Jeder Staat in Europa sollte eine eigene Vision von Europa haben, die er nicht nur im Inneren, sondern auch international zur Diskussion stellt. Zu einer solchen eigenen Vision von Europa gehört die Antwort auf die Frage, welche Rolle bei der Realisierung der eigenen Interessen anderen Staaten zugeschrieben wird, insbesondere den Nachbarn. Es kann also kein polnisches Konzept von Europa geben, wenn es keine polnische Vision von Deutschland in Europa gibt. Anders gesagt, wenn es keine Antwort auf die Frage gibt »Wozu brauchen wir Deutschland?«.
Die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts kennzeichnete der deutsch-polnische Antagonismus, der seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert andauerte. Das, was als Fluch der polnischen Geopolitik bezeichnet wurde, war durch die Lage zwischen Deutschland und Russland definiert. Die Teilungen der früheren Republik (poln. rzeczpospolita) und der Verlust des eigenen Staates in einer Zeit, als sich die modernen Nationen herausbildeten, übten einen entscheidenden Einfluss auf die polnischen politischen Vorstellungen und das politische Denken aus. Deutschland wurde in diesen Vorstellungen zur feindlichen Macht. Auch warf die Lage »zwischen Russland und Deutschland« beständig die Frage auf, welche der beiden Mächte als die gefährlichere zu betrachten sei.
Wenn jemand Russland wählte, waren Komplexe und ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Deutschland der Grund. Deutschland vollzog im 19. Jahrhundert einen zivilisatorischen Sprung, dank dessen es in wirtschaftlicher Hinsicht die meisten polnischen Lande überholte. Die Deutschen fanden Anschluss an den Westen (der Begriff des Westens wurde im 18. Jahrhundert und endgültig im 19. Jahrhundert geprägt) und die Polen konnten neidisch auf die industrielle und urbane Entwicklung Deutschlands blicken, die in den polnischen Gebieten langsamer vonstattenging. Sie konnten auch neidisch auf die Effektivität des im Jahr 1871 gegründeten deutschen Kaiserreiches bismarckscher bzw. wilhelminischer Prägung blicken, dessen funktionierender Rechtsstaat in einem gewissen Umfang die traurigen Folgen für die Polen im preußischen Teilungsgebiet milderte. Derlei Komplexe hatten die Polen gegenüber Russland nicht. Ein Teil des russischen Teilungsgebietes (das sogenannte Kongresspolen) gehörte zu den am meisten entwickelten Gebieten im Zarenreich und die polnischen Eliten hatten gegenüber den Russen eher ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit, unter anderem mit Blick auf die Gegenüberstellung von polnischem Freiheitsgefühl und russischem »Untertanengeist.« Die russische Alleinherrschaft mit ihrer repressiven Politik machte Russland zu einem viel bedrohlicheren Feind.
Der Erste Weltkrieg veränderte die Beurteilung Deutschlands und Russlands nicht. Die deutsche Politik während des Ersten Weltkrieges erleichterte Polen in gewissem Sinne, seine Unabhängigkeit zu erlangen, auch wenn die Weimarer Republik später die neue deutsch-polnische Grenze nicht anerkannte. Mit (dem bolschewistischen) Russland war Polen dagegen gezwungen, einen Krieg zur Verteidigung seiner Unabhängigkeit auszutragen, und die Bolschewisten zogen rasch die Landkarte der territorialen und imperialen Expansion der Zarenzeit hervor. Die Äußerung »Bastard des Versailler Vertrages« kam aus dem Mund eines russischen und nicht eines deutschen Politikers. Die Deutschen blieben also immer noch bedrohlich, aber die Russen noch bedrohlicher.
