Ein guter Bürger eines demokratischen Staates zu sein, ist nicht einfach. Es erfordert Beteiligung und Engagement, das sich nicht nur gelegentlich bei Wahlen zeigt, sondern auch im Alltag, indem Informationen zu öffentlichen Angelegenheiten gesucht, die Aktivitäten der Politiker verfolgt und die eigenen Ansichten geäußert werden. Nicht weniger wichtig ist die Beteiligung an Debatten über wichtige öffentliche Themen und die Teilnahme an Zusammenkünften der lokalen Gemeinschaft sowie ehrenamtliches Engagement und die Tätigkeit in Nichtregierungsorganisationen (NGOs), ja sogar die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen. Eine solche aktive Staatsbürgerschaft bedeutet, sich für das Funktionieren der lokalen Gemeinschaft und des politischen Lebens zu engagieren, gestützt auf gegenseitigen Respekt, ohne Gewalt und in Übereinstimmung mit den Menschenrechten und demokratischen Werten.
Die Herausforderungen der Gegenwart, wozu die kulturellen Veränderungen, die globalen Wirtschaftsprozesse, die Entwicklung der elektronischen Kommunikation und der dramatische Rückgang des Vertrauens in demokratische repräsentative Institutionen gehören, erschweren es zusätzlich, diesen Standards gerecht zu werden. Zunehmend stört dabei auch die steigende Temperatur des politischen Lebens in vielen Ländern, wobei Politiker sich lieber gesellschaftlicher Animositäten, negativer Emotionen und Ängste bedienen, als einen gemeinsamen Nenner zu suchen, der die Menschen des Landes verbindet. Um sich diesen negativen Tendenzen entgegenzustellen, bedarf es widerstandsfähiger Gesellschaften, bestehend aus Bürgern mit entsprechenden Kompetenzen und Haltungen, die dank der Aneignung demokratischer Werte nicht leichtfertig ihre Rechte und Freiheiten für wirtschaftliche Vorteile oder Sicherheiten hergeben. Gleichzeitig sollten sie immun gegenüber Propaganda, Radikalismus und Extremismus sein.
Jene negativen Trends im öffentlichen Leben wurden in den letzten Jahren auch in Polen augenfällig. Dies verdeutlicht umso mehr bestimmte Unzulänglichkeiten der Zivilgesellschaft. Im Folgenden wird betrachtet, wie die Polen den Zustand des öffentlichen Lebens und der Demokratie allgemein in ihrem Land wahrnehmen und wie sich ihre öffentliche und zivilgesellschaftliche Aktivität im Vergleich zu den Einwohnern der übrigen Visegrád-Länder (Slowakei, Tschechien, Ungarn) ausnimmt. Gestützt auf diese Beobachtungen, werden Überlegungen angestellt, was die Subjektwerdung der Einwohner der Region Polen-Slowakei-Tschechien-Ungarn begünstigen würde und was zu tun sei, um das Interesse am Engagement zugunsten einer funktionierenden Demokratie zu vergrößern. Die Ausführungen basieren auf Ergebnissen einer internationalen Untersuchung, die vom Instytut Spraw Publicznych (ISP; Institut für Öffentliche Angelegenheiten) in Polen, dem tschechischen Institut STEM, dem slowakischen Inštitút pre Verejné otázky (IVO; Institut für Öffentliche Angelegenheiten) und dem ungarischen Institut Political Capital durchgeführt wurde. Die vollständige Darstellung der vergleichenden Ergebnisse beinhaltet der Bericht »Citizenship empowerment: potential for civic participation in the Visegrad countries, 2017 & 2018«, <http://www.isp.org.pl/publikacje,1,955.html>. Im August 2017 wurde eine repräsentative Befragung von Einwohnern eines jeden der vier Länder mit der computer- und internetgestützten Methode »CAWI« durchgeführt. In jedem Land nahmen mindestens 500 Personen teil, insgesamt umfasste die Gruppe der Befragten über 2.000 Personen. Gefragt wurde nach der zivilgesellschaftlichen Aktivität und der Einstellung zur Demokratie. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.
Die Beurteilung des Zustands der Demokratie und der Entwicklung im Land
Eine der ersten Beobachtungen der zugrunde liegenden Untersuchung ist, dass die Befragten die Richtung, in die sich ihr Land bewegt, negativ beurteilen. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass darauf die Qualität des politischen Lebens in den betreffenden Staaten Einfluss hat. Dabei schneiden die Polen noch am besten unter den im Allgemeinen negativ eingestellten Einwohnern der Visegrád-Staaten ab: 31 Prozent sagen, dass sich die Situation im Land in eine gute Richtung entwickelt, 57 Prozent sind gegenteiliger Ansicht. Etwas differenzierter wird es bei der Bewertung der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation. Mit letzterer sind 45 Prozent der Polen persönlich zufrieden (8 Prozent sehr zufrieden), während 48 Prozent ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen, was das beste Ergebnis unter den vier Staaten der Region ist – vor den Tschechen mit 42 Prozent, die zufrieden mit der wirtschaftlichen Situation im Land sind, und fast 53 Prozent Unzufriedenen. Die Polen sind jedoch skeptischer, was die politische Lage im Land betrifft: Nur 29 Prozent sind zufrieden; 67 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Dies ist allerdings immer noch das beste Ergebnis in der Region. Die Durchschnittswerte für alle Länder zeigt Grafik 1 (s. Grafik 1 auf S. 8).
Die Ergebnisse spiegeln die Phase eines relativen Wirtschaftswachstums in den vergangenen Jahren in Polen wider, das es sogar in den Jahren der Wirtschaftskrise in ganz Europa 2008/2009 gab. Ab der Jahreswende 2013/14 wurde eine zusätzliche Verbesserung der wichtigsten makroökonomischen Faktoren verzeichnet. Doch trotz des hohen Wachstums des Bruttoinlandsprodukts und der schrittweisen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Haushalte war die subjektive Beurteilung der politischen Lage und sogar der wirtschaftlichen Bedingungen im Land jahrein, jahraus schlecht und zwar seit 1989. Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Situation gab es nur zwei Ausnahmen von dem negativen Trend: In der Phase 2007/2008, als die wirtschaftlichen Indizes außergewöhnlich hoch waren, und seit Anfang 2016 praktisch bis heute, wobei die Situation mit Blick auf die makroökonomischen Indizes historisch die beste ist. Nach einer Umfrage des Warschauer Meinungsforschungsinstitut CBOS im August 2017 auf der Grundlage einer landesweiten Probe bewerteten – ähnlich wie in der hier besprochenen Untersuchung – 49 Prozent der Polen die aktuelle wirtschaftliche Situation im Land positiv (vgl. CBOS: Komunikat z Badań Nr 110/2017: Nastroje społeczne w sierpniu. Warszawa 08/2017).
Die Untersuchung des ISP und seiner ausländischen Partner zeigt auch, dass die Polen das Wirtschaftssystem, das 1989 eingeführt wurde, eher positiv beurteilen und der Meinung sind, dass es ihnen überwiegend positive Ergebnisse beschert habe. 59 Prozent der Befragten, stimmten zu, dass »nach 1989 in Polen die Chancen für talentierte und hart arbeitende gewöhnliche Bürger gestiegen« seien. Nur 28 Prozent waren gegenteiliger Meinung. Dies ist der höchste Wert unter den Einwohnern aller Visegrád-Länder, wobei die Tschechen hier den zweiten Platz einnehmen, mit der gleichen Anzahl positiver Antworten, aber einem größeren Anteil derer (35 Prozent), die nicht zustimmen (s. Grafik 2 auf S. 8).
Um die Einstellungen der Polen zur Systemtransformation besser zu verstehen, bieten die Antworten interessante Einsichten, die die Polen auf folgende offene Frage gegeben haben: »Polen durchlief eine intensive Entwicklungsphase seit 1989. Wenn Du die wichtigsten Errungenschaften in der Entwicklung des Staates in den vergangenen 27 Jahren nennen solltest, welche wären das?« Alle 504 Antworten wurden nach den größtmöglichen gemeinsamen Nennern kategorisiert (jeder Befragte konnte maximal drei Antworten geben). Auf diese Weise wurden 79 verschiedene Antwortkategorien gebildet. Allerdings wurden nur 26 dieser Kategorien von mindestens einem Prozent der Befragten angegeben und nur diese wurden in der weiteren Analyse berücksichtigt. Für diese 26 Kategorien wurde berechnet, wie häufig sie im Vergleich zu allen von den 504 Befragten genannten Antworten vorkommen. Des Weiteren hat die deutliche Mehrheit der Befragten nicht die Möglichkeit genutzt, eine dritte Antwort zu geben, weshalb in der weiteren Analyse nur die Antworten der ersten und zweiten Wahl berücksichtigt wurden.
In der Analyse der von mindestens einem Prozent der Befragten gegebenen Antworten (s. Grafik 3 auf S. 10) fällt am meisten die zweitrangige Rolle einzelner historischer Ereignisse auf, die Wendepunkte in der neuesten Geschichte Polens waren – abgesehen vom Beitritt Polens zur Europäischen Union (erste Wahl von 124 Befragten, zweite Wahl von 58 Befragten) und vom Beitritt zur NATO (erste Wahl von 41 Personen, zweite Wahl von 42 Personen). Gleich dahinter liegt eine Gruppe von Ereignissen mit deutlich breiterer Bedeutung, die eher einen gewissen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt widerspiegeln, der in den vergangenen 27 bis 28 Jahren in Polen eintrat, und nicht konkrete Ereignisse, die zu diesen Veränderungen führten. Die Mehrheit von ihnen bezieht sich eher auf die Wirtschaft und die Lebensqualität. Zu dieser Gruppe gehört die Entwicklung der Infrastruktur, das heißt die Modernisierung des Landes mit Hilfe des Baus neuer Straßen und Autobahnen, der Instandsetzungen bei der Eisenbahn, des Baus von Radwegen, der U-Bahn in Warschau u. ä. Diesen Antworttyp wählten 55 Befragte. Weiter gehören zu dieser Gruppe die Schaffung des freien Marktes und die Privatisierung der Wirtschaft (angegeben von insgesamt 43 Personen), das Wirtschaftswachstum (41 Befragte), die bessere Lebensqualität, verbunden mit höheren Einkommen und einem besseren Angebot in den Geschäften (28 Befragte) sowie die technische Entwicklung (27). Auf den folgenden Positionen liegen die Entwicklung der Bildung und die Reform des Schulwesens (16 Antworten; die Personen, die sich direkt auf die Reform des Bildungswesens bezogen, gaben nicht an, um welche der Reformen es sich handele), die Tatsache, dass Städte, Kleinstädte und Dörfer schöner geworden sind (11 Antworten), der Beschäftigungsanstieg (9 Antworten), die Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete (8 Antworten), die Modernisierung der Fabriken und die industrielle Entwicklung (8 Antworten) sowie auch die Einführung des Internets (8 Antworten).
Auf den folgenden Plätzen finden sich Angaben zur Demokratisierung des Landes. Die Gruppe der Antworten, zu der die Einführung der Demokratie, der Freiheit und bürgerlicher Freiheiten gehören, war zwar die vierthäufigste vertretene (52 Mal), aber die folgenden Positionen in dieser Gruppe tauchten deutlich seltener auf – der Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989 und die Systemtransformation wurden von 22 Befragten gewählt und die Einführung freier (demokratischer) Wahlen nannten 13 Personen. Darüber hinaus waren die Grenzöffnung und der Beitritt zum Schengenraum (von 22 Personen genannt) wohl nur zum Teil mit diesem Ereignis vom Dezember 2007 verbunden, bezogen sich doch viele Befragte vielmehr auf die Möglichkeit, zu reisen oder im Ausland zu arbeiten und zu studieren. Sehr interessant ist darüber hinaus das eher selektive Gedächtnis der Befragten in Bezug auf die neueste Geschichte. Dieses Phänomen wird auch in anderen Untersuchungen festgestellt, aus denen außerdem hervorgeht, dass sich die Gesellschaft auch mit Blick auf das kollektive Gedächtnis der neuesten Geschichte in zwei Lager spaltet (so beispielsweise Piotr Pacewicz: Triumf propagandy PiS: tylko 48 proc. Polaków uważa, że Lech Wałęsa ma większe zasługi dla »Solidarności« niż Lech Kaczyński. OKO.press, 08.2017, <https://oko.press/triumf-propagandy-pis-48-proc-polakow-uwaza-ze-lech-walesa-wieksze-zaslugi-dla-solidarnosci-niz-lech-kaczynski/>). Das fehlende Wissen über etwas ältere Ereignisse wird durch neuere ersetzt, die intensiv politisch beworben wurden. Ein Beispiel ist das Familienförderprogramm »500 +« (von 20 Befragten genannt), also ein Schlüsselprojekt der Sozialpolitik der aktuellen Regierung, das eine monatliche Zahlung von 500 Zloty pro Kind ab dem zweiten Kind beinhaltet. Ähnlich verhält es sich mit der Fußballeuropameisterschaft 2012 und dem Bau neuer Sportstadien in deren Vorfeld (7 Antworten).
Fasst man die Antworten zusammen, lässt sich feststellen, dass weitere einzelne Ereignisse, die bestimmte Veränderungen in Polen initiiert haben, nur kleine Respondentengruppen genannt haben: Die Abwertung des Zloty im Januar 1995 nannten nur sieben Personen, den Umbruch in den Kontakten zu Russland und der Abzug russischer Soldaten im Jahr 1993 nannten sechs Personen und die Gespräche am Runden Tisch im Jahr 1989 nannten 5 Personen. Diese Ergebnisse lassen sich so bewerten, dass es nicht gelungen ist, bestimmte gemeinsame Bezugspunkte im kollektiven Gedächtnis der Polen zu etablieren, die jedoch für die Integration der Einwohner genutzt werden könnten. Die hier beobachtete Situation kann eine Folge der hohen Temperatur des politischen Streits sein, in dem u. a. Ereignisse der neuesten Geschichte des Landes diskutiert werden, deren Bedeutung infrage gestellt wird. Im Ergebnis scheinen die Polen weniger gern konkrete historische Ereignisse zu nennen und bevorzugen es, allgemeiner über Prozesse zu sprechen, die mit der Verbesserung der persönlichen wirtschaftlichen Situation oder dem allgemeinen Wirtschaftswachstum im Land verknüpft sind. Das scheint sich auch in den Angaben zur größeren Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen als mit der politischen Lage widerzuspiegeln.
Die Wahrnehmung der Demokratie
Vor dem Hintergrund der recht hohen Unterstützung für eine Partei in Polen, die Maßnahmen ergreift, die von Experten als nicht verfassungskonform betrachtet werden, fragen Forscher häufig nach dem Verhältnis zur Demokratie und nach dem Niveau des öffentlichen Vertrauens (Vertrauen zu anderen Menschen sowie zu Institutionen). Was Ersteres betrifft, ist festzustellen, dass die Polen seit Beginn der Transformation die Demokratie wertschätzen, insbesondere im Vergleich zu anderen Regierungsformen. Festzuhalten ist auch, dass die Zustimmung zu der Meinung, dass »die Demokratie anderen Regierungsformen überlegen« ist, nach den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2015 gestiegen ist, seit im öffentlichen Diskurs mehr über die Demokratie als solche und die Gefahren für ihr Funktionieren diskutiert wird.
Die Ergebnisse der Untersuchung in den Visegrád-Ländern zeigen jedoch deutlicher die negative Wahrnehmung des Zustands der Demokratie, die die Polen an den Tag legen. Deutlich ist der fehlende Glaube daran, dass »im gegenwärtigen System die Meinung eines jeden gehört werden kann und zumindest dazu beitragen kann, dass öffentliche Probleme gelöst werden«. Nur 35 Prozent der Polen stimmen dieser Meinung zu und 59 Prozent nicht. Zusammen mit den Ungarn (27 Prozent gaben eine positive Antwort) sind die Polen unter den Einwohnern der Visegrád-Länder am skeptischsten eingestellt. Ähnlich verhält es sich mit Meinungen zur Achtung der zivilgesellschaftlichen Freiheiten im Land. Nur 36 Prozent der Polen stimmen der Aussage zu, dass sie ausreichend sei. Nur wenig besser ist es mit der Meinung über den Wert des Engagements in der Politik. Ungefähr die Hälfte der Bürger eines jeden Visegrád-Landes stimmt der Meinung zu, dass man dies besser nicht tun solle, da man »sich die Finger verbrennen« könne, wobei die Polen hier am wenigsten Vorbehalte haben.
Die Ansichten über den Zustand der zivilgesellschaftlichen Sphäre im jeweiligen Land sind mit dem vorherrschenden Syndrom der Hilflosigkeit der Bürger verbunden, das in allen Visegrád-Ländern zu beobachten ist. Die Mehrheit der Polen (73 Prozent) ist der Meinung, dass die Macht in ihrem Land ausschließlich in den Händen der Politiker liegt und der Durchschnittsbürger vollkommen machtlos ist (die gleiche Meinung vertreten noch einmal zehn Prozent mehr Slowaken). Vielleicht müssten die 64 Prozent der polnischen Befragten, die zustimmen, dass »die Demokratie im Land zerbrechlich ist und leicht gefährdet werden kann« als alarmierendes Ergebnis betrachtet werden, aber dieselbe Aussage unterstützen auch größere Teile der Befragten in den anderen Ländern der Region (s. Grafik 4 auf S. 11).
Die Polen und die Ungarn zeigen die Tendenz, verschiedene Bereiche des Funktionierens der Demokratie in ihrem Land schlechter zu beurteilen, aber die Polen bewerten die Demokratie in ihrem Land weniger gern als zerbrechlich als die Ungarn. Auf der anderen Seite fordert die deutliche Mehrheit der Ungarn und der Polen die Stärkung der Demokratie, wenn sie gefragt werden, ob für eine gute Entwicklung ihres Landes mehr Demokratie notwendig sei oder die Regierung der starken Hand. Die erste Option, mehr Demokratie, bejahen fast 73 Prozent der Ungarn und 62 Prozent der Polen. In der Slowakei und in Tschechien werden beide Positionen ähnlich häufig vertreten (s. Grafik 5 auf S. 12).
Diese Daten werfen die Frage auf, warum neben der so positiven Bewertung der Demokratie gleichzeitig eine große Unterstützung für eine Partei in Polen besteht, die die Mehrheit der Experten als gegensätzlich zu den Prinzipien der liberalen Demokratie beurteilt. Eine Erklärung dieses Widerspruchs kann sein, dass es sich in der polnischen Gesellschaft um verschiedene Auffassungen von Demokratie handelt – die eine beruft sich auf Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Rechte der Minderheiten, die andere stützt sich auf autoritäre Werte und starke Haltungen in der polnischen Gesellschaft und bezieht sich auf die Demokratie als System, in dem der Wille der Mehrheit entscheidend ist. Eine zweite mögliche Erklärung nimmt Bezug zum Narrativ der regierenden Partei, das von den durch die Regierung kontrollierten öffentlichen Medien unterstützt wird. Demnach arbeite gerade die Regierungspartei an der Stärkung der Demokratie im Land, während die Vorgängerregierungen allein in ihrem eigenen Interesse und im Interesse kleiner elitärer Kreise (vor allem postkommunistischer) gehandelt hätten. Unschwer zu erkennen, handelt es sich hier um eine typisch populistische Meinung, die sich auf Anti-Establishment-Stimmungen in der Gesellschaft bezieht. Ein solcher, auf Spaltungen in der Gesellschaft beruhende Diskurs fällt insbesondere in einer Gesellschaft mit einem niedrigen Niveau öffentlichen Vertrauens auf fruchtbaren Boden sowie in einer Gesellschaft mit einer großen Anzahl »kritischer Bürger« oder »unzufriedener Demokraten«, wie Pippa Norris (Critical Citizens: Global Support for Democratic Governance. Oxford University Press 1999) feststellte. Diese würden die Demokratie im Vergleich zu anderen politischen Systemen wertschätzen, sie seien aber nicht zufrieden mit der aktuellen Situation im eigenen Land (dazu auch Radosław Markowski und Michał Kotnarowski: Normatywne i ewaluatywne aspekty stosunku Polaków do demokracji w latach 2012–2015, Studia Socjologiczne 2016, Nr. 4 (223) 2016.).
Um die Einschätzung der Polen zur Rolle der Demokratie in ihrem Land zu verstehen, muss berücksichtigt werden, wie sie die unterschiedlichen Lebensbereiche bei der Bewertung des gegenwärtigen politischen Systems gewichten. Nur 12,5 Prozent der Polen nannten hier »Freiheit, Demokratie, die Chance, sich und seine Meinungen zu auszudrücken«. 22 Prozent nannten den »Lebensstandard, die Warenpreise und die Zugänglichkeit von Dienstleistungen«. Nur in der Slowakei war die Unterstützung für die beiden Aussagen umgekehrt (s. Grafik 6 auf S. 12). Eine signifikante Mehrheit der Befragten nutzte allerdings die Möglichkeit anzugeben, dass ihnen beides wichtig sei. Umso mehr muss die Häufigkeit der Antworten an den beiden Enden der Skala beachtet werden. Nur die Personen mit dezidierten Meinungen wählten nur eine der Optionen. Das Bewusstsein, dass solche Ansichten auftreten, sagt uns etwas mehr über gesellschaftliche Einstellungen sowie über die Bereitschaft, bestimmte Grundsätze der liberalen Demokratie zu nutzen, um die Lebensqualität zu verbessern. Dies kann sich auch in der Unterstützung für Parteien äußern, die in ihrem politischen Programm klar umrissene Ideen im Bereich der Sozialpolitik haben.
Bei der Analyse der Einstellungen der Menschen zur Demokratie in Polen lassen sich schwer die aktuellen Ereignisse ignorieren, die die Qualität der demokratischen Ordnung prägen. Daher wurden die Respondenten um ihre Meinung zu den Reformen der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) gebeten, die auf das Funktionieren demokratischer Institutionen mit Schlüsselbedeutung Einfluss nehmen. Es zeigte sich, dass 50 Prozent der Polen die Reformen nicht unterstützen (32 Prozent lehnen sie deutlich ab). Dagegen sind 35 Prozent gegenteiliger Auffassung (15 Prozent teilen deutliche Zustimmung mit). 15 Prozent wiederum waren nicht imstande, sich auf einer der Seiten zu positionieren. Möglicherweise spiegelt das mehr oder weniger das Niveau der Unterstützung für die PiS wider, das nach der Mehrheit der Meinungsumfragen im Jahr 2017 zwischen 35 und 40 Prozent Unterstützung bei denen oszillierte, die angaben, zur Wahl gehen zu wollen. Darüber hinaus fragten wir die Teilnehmer, ob sie etwas getan haben, um ihre Unzufriedenheit mit bzw. ihre Unterstützung für das Vorgehen der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Hier zeigte sich, dass die deutliche Mehrheit nichts unternommen hat. Allerdings war der Anteil derjenigen, die auf verschiedene Art und Weise gegen Entscheidungen der Regierung protestierten, eindeutig größer als die Anzahl ihrer aktiven Anhänger (s. Grafik 7 auf S. 13).
Das öffentliche Vertrauen
Der Einfluss aktueller politischer Debatten im Zusammenhang mit der Qualität der Demokratie in den untersuchten Ländern wird auch in den Daten sichtbar, die über den Grad des Vertrauens in die wichtigsten öffentlichen Institutionen Auskunft geben. Deutlich niedrige Ergebnisse sind in allen Visegrád-Ländern festzustellen. Von Bedeutung ist allerdings der Unterschied im Vertrauen zu den Institutionen der Europäischen Union in denjenigen Staaten, in denen die EU als einer der Hauptfeinde der heimischen Regierung wahrgenommen wird und in denen diese eine Politik betreibt, die nach Meinung der Mehrheit der einheimischen und ausländischen Experten die Rechtsstaatlichkeit verletzt, so in Polen und in Ungarn (s. Tab. 3 auf S. 13). 52 Prozent der Polen (und 58 Prozent der Ungarn) setzen Vertrauen in die Europäische Kommission und 51 Prozent der Polen vertrauen dem Europäischen Parlament (57 Prozent der Ungarn). In beiden Ländern besteht ebenfalls ein deutlich größeres Misstrauen gegenüber den öffentlichen Medien (Radio und Fernsehen) als in den beiden übrigen Ländern der Region. Vertrauen genießen die öffentlichen Medien bei weniger als 31 Prozent der Polen und 30 Prozent der Ungarn. Auf der anderen Seite ist in den beiden Ländern die Wahrnehmung der Nichtregierungsorganisationen deutlich besser als in den übrigen Visegrád-Ländern. Vertrauen zu solchen Einrichtungen zu haben, erklären fast 60 Prozent der Polen und 58 Prozent der Ungarn. Dies scheint besonders wichtig, wenn man mit einbezieht, dass die Einwohner beider Länder Verleumdungskampagnen ausgesetzt waren, die einen Teil des NGO-Sektors verunglimpften, sowie anderen Aktivitäten, die darauf zielten, die Verwurzelung der NGOs in der Gesellschaft zu zerstören (vgl. den Bericht des EU-Russia Civil Society Forum: 2016 Report on the State of Civil Society in the EU and Russia. Berlin 2017. <http://eu-russia-csf.org/fileadmin/State_of_Civil_Society_Report/18_05_2017_RU-EU_Report_spaudai_Hyperlink_Spread.pdf>). Im Ergebnis scheinen die Einwohner beider Länder weniger anfällig für einen solchen politischen Diskurs zu sein, jedoch bedarf diese Hypothese weiterer Überprüfung.
Am stärksten spürbar scheint jedoch das allgemeine Misstrauen gegenüber den wichtigsten Institutionen der repräsentativen Demokratie zu sein, als da wären die politischen Parteien, das Parlament und die Regierung. Interessant ist ebenfalls die Position der Kirche auf dieser Skala, die gleich nach jenen drei demokratischen Institutionen kommt. Diese Situation ist gerade in Polen verblüffend, wo die überwältigende Mehrheit der Einwohner zur katholischen Kirche gehört, aber 61 Prozent dieser Institution nicht vertrauen (die gegenteilige Haltung vertreten 32 Prozent der Polen). Eine deutlich negative Meinung zum Thema Kirche als Institution spiegelt sich auch in der Antwort auf die Frage wider »Sollen sich die Kirche und religiöse Verbände zu politischen Fragen äußern?« Weniger als 14 Prozent der Polen bejahte dies gegenüber 82 Prozent, die es ablehnten. Dabei waren beide Anteile die höchsten unter den Visegrád-Ländern. Als Erklärung kann herangezogen werden, dass die Polen möglicherweise viel sensibler in dieser Frage sind, weil kirchliche Würdenträger in der heimischen Politik ständig präsent sind.
Letztlich bestätigen die Untersuchungsergebnisse die Trends, die auch in anderen Studien deutlich werden und auf eine wachsende Unzufriedenheit der Polen mit den wichtigsten Institutionen des politischen Lebens hinweisen. Im Laufe der Jahre ließ sich beobachten, dass die Anzahl der Polen geringer wird, die ihr Vertrauen zum Parlament und der Regierung bekunden (wenn sich auch das Niveau des Vertrauens abhängig von der jeweiligen Regierung und dem Zeitpunkt ihrer Amtszeit unterschied), wobei dies nichts über die politischen Parteien sagt, denen unter den abgefragten öffentlichen Institutionen am wenigsten Vertrauen entgegengebracht wird. Auf der anderen Seite ist das wachsende Vertrauen gegenüber den Selbstverwaltungsorganen sichtbar (43 Prozent der Polen vertrauten dieser Verwaltungsebene im Jahr 2002, 64 Prozent waren es im Jahr 2016). Diese Entwicklung kann mit der zunehmenden Rolle der lokalen Organe in Verbindung stehen: Diese befassen sich mit Themen, die dem jeweiligen Bürger am nächsten und am wichtigsten sind; außerdem sind sie verantwortlich für die Vergabe eines großen Teils der europäischen Mittel. Letztlich nehmen die Menschen deren Arbeit unmittelbar wahr, die sich in der Verbesserung der Lebensqualität des Einzelnen auswirkt.
Die hier vorgestellte Untersuchung zeigt außerdem eine interessante Korrelation zwischen dem Niveau des Misstrauens gegenüber bestimmten öffentlichen Institutionen und der Zufriedenheit mit der aktuellen Situation im Land. Personen, die mit ihr unzufrieden sind, geben ein stärkeres Misstrauen gegenüber den zentralen Organen (Parlament, Regierung, Präsident), der Kirche, den öffentlichen Medien, den politischen Parteien und sogar der Polizei an. Auf der anderen Seite ist das Misstrauen gegenüber der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament deutlich höher unter denjenigen, die mit der aktuellen politischen Lage zufrieden sind. Diese Gruppe ist etwas misstrauischer gegenüber den lokalen Organen und (unerheblich) gegenüber den Gerichten (s. Grafik 8 auf S. 14). Dies kann eine weitere Bestätigung des Einflusses politischer Debatten sein sowie auch ein Phänomen der Aufteilung der polnischen Gesellschaft in »politische Stämme«.
Fazit
Die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung bestätigen, dass es ein recht kompliziertes Konzept ist, ein Bürger zu sein, insbesondere ein »aktiver«. Die Polen haben ein deutliches Problem, sich dieses anzueignen. Noch mehr Probleme bereitet ihnen, die sich daraus ergebenden Anforderungen zu erfüllen und tatsächlich aktiv zu werden (was hier aus Platzgründen nicht breiter ausgeführt werden kann). Dem tatsächlichen Engagement ist auch nicht dienlich, dass dieser Bereich des gesellschaftlichen Lebens politisiert worden ist. Ein »aktiver Bürger« zu sein, wird im öffentlichen Diskurs wie auch in der individuellen Wahrnehmung (wobei beide Bereiche miteinander verflochten sind) eher als politische Tätigkeit verstanden. Die Polen assoziieren diese Aktivität weniger mit der Hilfe für Bedürftige, dem Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder der Aktivität für die Gesellschaft vor Ort.
Dieses Verständnis vom aktiven Bürger passt auch nicht zu den Tätigkeiten, die die Polen für sich persönlich als wichtig erachten. Hier schätzen sie mehr solche Formen der Aktivität, die ihnen zumindest teilweise bestimmte reelle Vorteile bringen – und weniger Tätigkeiten, die sich auf ein eher abstraktes öffentliches Interesse gründen. Im Ergebnis achten die Polen mehr auf die Lebensqualität und ihr Wohlbefinden sowie das ihrer Familie. Dies überträgt sich auch auf ihre Bewertung der jüngsten Geschichte, bei der sie die Bedeutung des wirtschaftlichen Wachstums und der in verschiedenen Lebensbereichen eintretenden Modernisierung unterstreichen.
Auch wenn die Mehrheit der Polen (ähnlich wie der Ungarn) die Schwächen der Demokratie in ihrem Land wahrnimmt und erklärt, dass es für seine weitere Entwicklung mehr Demokratie bedarf, schauen sie eher auf den Lebensstandard als auf Rechte und Freiheiten. Wenn es darüber hinaus um tatsächliches Engagement geht, sind sie eher passiv und skeptisch gegenüber der Bedeutung der verbreitetsten Formen zivilgesellschaftlicher Aktivität – und ihres Potentials, Einfluss zu nehmen und Veränderungen herbeizuführen. Es lässt sich also feststellen, dass die Polen einerseits an die Bedeutung der Demokratie glauben, aber nicht fühlen, dass sie einen persönlichen Anteil an ihrer Stärkung haben. Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Befragten ein einheitliches Verständnis von »Demokratie« haben. Ein wesentlicher Teil der Gesellschaft bekennt sich zum Konzept der Demokratie der Mehrheit, das heißt, die politisch Verantwortlichen können alles machen und die Rechte der Minderheit dabei übergehen.
Um ein größeres zivilgesellschaftliches Engagement der Polen zu evozieren, muss das Konzept des aktiven Bürgers entpolitisiert werden. Es sollten Aktivitäten auf verschiedenen administrativen Ebenen unternommen werden, mit dem Ziel, den Polen die Bedeutung eines anderen Demokratiekonzeptes und seine grundlegenden Regeln zu erklären. Die Aktivitäten sollten auch dazu führen, dass das Konzept des zivilgesellschaftlichen Engagements in das normale Leben eingebettet wird und sich als gesellschaftliche Aktivität, Hilfe für Bedürftige und Einsatz für die lokale Gemeinschaft ausdrückt. Nur wenn zivilgesellschaftliche Aktivität auf diese Weise von laufenden politischen Konflikten getrennt wird, ist es möglich, in der Gesellschaft dauerhafte Muster zivilgesellschaftlichen Engagements zu entwickeln. Wenn die Polen letztlich ein stärkeres Gefühl erhalten, selbst wirkende Kraft und Subjekt zu sein, kann das schließlich dazu führen, dass sich ihre Beurteilung des Funktionierens der Demokratie in Polen verbessert.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate