Resolution, in der das Jahr 2018 zusätzlich zum Gedenkjahr für den Großpolnischen Aufstand erklärt wird.
Bereits Ende 2016 hatte Präsident Andrzej Duda einen Gesetzentwurf in den Sejm eingebracht, der ein vierjähriges Förder- und Veranstaltungsprogramm zur 100-Jahr-Feier vorsah. Es sollte das Wiederentstehen Polens, seine »Gründerväter«, den Anteil der polnischen Armee sowie der Geistlichkeit (»insbesondere der katholischen Kirche«) würdigen, und zwar in dem Zeitraum von 2017 bis 2021. Wie es in der Begründung zum Gesetz heißt, soll dadurch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es mehrere Jahre dauerte, bis sich der polnische Staat nach dem Ersten Weltkrieg konsolidieren konnte. In den Debatten über das Gesetz zeichnete sich große Zustimmung ab, obschon gewisse Zweifel an der Überparteilichkeit des Präsidenten und den Intentionen der Regierungspartei geäußert wurden. »Sie wollen den Jahrestag der Unabhängigkeit prächtig feiern, doch leider berauben Sie uns dieser Unabhängigkeit Schritt um Schritt«, meinte eine Abgeordnete der Partei Die Moderne (Nowoczesna). Ein anderer oppositioneller Abgeordneter erklärte scharf: »Präsident Duda ist für die Einführung eines undemokratischen Systems in Polen verantwortlich. Er hat das Testament der Zweiten Republik zunichte gemacht.« Bei der Abstimmung im April stimmte der Sejm der leicht veränderten Vorlage jedoch fast einstimmig zu.
Über die Feierlichkeiten soll ein Komitee wachen, dem die höchsten Staatsorgane, Vertreter politischer Parteien (sogar der außerparlamentarischen Linken) sowie der Kirchen, der Kultur und der Wissenschaft, der kommunalen Selbstverwaltung, der Gewerkschaften usw. angehören. Das im Frühjahr 2017 bestellte Komitee besteht neben den Behördenvertretern aus gut 70 Persönlichkeiten.
Das staatliche Programm erhielt den Namen »Niepodległa« (soviel wie »Die Unabhängige«, was sich auf das im Polnischen weibliche Wort »Polen« bezieht) und wurde mit einem Budget von etwa 240 Mio. Zloty ausgestattet. Zu den Glanzlichtern sollen u. a. Veranstaltungen zu 100 Jahren Avantgarde, aufwändige Ausstellungen im Nationalmuseum in Warschau, die Ausstellung »Zeichen der Freiheit« im Warschauer Königsschloss sowie zahlreiche Konzerte gehören. Von insgesamt 660 Anträgen zur Förderung regionaler und lokaler Projekte wurden 157 bewilligt. Für im Ausland stattfindende Projekte ist das Adam-Mickiewicz-Institut zuständig; die seit dem PiS-Regierungsantritt veränderten Schwerpunkte der auswärtigen Kulturpolitik mit einer Betonung traditionalistischer Ansätze, des Heldengedenkens und einer stärkeren Ansprache der Auslandspolen könnte allerdings dazu führen, dass sich die kulturaffine Öffentlichkeit anderer Staaten hiervon nicht ansprechen lassen wird. Zu weiteren geplanten Projekten in Polen selbst zählt u. a. die Eröffnung eines Erweiterungsbaus des Piłsudski-Museums in Sulejówek bei Warschau.