Eine Folge des Zweiten Weltkrieges war zunächst eine Verschiebung der Akzente. Das Dritte Reich hatte auf polnischem Gebiet unermessliche Verbrechen begangen. Die lange Besatzung zentraler polnischer Gebiete bewirkte, dass das Bild des bösen Deutschen das Bild des bösen Russen überwog. Der Ende des Warschauer Aufstands geschriebene Vers »ich erwarte dich, rote Pest, damit du uns vom schwarzen Tod erlösest«, gaben die Tragik der Situation wider. Hinzu kam gleich nach dem Krieg die antideutsche Propaganda, die lange währte und zum Ziel hatte, das System der kommunistischen Machthaber in Polen zu legitimieren.
Auch wurden die Polen mit der Möglichkeit erpresst, die ehemaligen deutschen Gebiete zu verlieren, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen hatten und für die Stalin der Garant war. Ohne diese Gebiete wäre Polen auf ein Territorium ungefähr von der Größe Kongresspolens reduziert worden. Paradoxerweise retteten Stalins Pläne Polen vor einem solchen Los, wenn auch nicht, um Polen einen Gefallen zu tun. Unsicher, wie sich die Situation in Deutschland entwickeln würde, entschied er, Polen die ostdeutschen Provinzen (den größeren Teil Ostpreußens, Niederschlesien und Pommern) zuzuteilen. In den Augen der westlichen Alliierten sollte dies eine Rekompensation für die von Polen hinter der Curzon-Linie verlorenen Gebiete sein. Für Stalin, der mit Sicherheit die Notwendigkeit einer Rekompensation nicht sah (denn er betrachtete die Eingliederung der östlichen Gebiete der Zweiten Republik Polen in das sowjetisch-russische Imperium als vollkommen gerechtfertigt), sollten die abgetretenen Ostgebiete Deutschlands an Polen dauerhaft einen deutsch-polnischen Antagonismus aufbauen und Warschau auf Dauer in die Umarmung Moskaus zwängen.
Es gelang Stalin allerdings nicht, diesen Effekt zu erzielen, es sei denn auf historisch sehr kurze Sicht. Für die kommunistischen Regierungen in Polen war die deutsche Gefahr eine der Hauptquellen der eigenen Legitimation, jedoch konnte die Gesellschaft die sowjetische Dominanz nicht als dauerhafte Lösung annehmen. Daher wurde die Situation Polens, von der Sowjetunion dominiert zu sein, aber auch recht wirksam mit der deutschen Gefahr erpresst zu werden, zumindest in den Kreisen der Opposition und der unabhängig denkenden polnischen Eliten als Lage zwischen zwei feindlichen Mächten definiert. Diese Definition der geopolitischen Lage schien der Phase nach 1945 sogar angemessener zu sein als in Bezug auf das 19. Jahrhundert. Der Hitler-Stalin-Pakt, dessen Bedeutung man lange zu verbergen versuchte, wurde zum Symbol dieser Lage, wobei Stalin in diesem bedrohlichen Duett als der tückischere und bis zu einem gewissen Grad feindlichere erscheinen konnte.
Der Zusammenbruch des Kommunismus schuf eine neue Konstellation in Ostmitteleuropa. Die lang dauernde russisch-sowjetische Dominanz und die tiefgehenden Veränderungen in Deutschlands westlichem Teil bewirkten allmählich Veränderungen in der Wahrnehmung der polnischen geopolitischen Lage. Man begann in Polen, sie nicht nur mit Hilfe der Geographie, sondern vor allem mit Hilfe der politischen Konstellation zu definieren. Dabei war in der polnischen Gesellschaft das Gefühl der tatsächlichen deutschen Gefahr schon in der Zeit vor 1989 schwächer geworden, während der Widerstand gegenüber der sowjetischen Dominanz gewachsen war. Die Abneigung gegenüber den Deutschen, das Relikt des ehemaligen Gefühls der Bedrohung, wurde langsam durch ein Gefühl des Neides angesichts des großen wirtschaftlichen Erfolges der »Bonner Republik« ersetzt. Deutschland wurde in den Augen der Polen ein Teil des Westens, dem man sich anschließen wollte, wobei man sich von der russischen (sowjetischen) Dominanz befreien konnte. Der Beitritt Polens zur NATO und anschließend zur Europäischen Union veränderte die geopolitische Situation Polens grundlegend und gebot, die Position unseres Landes in Europa und in der Welt neu zu definieren, und zwar als Grenze des Westens. Die Annäherung an und das Bündnis mit Deutschland wurden zu einem wesentlichen Faktor dieser Veränderung. Die Definition der geopolitischen Lage Polens als »zwischen zwei feindlichen Mächten« schien dagegen vollständig ad acta gelegt worden zu sein. Ganz so war es jedoch nicht.
Das Intermarium-Konzept
Polen wurde in den Jahren 1989 bis 2015 zu einem Grenzland des Westens, mit Staaten an seiner östlichen Seite, die aus der Dominanz des schwächer werdenden russischen Imperiums hervortraten. In dieser Situation konnten einige alternative Projekte entstehen, die der polnischen Außenpolitik eine Richtung geben sollten.
Die Kraft der historischen Vorstellungen pflegt riesig zu sein. Häufig überrascht es, nach wie langer Zeit politische Gemeinschaften zu Vorstellungen und Ängsten zurückkehren, die schon lange vergessen schienen. Manches Mal geht es auch nicht um vergessene Vorstellungen, sondern um solche, die längere Zeit unmöglich zu realisieren waren, so dass sie keine Beachtung mehr fanden und nur noch als Bilder einer abgeschlossenen Vergangenheit behandelt werden. Trotzdem sind Vorstellungen, die mit Ängsten unterfüttert sind, fähig, in bestimmten Situationen zurückzukehren. Der Verlust des eigenen Staates, die Teilungen, das ganze 19. Jahrhundert, der erneute Verlust der Selbständigkeit als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges waren mit Sicherheit entscheidend für das tief sitzende polnische Trauma. Auch wenn das Jahr 1989 und die nachfolgenden Ereignisse seine Hauptursachen beseitigten, blieb es eine offene Frage, wie mit dem Trauma weiter umzugehen.
Eine Art und Weise, mit einem Trauma zurechtzukommen, ist der Wunsch der »Rückkehr in die Vergangenheit«, damit sich die Dramen der Vergangenheit nicht wiederholen. Zu dieser Art des Umgangs mit dem polnischen Trauma wurden die Konzepte, die sich mit der Intermarium-Idee (poln. międzymorze) assoziieren lassen. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, die ganze Erfahrung der Teilungen in einen Heldenmythos umzuwandeln, sowie der Wunsch der Rückkehr der ehemaligen Rzeczpospolita und die Träume von einem so Großen Polen, auf dass es sicher sei. Natürlich sagt die Vernunft, dass dies im wörtlichen Sinne unmöglich ist. Deshalb nehmen die daran anknüpfenden Gruppen auch eine gewisse Modifikation vor, indem sie Warschau die führende Rolle im Konzert der ostmitteleuropäischen Staaten zuschreiben, das angeblich in naher Zukunft entstehen soll. Statt der Republik beider Nationen (poln. Rzeczpospolita Obojga Narodów) werden Lösungen in Varianten des Intermarium-Konzeptes gesucht, denen zufolge Warschau mindestens die Rolle des Koordinators spielen sollte.
Die Tatsache, dass ein potentieller Partner für ein solches kollektives Konzert allein Budapest ist (und dazu ein zweifelhafter Partner), stört die Anhänger des Intermarium-Konzeptes keineswegs. Ihre retrogressive Phantasie lässt sich von Bildern einer imaginierten Vergangenheit leiten, die sich nicht besonders um die Realität kümmert. Dass Staaten wie die Ukraine, Rumänien oder Bulgarien zwangsläufig eine eigene Vision des Schwarzen Meeres haben und mit verständlicher Distanz nach Norden und auf die Ostsee blicken, scheinen die Anhänger des Międzymorze völlig außer Acht zu lassen. Im Hintergrund der Vorstellungen der Anhänger des Międzymorze hängt die Landkarte der ehemaligen Rzeczpospolita, ein nostalgisches Bild einer großartigen Vergangenheit, das kraft kolossaler Vereinfachungen mit der Geschichte Polens gleichgesetzt wird. Auf dieser Landkarte des imaginierten, fast einem Imperium gleichkommenden politischen Gebildes reicht Polen von Meer zu Meer und es bedarf nur ein wenig politischer Anstrengung und Absicht, um eine ähnliche Verbindung zu wiederholen.
Diese vorgestellte Landkarte, die die Vorstellung der Międzymorze-Anhänger leitet, besitzt noch ein Charakteristikum. Und zwar reicht sie weit nach Osten, aber Deutschland gibt es auf ihr nicht. In dieser historischen Phantasie muss man sich mit Deutschland auf keinerlei Weise befassen, denn die »Große Rzeczpospolita« hatte sich auch nicht mit Deutschland befasst. Die Anhänger des Intermarium-Konzeptes übergehen auch leichthin, dass ein Drittel des gegenwärtigen polnischen Territoriums ehemalige deutsche Gebiete sind, und schauen gleichzeitig mit einer Träne im Auge auf das heute ukrainische Lemberg (poln. Lwów, ukr. Lwiw) oder das heute litauische Wilna (poln. Wilno, lit. Vilnius).
Diese retrogressive Nostalgie wurzelt dennoch in der Vorstellung, dass Polen immer noch zwischen zwei großen Mächten liegt. Ihre Quelle ist die traumatische Angst, dass die Bedrohung immer noch andauert und man sie bekämpfen muss. Dies soll dadurch geschehen, dass in Ostmitteleuropa ein selbständiger politischer Organismus aufgebaut wird, der fähig ist, sich sowohl Russland als auch Deutschland entgegenzustellen und Polen vor ihnen zu schützen sowie eigentlich auch vor dem trügerischen, die Polen nicht verstehenden Westen.
Die Anknüpfung an den Mythos der Zweiten Republik
Diese retrogressive Art und Weise, über die Lage Polens zu denken, ist mit der Verdrängung der Erinnerung an die Zweite Republik verbunden, die sich tatsächlich zwischen zwei feindlichen und aggressiven Mächten befand. Ihre bedeutendsten Politiker waren sich dessen sehr deutlich bewusst.
Der Zweiten Republik wurde zum Vorwurf gemacht (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg von der nationaldemokratischen Emigration und den Kommunisten), dass ihre Außenpolitik mit einer Niederlage und Katastrophe geendet hatte. Dieser Vorwurf ist aber insofern ungerecht und unbegründet, als das Schicksal der Zweiten Republik zwar tatsächlich tragisch, dies aber in der damaligen Zeit vielleicht nicht zu vermeiden war. Die regierenden Eliten erreichten zumindest so viel, dass die Zweite Republik dank der Verbündeten der westlichen Länder nicht vollständig isoliert war. Gleichzeitig zeigten die politischen Versuche und Vorhaben der Zweiten Republik, einen Block der mitteleuropäischen Staaten aufzubauen, keine Wirkung. Versuche solcher Bündnisse mit Ungarn oder Rumänien erlaubten es allein, einen Teil der polnischen Eliten nach dem September 1939 vor den deutschen und sowjetischen Repressionen zu retten, was wiederum ermöglichte, ein relativ starkes Machtzentrum in der Emigration zu schaffen.
Was man dagegen einem Teil der politischen Milieus der Zweiten Republik vorwerfen kann, ist die überspannte Vorstellung von der eigenen Größe. Dies waren eben die Träume vom »großen Polen«, von einem Polen als einer Großmacht oder dem Polen »zwischen den Meeren«. Diese Vorstellungen wiederum waren auch stark von den historischen Bezügen zur ehemaligen Rzeczpospolita motiviert – meistens aber nicht einmal der Republik beider Nationen, sondern lediglich der einen Nation. Nicht die Tragödie der Zweiten Republik selbst kann den heutigen Erforscher ihrer Vergangenheit schockieren, sondern das nicht Wahrnehmen der Möglichkeiten der Tragödie und das Ersetzen der Vorstellungen von den tatsächlichen Gefahren durch Träume von ihrer Macht.
Die heutigen Anhänger des Intermarium-Konzeptes berufen sich gern auf die Zweite Republik. Die Erinnerung an sie war wertvoll in der Zeit, als die kommunistischen Machthaber viel taten, um den unabhängigen polnischen Staat, der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen existierte, auf verschiedenste Weise zu diffamieren. Nach 1989 wurde keine ernsthafte Diskussion über die Geschichte der Zweiten Republik geführt. Sie blieb vor allem in der Sphäre des Mythos. Sie umgibt eine ähnlich unbestimmte Nostalgie wie die ehemalige Rzeczpospolita. Aus ihren Fehlern wurden fast keine Lehren gezogen – so wie man auf den Sockel eines Denkmals auch nichts von den Fehlern der Person schreibt, die auf ihm steht.
Die gegenwärtigen Anhänger des Intermarium-Konzeptes wollen dagegen beinahe unbewusst das Drama der Zweiten Republik ein zweites Mal spielen und nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass es schon einmal mit einer Tragödie endete. Ihnen scheint, dass es dieses Mal schon irgendwie gelingen wird, denn es gibt keinen Hitler und keinen Stalin mehr. Ihrer Ansicht nach kann Polen also einen unabhängigen geopolitischen Raum konstruieren, dieses Mal zwischen Russland und dem Westen, und auf diese Weise am besten seine Interessen auf der Bühne der internationalen Politik sichern. Das, was den Politikern der Zweiten Republik nicht gelang, werden uns die gegenwärtigen Anhänger des Intermarium-Konzeptes vollenden.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob sie nicht die alten Fehler wiederholen und die Gefahren provozieren, die sie eigentlich abwenden wollen. Müsste zu diesen Fehlern nicht das Konzept gezählt werden, Sicherheit für Polen zu schaffen, indem ein in gewissem Maße selbständiges Ostmitteleuropa aufgebaut wird, das gleichzeitig in Opposition sowohl zum Osten als auch zum Westen steht? Ein Element dieser retrogressiven Vision der polnischen Außenpolitik wäre auch, das exotische Bündnis mit London zu pflegen und die Bedeutung der Beziehungen mit Deutschland für Polen vollständig außer Acht zu lassen. Deutschland ist diesen Visionären für ihre Pläne des »Intermarium« vollkommen unnötig. Auch wenn man es nicht feindselig behandelt, scheint man es ganz einfach ignorieren zu können.
Gedankenspiele über den deutsch-polnischen Antagonismus
Im Hintergrund dieser retrogressiven Vorstellungen von der polnischen geopolitischen Lage steht die tief verwurzelte Vorstellung von der polnischen Vergangenheit. Kaum jemand bemerkt, inwiefern der Streit zwischen der jagiellonischen und der piastischen Konzeption, der in gewissen Abständen im polnischen öffentlichen Diskurs wieder aufgegriffen wird, vollkommen anachronistisch ist, wenn man die aktuellen polnischen Grenzen berücksichtigt. Politische Inspirationen werden häufig ausschließlich in den Antiquariaten gesucht und die gefundenen Ideen wie ein Orakel behandelt. Von der Vergangenheit kann man sich aber auch auf andere, kreativere Art und Weise inspirieren lassen, indem man nicht nur fragt, wie sie war, sondern auch, welche Möglichkeiten sie in sich barg. Diese Art zu denken kann auch eine Voraussetzung für die Antwort auf die Frage »wozu brauchen wir Deutschland?« schaffen.
Die kommunistische Propaganda zwischen 1945 und 1989, die dabei übrigens auf frühere Vorstellungen zurückgriff, sprach vom tausendjährigen deutsch-polnischen Konflikt, der seit Beginn der polnischen Staatlichkeit gedauert habe. Dieser Vorstellung sollte zum Beispiel die angebliche Annahme des Christentums im 10. Jahrhundert allein durch die Tschechen und nicht durch die Deutschen dienen; auch wurden unbedeutenden militärischen Episoden eine Bedeutung zugeschrieben, beispielsweise der Schlacht von Zehden (poln. Cedynia). Der spätere Verlust Schlesiens wurde als deutsche Expansion interpretiert und nicht bemerkt, dass dort die ganze Zeit piastische Geschlechter geherrscht hatten (wenngleich kulturell zunehmend germanisierte). Übergangen wurde auch die Tatsache, dass die Grenze zwischen der polnischen Krone und dem Heiligen Römischen Reich von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine der beständigsten und friedlichsten Grenzen auf dem europäischen Kontinent war. (Deutschland existierte im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht als homogener staatlicher Organismus. Daher kann man auch das sogenannte Alte Reich, ab Beginn des 15. Jahrhunderts inoffiziell und ab dem 17. Jahrhundert offiziell Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation genannt, nicht als einen solchen betrachten.)
Übereinstimmend mit dieser Denkungsart wurde der Konflikt zwischen Polen, Litauen und dem Deutschen Orden im späten Mittelalter als »deutscher Angriff« interpretiert und die preußische Huldigung im Jahr 1525 als politischer Fehler. Dabei wurde vergessen, dass sich die Emanzipation des Herzogtums Preußen von der polnischen Krone infolge der Kriege mit Schweden vollzog und eine Folge der Schwächung der Rzeczpospolita war.
Für den fehlenden deutsch-polnischen Antagonismus in der frühen Phase der Moderne kann unter anderem die Wahl der sächsischen Wettiner auf den polnischen Thron stehen. Ganz offensichtlich wurde die westliche Grenze der Rzeczpospolita jahrhundertelang nicht als Grenze mit Deutschland wahrgenommen, sondern mit einem Konglomerat verschiedener Staaten und Kleinstaaten, die Teil des damaligen Reiches waren. Das damalige Sachsen schien mit Blick auf seine natürlichen Ressourcen am stärksten wirtschaftlich entwickelt zu sein und konkurrierte zunächst erfolgreich mit Preußen. Allerdings erwies sich gerade Preußen dank seiner inneren Organisation des Staates und der Armee als deutlich »moderner« und machte eine atemberaubende Karriere auf der internationalen Bühne, indem es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutsche Länder unter eigener Führung vereinigte.
In der Regel sind Spekulationen auf dem Feld der sogenannten kontrafaktischen Geschichte (if-history) lehrreich. Man kann sich fragen, wie sich die Geschichte weiterentwickelt hätte, wenn sich die politischen Eliten der damaligen Rzeczpospolita nicht für das Bündnis mit den Wettinern, sondern mit den preußischen Hohenzollern entschieden hätten. Es ist wahrscheinlich, dass es dann zur »Polonisierung« Preußens gekommen wäre, denn die slawische Ethnie war noch recht stark auf dem größten Teil des Territoriums des damaligen brandenburgisch-preußischen Staates. Es hätte auch zu einer Synthese zweier Konzeptionen der Aufklärung kommen können, die die Kultur des damaligen Warschau und des damaligen Berlin vertraten. Das republikanische Konzept der Aufklärung, das aus der Adelskultur erwuchs und den Akzent auf die bürgerlichen Freiheiten legte, hätte sich mit den Konzepten des modernen Staates, die die preußische Aufklärung repräsentierte, verbinden können. Natürlich lassen sich auch leicht die Spannungen vorstellen, die eine Reform à la Friedrich der Große in der vom Sarmatismus durchtränkten Republik hervorgerufen hätte. Anstatt der Hohenzollern hatte die Rzeczpospolita allerdings die Wettiner, die bei der Umsetzung von notwendigen Systemreformen unbeholfen waren und sich eher um ihre dynastischen Interessen kümmerten.
Natürlich kann man lediglich spekulieren, ob die Vermählung der Hohenzollern mit der polnischen Krone glücklicher gewesen wäre. Dafür muss man sich vorstellen, dass es weder zu den Teilungen der Rzeczpospolita noch zur Vereinigung Deutschlands unter der Ägide der Hohenzollern in fernerer Zukunft hätte kommen müssen. Nimmt man dieses Szenario an, würde heute niemand in Polen sagen, dass die preußische Huldigung ein Fehler war.
Solche Spekulationen haben, wenn sie keine hohlen Phantasien sein sollen, nur dann Bedeutung, wenn sie zu verstehen helfen, was sich tatsächlich ereignete, und wenn sie gleichzeitig veranschaulichen, dass Geschichte ein Feld politischer Entscheidungsfreiheit von ungeheurer Bedeutung ist und nicht ausschließlich der Determiniertheit und Unausweichlichkeit. Naturgemäß wissen wir nicht und können wir nicht erfahren, ob die preußisch-polnische Union anstelle der polnisch-sächsischen die Geschichte Europas grundlegend verändert hätte und das geopolitische Schicksal von Polen abgewendet hätte. Die Schlussfolgerung aus diesen Spekulationen kann nur eine sein: Unsere westliche Nachbarschaft hätte in der Geschichte Polens eine vollkommen andere Rolle einnehmen können, als es im 19. Jahrhundert und in einem bedeutenden Teil des 20. Jahrhunderts der Fall war. Mit dieser Feststellung kehren wir in die Gegenwart zurück.
Die notwendige deutsch-polnische Zusammenarbeit in der europäischen (Ost-)Politik
Im Jahr 2005, fast gleichzeitig mit dem Beitritt Polens zur EU, fand noch ein anderes Ereignis statt, das ebenfalls einen nicht geringen Einfluss auf die Wahrnehmung der polnischen Lage hatte. Es war die Orange Revolution in der Ukraine. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der im Dezember 1991 vollzogen worden war, schien noch ein unbeständiger und umkehrbarer Prozess zu sein, daher war Warschau auch der erste Staat, der – man kann sagen instinktiv – die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannte.
Dieselbe politische Intuition müsste soufflieren, dass die Unabhängigkeit der Ukraine und die Frage der deutsch-polnischen Beziehungen eng miteinander verknüpfte Angelegenheiten sind, wenn man sie vom polnischen Standpunkt aus betrachtet. Um das wahrzunehmen, müssen jegliche jagiellonische oder piastische Konzeptionen abgelegt werden. Dass sich auf der Bühne der internationalen Politik ein so wesentliches Subjekt herausgebildet hat, wie es die Ukraine ist, schafft auch für die Beziehungen Polens zu Deutschland einen neuen Kontext von kapitaler Bedeutung. Dies nicht wahrzunehmen, ist nichts anderes als politische Blindheit.
Die Unabhängigkeit der Ukraine aufrechtzuerhalten, wird Polen Sicherheit garantieren, die aber nur bei aktiver Unterstützung vonseiten Berlins möglich ist. Deutschland wurde übrigens zu einem Land, das Kiew unterstützt, indem es unter anderem Sanktionen gegenüber Moskau als Antwort auf dessen Aggression auf der Krim und im Donbass befürwortete.
Polen ist aus vielerlei Gründen, unter anderem aufgrund seiner eingeschränkten wirtschaftlichen Ressourcen, nicht befähigt, Kiew angemessen starke Unterstützung zu gewähren. Es hat aber ein wesentliches kulturelles Potential, das es nutzen könnte, um die Ostpolitik der Europäischen Union zu gestalten. Allerdings muss man festhalten, dass die Bedingung für die Wirksamkeit solcher Aktivitäten die Zusammenarbeit mit Berlin ist. In Berlin werden die Fragen der Ostpolitik der Europäischen Union in einer Weise behandelt, die der polnischen Konzeption viel näher ist, als es in Paris oder London, geschweige denn in Wien oder Rom der Fall ist.
Oberflächlich kann man dem widersprechen, indem man auf die prorussischen Sympathien in Deutschland verweist. Im Grunde kann dies das Argument sein, umso enger mit Deutschland zusammenzuarbeiten, um es von diesen Sympathien abzubringen. Auch dass für Kiew Berlin ein deutlich wichtigerer Partner ist als Warschau, wird als Ergebnis außenpolitischer Fehler der Vorgängerregierungen betrachtet und nicht als eine verständliche Konstellation, in die man sich einbringen und die man nicht ausschließlich kritisieren sollte. Um die Unterstützung der EU für die Ukraine aufrechtzuerhalten, ist ja eine aktive Rolle Berlins notwendig, zumal es über entsprechende Ressourcen verfügt. Eine Konkurrenz Warschaus mit Berlin anstelle einer engen Zusammenarbeit hat in dieser Hinsicht keinerlei Sinn.
Mit Blick auf eine aktive polnische Außenpolitik muss also festgestellt werden, dass Warschau Berlin unbedingt braucht.
Wiederholen wir noch einmal die Frage: »Wozu brauchen wir Deutschland?« Die kürzeste Antwort könnte lauten: »um uns vom polnischen Fatum unserer geopolitischen Lage zu befreien«. Oder auch: »um nicht die Peripherie Europas zu sein«. Oder auch deshalb, »um nicht erneut in die Einflusssphäre Moskaus zu geraten«. Man kann das politische Projekt und die Vorstellung vertreten, dass Polen Deutschland nicht notwendig braucht, allerdings muss man sich dann bewusst machen, dass das in unserem Teil Europas die Frage nach sich zieht: Wenn nicht mit Deutschland, mit wem dann?
Sogar ein Gebilde wie Westeuropa kann in der heutigen Welt nicht vollkommen selbständig sein. Es braucht unbedingt einen Verbündeten wie die Vereinigten Staaten, um seine Selbständigkeit aufrecht zu erhalten. Die Vorstellung, dass Polen seine Unabhängigkeit mehr mit Hilfe eines ostmitteleuropäischen Staatenbündnisses als dank des Westens (was für Polen vor allem die Verbindung mit Deutschland bedeuten würde) aufrechterhält und die Vereinigten Staaten dieser Region gesondert eine solche Unterstützung zuteilwerden lassen, wie sie sie Westeuropa (bisher) zukommen lassen, scheint ein Konzept zu sein, dass jeglicher Grundlagen entbehrt.
Der Ausgangspunkt dieses Essays war die Feststellung, dass jeder Staat in Europa ein eigenes Europakonzept besitzen sollte, das er nicht nur im Inneren, sondern auch international zur Diskussion stellt. Zu einem solchen Konzept gehört unabdingbar festzustellen, welche Rolle den anderen Staaten bei der Realisierung der eigenen Interessen zugeschrieben wird, insbesondere den Nachbarn. Es ist daher kaum möglich, über eine polnische Europakonzeption nachzudenken, wenn diese nicht eine eigene polnische Vision von der Rolle Deutschlands in Europa berücksichtigt.
Letztendlich lautet also die Antwort: »Wir brauchen die Deutschen, um gemeinsam mit ihnen Europa aufzubauen.«
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate