Realisiert Mateusz Morawiecki den »Morawiecki-Plan«? Die Wirtschaftspolitik der PiS-Regierung nach zweieinhalb Jahren im Amt

Von Rafał Riedel (Universität Oppeln, Oppeln)

Zusammenfassung
Schon im Jahr 2016 wurde von der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) die »Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung« vorgestellt. Das Hauptziel ist, die Polen vor der Falle des mittleren Einkommens, der Durchschnittlichkeit des Produkts, des fehlenden Gleichgewichts, vor der demografischen Falle und der Falle der schwachen Institutionen zu schützen. Als konkretere Ziele setzt die Strategie die Schaffung von guten Einkommensbedingungen für die Einwohner Polens bei gleichzeitigem Anstieg der sozialen, ökonomischen und territorialen Kohäsion. Der Autor kommt zu dem vorläufigen Schluss, dass die Geschwindigkeit, den Rückstand der polnischen Wirtschaft aufzuholen, ungefähr auf dem durchschnittlichen Niveau der beiden vorangegangenen Jahrzehnte bleibe. Verändert wurde allerdings die Allokation der Ressourcen: Die reichen Polen zahlen mehr Steuern, die armen weniger. Betrachte man jedoch die grundlegenden Ziele der Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung, erbringe die bisherige Anwendung der Wirtschaftspolitik der PiS keine qualitativen Veränderungen.

Die Regierungszeit von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) in Polen ist eine Phase radikaler Veränderungen, auch im Bereich der Wirtschaft. Viele angegangene Reformen lösen in der öffentlichen Debatte Kontroversen und sehr häufig auch extreme Emotionen aus. Bereits während der Wahlkämpfe zu den Präsidentschafts- und den Parlamentswahlen (2015) erfuhren viele Vorschläge der Partei von Jarosław Kaczyński extreme Beurteilungen – von Euphorie der Anhänger eines »sozialen Polen« bis zur vereinten Kritik der Anhänger eines »liberalen Polen«. Aber die Linien der Polarisierung in der polnischen Gesellschaft sind deutlich komplizierter, als es zunächst den Anschein hat, und auch weniger lesbar, als es die soziopolitische Logik der Rechts-Links Einteilung erwarten ließe. Dies spiegelt sich in der Politik der Partei wider, was schon daran zu erkennen ist, dass die regierende Partei, die allgemein als ideologisch rechts eingeordnet wird, deutlich linke Ansichten im Bereich der Wirtschaft präsentiert. Diese scheinbare Diskrepanz findet sich auch in den Einstellungen der breiten Wählerschaft der PiS wieder, die sich auf der einen Seite auf konservative, religiöse und nationale Gefühle beruft und auf der anderen Seite auf den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit, auf Regeln des Wohlfahrtsstaates und der gesellschaftlichen Umverteilung.

Mit Blick auf die wirtschaftliche Rhetorik ist hinzuzufügen, dass die PiS u. a. auf einer Welle von Ressentiments an die Macht kam, die durch Unzufriedenheit über die Kosten der sozioökonomischen Reformen unter den sogenannten Transformationsverlierern beschworen wurden. Hinzu kamen Elemente des Wirtschaftspatriotismus und die Infragestellung vieler Aspekte der Transformation. Als Konsequenz finden sich im Programm der PiS auch Vorschläge wie eine Handelssteuer, die im Geiste des ökonomischen Nationalismus große, vor allem ausländische Handelsketten treffen soll, die Repolonisierung der Banken oder das Handelsverbot am Sonntag, das von einer familienfreundlichen Politik und religiösen Argumenten getragen wird.

Ein Teil des Wirtschaftsprogramms der PiS wurde schon unter Ministerpräsidentin Beata Szydło (2015–17) umgesetzt, andere Elemente erst unter der Führung von Mateusz Morawiecki (seit Herbst 2017), der von Jarosław Kaczyński selbst als der Begabteste in der polnischen Politik nach 1989 bezeichnet wurde. Der Wechsel auf dem Posten des Ministerpräsidenten erbrachte keine grundsätzlichen Veränderungen in der allgemeinen Richtung der Wirtschaftspolitik in Polen seit 2015. Die um die Jahreswende 2017–18 vorgenommene Regierungsumbildung hatte den Abgang von Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, Außenminister Witold Waszczykowski, Gesundheitsminister Konstanty Radziwiłł und Umweltminister Jan Szyszko zur Folge. Es handelte sich also nicht um Wechsel in typischen Wirtschaftsressorts, wenn auch die Bedeutung der Verteidigung oder des Gesundheitswesens für die Wirtschaft nicht gering zu schätzen ist. Unabhängig davon, ob Beata Szydło Regierungschefin war oder Mateusz Morawiecki der Regierung vorsteht, ist das Gesicht und der Autor der Wirtschaftspolitik der PiS immer letzterer gewesen. Schon im Jahr 2016 wurde der »Plan für eine Verantwortungsvolle Entwicklung« (Plan na rzecz Odpowiedzialnego Rozwoju) veröffentlicht, der nach Konsultationen zwischen den Ressorts die offizielle Strategie der Regierung unter dem Titel »Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung« (Strategia na rzecz Odpowiedzialnego Rozwoju – SOR) wurde. Das Hauptziel ist, die Polen vor der Falle des mittleren Einkommens, der Durchschnittlichkeit des Produkts, des fehlenden Gleichgewichts, vor der demografischen Falle und der Falle der schwachen Institutionen zu schützen (vgl. Polen-Analysen Nr. 194).

Als konkretere Ziele setzt die Strategie die Schaffung von guten Einkommensbedingungen für die Einwohner Polens bei gleichzeitigem Anstieg der sozialen, ökonomischen und territorialen Kohäsion. Die Strategie geht davon aus, dass das verfügbare durchschnittliche Bruttoeinkommen der Haushalte per capita nach Kaufkraftparität im Jahr 2030 100 Prozent des EU-Durchschnitts betragen wird – gegenüber dem Basiswert von 69 Prozent im Jahr 2014. Ein weiterer angenommener Effekt der Umsetzung der Strategie ist die Verringerung des Anteils derjenigen, die von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht sind. Dieses Entwicklungsszenario ist, wie es im Strategiepapier selbst benannt wird, von »Entwicklungsfallen« bedroht. Die Beschränkungen, die nach der Diagnose Morawieckis die polnische Wirtschaft in der Falle des mittleren Einkommens ersticken, sind die Abhängigkeit der Entwicklung vom Ausland (die Falle des fehlenden Gleichgewichts), von der Durchschnittlichkeit des Produkts, von demografischen Problemen, von der Schwäche der staatlichen Institutionen und von den Kosten für die Bedienung der Kredite der öffentlichen Hand. Die Befreiung aus diesen Fallen bedeutet die Befreiung des eigenen Potentials, das zugunsten der Entwicklung Polens und der Verbesserung der Lebensqualität der Polen arbeiten sollte. Die fünf Säulen, auf die sich die zukünftige Entwicklung Polens stützen soll, sind die Reindustrialisierung, Innovationen, der Aufbau von Sparvermögen und in der Folge einer ausbaufähigen Kapitalbasis, die Unterstützung des Exports sowie die soziale und regionale Entwicklung.

Natürlich ist die Perspektive des Jahres 2018 zu kurz, um die in der Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung bis 2030 aufgestellten Ziele zu überprüfen. Auch ist eine Verifizierung aller im Dokument genannten Bereiche nicht möglich, zumal die Ziele in vielen Fällen recht allgemein formuliert wurden. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die makroökonomischen Basisfaktoren Polens aus der Perspektive der Wirtschaftspolitik der neuen Regierung betrachtet werden sollten.

Die Dynamik des Bruttoinlandsprodukts vor dem europäischen Hintergrund

Unter Berücksichtigung, dass die Methode zur Messung der wirtschaftlichen Entwicklung mit Hilfe des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und seines Wachstums nicht vollkommen ist, ist festzustellen, dass die polnische Wirtschaft sehr schnell wächst, das heißt um 5,2 Prozent im ersten Quartal 2018 im Jahresvergleich, was die Spitze der zyklischen Konjunktur war (nach 4,9 Prozent im vierten Quartal 2017) [Grafik 1, S. 7]. Diese guten Daten müssen zu den erhältlichen Daten anderer Wirtschaften der Region und zu den Daten vergangener Jahre ins Verhältnis gesetzt werden, und es muss die Struktur dieses Wachstums näher betrachtet werden.

Zum Vergleich: Das Wachstum der Eurozone betrug in diesem Zeitraum 2,5 Prozent und das Deutschlands, der größten Wirtschaft Europas und gleichzeitig des wichtigsten Handelspartners Polens, 1,6 Prozent und verzeichnete dabei im ersten Quartal 2018 eine Verlangsamung gegenüber 2,3 Prozent im vierten Quartal 2017. Das Wirtschaftswachstum in Polen ist also nicht nur eine Ableitung der Wirtschaftstrends in Europa. Außerdem übertragen sich die Entwicklungstrends in Westeuropa häufig mit einer gewissen Verzögerung auf die in Polen.

Das bedeutet allerdings nicht, dass das Wachstum einzig und allein von der Wirtschaftspolitik Warschaus abhängt. Darüber hinaus wirken sich einzelne politische Entscheidungen nicht automatisch auf das Wirtschaftsergebnis aus. Manche Reformen zeitigen sofortige Effekte, die Folgen anderer sind erst nach einigen oder etlichen Monaten sichtbar, wieder andere tragen erst nach vielen Jahren Früchte. Daher kann auch das Wirtschaftswachstum, das ein Jahr nach der ersten Regierungsübernahme der PiS im Jahr 2006 (6,2 Prozent) eintrat, wie auch der Rückgang 2015/16 (von 3,7 Prozent auf 2,7 Prozent) nicht unbedingt allein der Politik der ersten PiS-Regierung zugeschrieben werden. Einfluss darauf haben hier ebenfalls innere Faktoren, die nicht unbedingt mit Entscheidungen der Politiker verbunden sind, wie auch äußere Faktoren, beispielsweise die Konjunktur bei den wichtigsten Wirtschaftspartnern oder bestimmte Politiken der Europäischen Union (Freigebigkeit, der Zeitplan der Mittelvergabe im Rahmen der Kohäsionspolitik u. ä.).

Bezieht man die Ergebnisse des polnischen Wirtschaftswachstums auf das europäische Mittel in chronologischer Hinsicht, ist festzustellen, dass sich die Zeit der PiS-Wirtschaftspolitik nicht in Form einer größeren Dynamik auswirkte, die Rückstände zwischen Polen und dem Rest des vereinigten Europas aufzuholen [Grafik 2, S. 7]. Es ist genau umgekehrt: Auf das Jahr 2016, für das sich die PiS wirtschaftspolitisch bereits zur Verantwortung bekennt, entfällt das schwächste Ergebnis im Vergleich zum gesamten Jahrzehnt. Der Unterschied zwischen dem polnischen und dem durchschnittlichen Wachstum in der EU betrug in diesem Jahr knapp 0,7 Prozent des BIP. Wenn das Wirtschaftswachstum in Polen in dem Tempo wie im Jahr 2017 realisiert werden würde – ein symbolisches Jahr mit Blick auf die Verabschiedung der »Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung« durch die PiS-Regierung – dann würde Polen aus der Falle des mittleren Einkommens erst nach Generationen herauskommen und nicht, wie Mateusz Morawiecki will, bis zum Jahr 2030. Auch unter diesem Aspekt war das Jahr 2017 nicht imponierend, die Aufholgeschwindigkeit betrug 2,1 Prozent des BIP und blieb deutlich unter dem Durchschnitt der vorangegangenen Jahre. Ähnlich stellte sich die Situation unter der ersten PiS-Regierung (2005–2007) dar. Beispielsweise betrug im Jahr 2006 die Differenz knapp 2,9 Prozent (Polen verzeichnete damals ein hohes Wirtschaftswachstum, das sich allerdings im Kontext der guten wirtschaftlichen Konjunktur in ganz Europa abspielte).

Interessant ist, dass das Jahr 2009 das produktivste war, was die Strategie betrifft, das besser entwickelte Europa aufzuholen. Angesichts der herrschenden Krise verzeichnete die Gesamtwirtschaft der EU damals einen Rückgang um 4,3 Prozent, Polen dagegen ein – ebenfalls schwaches – Ergebnis von plus 1,8 Prozent, was die imposante Differenz von 6,1 Prozent ausmachte. In keinem anderen Jahr näherte sich die polnische Wirtschaft so sehr dem EU-Durchschnitt, wie in jenem krisenhaften Jahr.

Werden jedoch die Daten des polnischen Wirtschaftswachstums nicht mit denen des EU-Durchschnitts verglichen, sondern zum Beispiel mit Deutschland, der für Polen wichtigsten Wirtschaft, zeigt sich, dass die Aufholstrategie noch schlechter ausfällt [Grafik 3, S. 8]. Die Unterschiede im jährlichen Wirtschaftswachstum zwischen Polen und Deutschland sind viel bescheidener, was bedeutet, dass die polnische Wirtschaft die Rückstände gegenüber seinen wichtigsten Handelspartnern deutlich langsamer aufholt, als aus dem amtlichen Enthusiasmus der Autoren der Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung hervorgeht. Der Wahrheit näher wäre die Feststellung, dass Polen zu den ärmeren Wirtschaften Südeuropas, zum Beispiel Portugal, aufschließt. Dagegen verringert sich seine Distanz zu den tatsächlich reichen und entwickelten westlichen Wirtschaften in einem viel bescheideneren Tempo. Dies ist insofern von wesentlicher Bedeutung, als das Hauptziel der Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung die Flucht aus der Falle des mittleren Einkommens war und die hochentwickelten Wirtschaften der EU mit Blick auf das Einkommen einzuholen.

Die Daten des Statistischen Hauptamts (Główny Urząd Statystyczny – GUS) zum polnischen BIP zeigen, dass der wichtigste Faktor für dieses Wachstum der Bausektor (die Bau- und Montageproduktion) war – mit einem Anstieg von Jahr zu Jahr um 26 Prozent. Zugunsten des Wachstums wirkten auch der Binnenkonsum, der Nettoexport sowie – als Wichtigstes – die Investitionen. Dies waren vor allem öffentliche Investitionen und in geringerem Ausmaß private, die der Hauptträger von Innovationen und ein guter Indikator künftigen Wachstums sind. Private Investoren zeigen die ganze Zeit eine Abneigung gegenüber dem Investitionsrisiko in Polen – vor allem mit Blick auf das politische Risiko, wie es die Ratingagenturen euphemistisch nennen.

Historisch gesehen, ist das Ergebnis von 5,2 Prozent Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2018 vor allem das beste Quartalsergebnis seit dem vierten Quartal 2011. Wesentlich ist hier festzustellen, dass das hohe Wirtschaftswachstum sich nicht inflationsfördernd auswirkt. Nach neuesten Angaben beträgt die Inflationsrate 1,6 Prozent, was unter dem Inflationsziel liegt, das die Polnische Nationalbank (Narodowy Bank Polski – NBP) definiert, die für die Geldpolitik verantwortlich ist. Eine gewisse Gefahr für ein so niedriges Inflationsniveau kann der Anstieg der Erdölpreise auf dem Weltmarkt sein. Diese »importierte« Inflation ist allerdings eine äußere Gefahr für alle Länder, die keine eigenen Erdölressourcen besitzen.

Das Budget: der Glaube an die ewige Konjunktur

Infolge der günstigen Wirtschaftskonjunktur bleiben auch die Einnahmen des Haushaltes auf einem außergewöhnlich hohen Niveau, und zwar in allen Steuerkategorien: Mehrwertsteuer, Körperschaftsteuer, Einkommensteuer und Verbrauchsteuer. Das bedeutet, dass der Nettohaushalt trotz größerer Sozialtransfers einer der besten seit Jahren bleibt. Mehr noch: Den größten Teil des Jahres verzeichnet der Haushalt einen Überschuss und gewöhnlich weist erst die Gesamtjahresbilanz im Dezember ein Haushaltsdefizit auf.

Im Jahr 2016 betrug das Defizit minus 2,3 Prozent, 2017 minus 1,5 Prozent des BIP. Allerdings müssen diese Zahlen kontextualisiert werden. Ein Defizit von 1,5 Prozent hatte im Jahr 2017 die gesamte Eurozone, ein solches Ergebnis war also eher eine normale Erscheinung als ein Grund zu besonderem Stolz. Viele europäische Staaten (zum Beispiel Tschechien und Deutschland) verzeichneten sogar bei einem niedrigeren Wirtschaftswachstum einen Haushaltsüberschuss. Es ist dies insofern eine vernünftige Eigenschaft der Wirtschaftspolitik, als in der Situation einer erwarteten konjunkturellen Abschwächung und eines damit verbundenen Rückgangs des Haushaltseinkommens Raum bleibt, um eine antizyklische Haushaltspolitik zu aktivieren. Übereinstimmend mit der klassischen Schule der Ökonomie sowie dem gesunden Menschenverstand müssen die erhöhten Haushaltsausgaben in Zeiten des Abschwungs mit Rücklagen aus Zeiten der Wirtschaftskonjunktur ausgeglichen werden. Indessen scheint sich die Wirtschaftspolitik der PiS auf den Glauben an die »ewige Konjunktur« zu stützen. Dies ist umso gefährlicher, weil es sich bei dem Großteil der neu generierten Haushaltsausgaben um fixe Ausgaben handelt, das heißt, sie sind gesetzlich festgelegt und können bei Bedarf nicht schnell und leicht geändert werden, beispielsweise wenn eine zukünftige Wirtschaftskrise geringere Haushaltseinnahmen nach sich zieht. Anders gesagt: Zeiten guter Wirtschaftskonjunktur sind nicht nur Zeiten einer positiven Bilanz der öffentlichen Finanzen, sondern auch die rechte Zeit für die Reduzierung der öffentlichen Verschuldung. Tatsächlich ist aber die Steigerung der absoluten Schulden (das heißt: nicht in Relation zum BIP) zu beobachten.

Soziale Projekte: Für wen ein Plus?

Das Standardprojekt der PiS im Bereich der Sozialpolitik war und ist das Familienförderprogramm »500 +« [vgl. Polen-Analysen Nr. 186]. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass im Wahlkampf 500 Zloty (ca. 116 Euro) für jedes Kind angekündigt wurden. Nach den Wahlen wurde eine beschnittene Version umgesetzt, so dass praktisch nur noch etwas mehr als die Hälfte der Familien (Familien ab dem zweiten Kind) diese Form der Unterstützung erhalten (für 3.684.000 Kinder, das heißt 53 Prozent der Kinder bis zum 18. Lebensjahr). Das Programm trat am 1. April 2016 in Kraft; seine Kosten betrugen in den ersten zwei Jahren 42,6 Mrd. Zloty (ca. 9,92 Mrd. Euro).

Natürlich rufen Fragen der Wirksamkeit dieser Form von Familienpolitik Kontroversen hervor. Polen ist nicht das erste Land, das Beihilfen für Kinder eingeführt hat, daher lassen sich leicht Beispiele aus Ländern heranziehen, die diesen Mechanismus schon früher eingeführt haben. Es zeigt sich, dass er fast nie erhöhte Geburtenraten nach sich zieht. Dem beobachteten Anstieg um ca. 30.000 Geburten mehr im Jahr 2017 schrieben Experten eher Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und anderen zyklischen Faktoren zu, die vorher ohne den Effekt des »500 +« beobachtet worden waren. Andere Elemente der familienfördernden Politik wie der Ausbau von Krippen- und Kindergartenplätzen oder Erleichterungen für Frauen bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt stellen ein deutlich wirksameres Fundament für eine familienfördernde Politik dar. Das Problem besteht allerdings darin, dass dies in Hinblick auf den Anstieg der Popularität der federführenden Partei politisch nicht so spektakulär und nicht so produktiv ist. Der Ausbau der Krippen- und Kindergartenplätze ist eine mühselige, langfristig angelegte Aufgabe – aus der Perspektive eines Politikers zu lang, denn sie überschreitet den Zeitraum bis zu den nächsten Wahlen. Mehr noch: Die Auswirkungen einer solchen Politik treten erst einige Jahre oder Jahrzehnte nach der getroffenen politischen Entscheidung ein. Dagegen wird das Versprechen »500 +« hier und jetzt eingelöst und zeitigt sofort politische Wirkungen. Aus ökonomischer Sicht wären Steuererleichterungen für Haushalte mit Kindern eine deutlich optimalere Lösung, allerdings zeichnen sich Steuererleichterungen durch eine ganz andere Logik als Beihilfen aus: 500 Zloty nicht wegzunehmen, ist etwas vollkommen anderes, als 500 Zloty zu geben. Die Politiker der PiS haben diesen Unterschied hervorragend verstanden und geben infolgedessen sogar denjenigen Familien »500 +«, die es überhaupt nicht brauchen (es fehlt eine Einkommensschwelle zur Qualifizierung für das Programm »500 +«, da dies mit zu großen Kosten für ein Verifizierungssystem verbunden wäre). Das Programm zeitigte schlicht und einfach keine bedeutende Veränderung der Geburtenrate, es veränderte aber die Situation der schlechter situierten Familien, insbesondere der kinderreichen. Das Programm erfüllt also soziale Funktionen, indem es das Geld von den einen Steuerzahlern (den reicheren, nicht unbedingt PiS-Wähler) zu den anderen Steuerzahlern (unter denen gerade die ärmere PiS-Wählerschaft die Summen am meisten wertschätzt) transferiert. Diese Art helicopter money zieht einige wichtige ökonomische Implikationen nach sich. Einerseits wird den ärmsten Familien geholfen, die automatisch die gesamte Summe verausgaben, was wiederum den Binnenkonsum anregt. Andererseits generieren solche Transfers, abgesehen von der offenkundigen Belastung des Staatshaushaltes, auch eine Deaktivierung unter den Ärmsten, was in Polen insbesondere Frauen aus Familien mit niedrigen Einkommen betrifft (in der Zeit des laufenden Programms haben 103.000 Frauen die Arbeit aufgegeben, vor allem schlecht ausgebildete aus kleineren Städten und Orten). Das bedeutet, dass die berufliche Aktivität junger Frauen in Polen auf sehr niedrigem Niveau liegt, sowohl im Verhältnis zum EU-Durchschnitt als auch zu den vergangenen Jahren. Dank des Programms »500 +« verringerte sich dafür die Anzahl der Personen, die von Sozialhilfe abhängig waren. Allein im Jahr 2016 sank die Anzahl der Begünstigten auf 9,2 Prozent, was das beste Ergebnis seit 2008 ist. Und hierin ist die Realisierung der wichtigsten Ziele der PiS zu sehen.

Das sozialpolitische Programm »Wohnung plus« wiederum richtet sich auf die Bereitstellung von Mietwohnungen (mit der Option des Kaufes) für Personen mittleren Einkommens. Bereits in der Projektphase weckte es viel Interesse, aber auch viele Kontroversen. Der Wohnungsmarkt bleibt einer der am stärksten vernachlässigten sozialwirtschaftlichen Bereiche in Polen, was in der niedrigen Quadratmeteranzahl für Familien sowie dem sehr hohen Anteil von Eigentumswohnungen im Vergleich zu Mietwohnungen zum Ausdruck kommt. Das Programm »Wohnung plus« sollte eigentlich Familien den Zugang zu Wohnungen erleichtern und sich gleichzeitig auf die (berufliche) Mobilität auswirken. Seine Kritiker weisen aber darauf hin, dass der Staat nicht in der Rolle des developer auftreten sollte und dass das Programm eine Intervention in den Markt darstellt, beispielsweise durch die Regulierung der Mietpreise. Verwunderung ruft auch die Idee hervor, den Mietern zielgerichtet Wohnungen anzuweisen, die mit öffentlicher Unterstützung gebaut wurden. Diese Aspekte haben allerdings noch keine allzu große Bedeutung, denn das Programm liegt nicht im Zeitplan. Entgegen den Ankündigungen von mehreren zehntausend Wohnungen noch im Jahr 2017 sind Anfang 2018 für die Errichtung im Rahmen des Programms »Wohnung plus« 2.800 Wohnungen übriggeblieben.

Zusammenfassung

Über die Analyse der rein makroökonomischen Wirtschaftsfaktoren hinaus heißt es, eine allgemeinere Schlussfolgerung mit Blick auf die Richtungen der polnischen Wirtschaftspolitiken der letzten Jahre zu ziehen. Zweifellos ist es grundlegend, sich – im Kontext der Wirtschaftspolitik der PiS – Gedanken über das spezifische Ende der neoliberalen Ära der polnischen Transformation zu machen. Es waren Zeiten, in denen der Primat brutaler kapitalistischer Praktiken vor den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit galt. Das wirtschaftspolitische Angebot der PiS erwies sich als außerordentlich treffsicher in der Situation der polnischen Gesellschaft, die von der Mühe der Reformen nach 1989 und der fordernden EU-Politik (vor dem Beitritt im Jahr 2004) erschöpft war: Die Phase des Abreagierens setzte ein Jahrzehnt nach dem EU-Beitritt und eine Generation nach dem postkommunistischen Übergang ein.

Interessanterweise wird der »gute Wandel« in der Wirtschaft von Mateusz Morawiecki eingeführt, das heißt einem Menschen, der, bevor er seine politischen Ambitionen zu realisieren begann, im Bankwesen Millionär geworden war und gleich im Anschluss daran Donald Tusk beraten hat, den von der PiS meistgehassten Ministerpräsidenten, der für sie die liberalsten Kräfte der polnischen Politik symbolisiert.

Wird also Morawiecki den »Morawiecki-Plan«, wie die Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung in der Sprache der Publizisten genannt wird, realisieren? Die Antwort auf diese Frage kann nicht eindeutig ausfallen. Einerseits sind positive Ergebnisse bei grundlegenden Parametern wie Anstieg des BIP, Arbeitslosenquote, Eintreiben von Steuern zu beobachten. Andererseits sind in der realen Wirtschaftspolitik viele Kontinuitäten zu beobachten, die de facto die polnische Wirtschaftslandschaft nicht verändert haben – so der systematische Lohnanstieg oder gute Exportergebnisse. Es gibt auch einige negative Elemente wie zum Beispiel die schwachen Investitionsindikatoren oder die Renationalisierung in einigen Bereichen, zum Beispiel im Bankensektor. Generell zeitigte die Wirtschaftspolitik der PiS allerdings keine qualitative Wende. Die Geschwindigkeit, den Rückstand der polnischen Wirtschaft aufzuholen, bleibt ungefähr auf dem durchschnittlichen Niveau der beiden vorangegangenen Jahrzehnte. Verändert wurde allerdings die Allokation der Ressourcen: Die reichen Polen zahlen mehr Steuern (zum Beispiel eine Solidaritätsabgabe), die armen weniger (beispielsweise greift hier ein höherer Steuerfreibetrag). Betrachtet man allerdings die grundlegenden Ziele der Strategie für eine Verantwortungsvolle Entwicklung, erbrachte die bisherige Anwendung der Wirtschaftspolitik der PiS keine qualitativen Veränderungen. Die Polen sind nach wie vor in der Falle des mittleren Einkommens »gefangen« und nichts weist auf eine Wende in diesem Bereich hin. Die Produktions- und Investitionsstruktur haben sich nicht geändert, was erlaubt hätte, die Falle der Durchschnittlichkeit des Produkts zu durchbrechen. Das Programm »500 +« versorgte viele Familien mit zusätzlichen Mitteln (und PiS mit zusätzlicher politischer Unterstützung auf Kosten des Steuerzahlers), aber es gibt keine Beweise für deutliche Veränderungen in den demografischen Trends, die die Hoffnung auf den Schutz Polens und der polnischen Wirtschaft vor der demografischen Falle erlauben würden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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