Zusätzlich gibt es zahlreiche regionale und lokale Initiativen. Allein die Stadt Warschau plant für Herbst 2018 zirka 50 Veranstaltungen, etwa einen Komponistenwettbewerb »Die große Warschauer Polonaise«, zu der dann auf dem Königstrakt getanzt werden soll. Danzig veranstaltet einen großen Debattenzyklus »Polen! Polen! – aber welches?« und möchte einen »Unabhängigkeitsmast« errichten, an dem große Fahnen des Landes oder der Stadt flattern sollen. Lublin plant zwei große Open-Air-Spektakel, in denen es um den Anteil der Stadt an der Unabhängigkeit gehen soll. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Bei der offiziellen Eröffnung der Jubiläumsfeierlichkeiten hob Präsident Andrzej Duda am 5. Dezember 2017 vor beiden Kammern des Parlaments u. a. hervor, dass man aus der Vergangenheit lernen müsse: »100 Jahre, das sind drei Generationen. Über die Geburt, Entwicklung und das Ende der Zweiten Republik diskutieren wir heute ruhiger, mit einer größeren Dosis Objektivität. Dadurch können wir die Erfahrungen der Polen jener Zeit besser nutzen. Wir lernen aus ihren Erfolgen. Wir bewundern ihre große Vision, ihre Dynamik, ihre Opferbereitschaft und ihren Mut. Aber wir analysieren auch ihre Niederlagen, wir analysieren die Unzulänglichkeiten und alle verlorenen Chancen. Wir tun dies, weil wir aus jeder Fügung des Schicksals Kraft und Inspiration schöpfen können. Weil wir jede Schwierigkeit überwinden können. Denn wir sind eine starke, stolze und ausdauernde Nation. Und nie, niemals werden wir aufgeben.« Er rühmte aber nicht nur Vaterlandsstolz und patriotisches Selbstbewusstsein, sondern geißelte auch das schädliche Wirken von Ideologien: »Kommunismus, Nazismus, Kosmopolitismus oder die nihilistische Negierung des christlichen Wertesystems zerstören unsere empfindlichen kulturellen Bindungen.« Dafür, dass er »Kosmopolitismus« in die Reihe verderblicher Ideologien aufnahm, wurde er von liberaler Seite heftig kritisiert, so wie ihm als Antwort auf seine Betonung nationaler Rechtschaffenheit sein mehrfacher Verfassungsbruch entgegengehalten wurde (Vgl. die Ansprache Dudas auf S. 8–12 im Wortlaut).
Die 100-Jahr-Feiern bieten für die Regierung und den Präsidenten (aber auch für die vielfach noch von der Opposition regierten Kommunen) zahlreiche Möglichkeiten, sich symbolisch ins rechte Licht zu setzen. Die Opposition ist generell misstrauisch und befürchtet, dass der gewaltige finanzielle und organisatorische Aufwand zu parteipolitischen oder propagandistischen Zwecken eingesetzt wird, kann sich aber den großen patriotischen Projekten kaum verschließen. Dennoch wird die Aktivität des Staates genau beobachtet werden. Als sich Präsident Duda im März 2018 anschickte, im Rahmen des Jubiläums kleinere polnische Städte zu besuchen, hielt man ihm vor, nur PiS-treue Kommunen aufzusuchen und Regierungspropaganda zu betreiben. Selbst wenn dies zum Teil der Fall sein sollte, kann das Jubiläum doch auch dazu beitragen, die extreme politische Lagerbildung in Polen zumindest zu einem Teil zu überwinden. Die Tatsache, dass selbst die nationalkonservative Regierung auf die verschiedenen, ideologisch ganz unterschiedlichen Strömungen rekurriert, denen der Staatsaufbau ab 1918 zu verdanken war, deutet darauf hin, dass zumindest im Großen und Ganzen ein überparteilicher Charakter der Feierlichkeiten vorherrschen wird. Ein Fazit wird man jedoch erst gegen Jahresende ziehen können – und nachdem wieder ein »Unabhängigkeitsmarsch« durch Warschau gezogen sein wird.
Das Regierungshandeln wird sich gerade in diesem Jahr daran messen lassen müssen, wie es mit Versuchen der Vereinnahmung des Unabhängigkeitsjubiläums durch extreme, ultranationalistische bis rechtsradikale Kreise umgehen wird, doch auch daran, wie sehr tatsächlich die Meinungsvielfalt von Politik und Zivilgesellschaft abgebildet wird. Die Sache wird sicherlich nicht dadurch einfacher, dass im Herbst Kommunalwahlen stattfinden sollen und der Präsident am liebsten just für den 11. November ein Referendum über eine neue Verfassung ansetzen möchte, über die allerdings noch nichts bekannt ist. Ein abwechslungsreiches, patriotisches, vielleicht auch heißes Jahr steht bevor.