Die Reform des Schulsystems in Polen

Von Andrzej Kaluza (Deutsches Polen-Institut, Darmstadt)

Zusammenfassung
Seit einem Jahr wirkt die Schulreform der Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die zu dem zweistufigen Schulsystem aus 8-jähriger Grundschule und weiterführender Schule zurückkehrt, das der Elterngeneration aus der Zeit vor der Reform von 1998 bekannt ist. Der PiS galt das Bildungssystem, wie es zuletzt unter der Vorgängerregierung reformiert worden war, als zu liberal und pluralistisch. In den Vordergrund der jüngsten Reform rückt die schulische Erziehung im Sinne des »guten Wandels«. Das bedeutet weniger moderne Lehrmethoden und kaum Erziehung zur Selbständigkeit, vielmehr die Anknüpfung an traditionelle Inhalte und Lehrformen. Der Autor unterzieht die aktuelle und die ihr vorangegangenen großen Schulreformen einer kritischen Analyse und erläutert, warum sich die betroffenen Gruppen – Lehrer, Schüler und Eltern – heute zufrieden zeigen bzw. sich trotz Unzufriedenheit relativ still verhalten.

Eines der Wahlversprechen der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) im Jahr 2015 war eine umfassende Reform des polnischen Bildungssystems. Den national-konservativen Politikern stand dieser Bereich zunächst eher fern, bis sie angesichts der in der Bevölkerung umstrittenen schulpolitischen Maßnahmen der damals regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) erkannten, dass die PO in der Bildungspolitik Angriffsflächen bot. Den Anlass lieferte die Regierung von Ewa Kopacz (PO) mit der einige Jahre zuvor beschlossenen, aber immer wieder hinausgezögerten Senkung des Schuleintrittsalters auf sechs Jahre, die sie ab dem Schuljahr 2015/16 energisch umsetzen wollte. Das Ziel war die Stärkung der Chancengleichheit für eher benachteiligte und bildungsferne Schichten, deren Kinder ein Jahr früher in die Schule kommen sollten, gepaart mit einem Kindergartenbesuch für alle 5-Jährigen, deren Eltern dies wollten.

Dagegen regte sich Protest von Eltern aus der konservativen Mittelschicht, die ihre Kinder länger zu Hause haben wollten und die Verpflichtung der Regierungspartei PO als eine Art »Zwangsverordnung« verunglimpften. Diese Eltern waren aufgrund ihres kulturellen und sozialen Kapitals in der Lage, ihren Kindern die nötige Aufmerksamkeit im Vorschulalter zu widmen. Die Eltern der Unterschicht unterstützten die Kritik ebenfalls, auch wenn die Neuregelung gerade ihren Kindern zugutekommen sollte. Die Bürgerplattform hatte also wieder einmal gute Absichten, aber kaum Ausdauer gezeigt, mit Betroffenen zu sprechen und geduldig die Reformpläne zu erörtern, was dem damaligen »arroganten« Image der Partei entsprach, das Land modernisieren zu wollen, nach dem Motto »Koste es, was es wolle«. Die PiS dagegen unterstützte die aufkeimende Protestbewegung der PO-kritischen Eltern. PiS-Politiker äußerten umfassende Kritik an den allgemeinen Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht, die ihnen als »zu liberal« galten, darunter z. B. auch an der Reduzierung der für die PiS so wichtigen Unterrichtsstunden im Fach Geschichte. Die PiS bekräftigte außerdem die in der Bevölkerung verbreitete Abneigung gegenüber den erst seit der letzten großen Schulreform 1998 eingerichteten 3-jährigen Gymnasien (gimnazjum), die ein Bindeglied zwischen der Grundschule (szkoła podstawowa) und den weiterführenden Schulen wie Lyzeen (liceum) und technischen Oberschulen (technikum) waren. Im Wesentlichen ging es der PiS aber um eine Reform im Sinne ihres »guten Wandels«. Dieser soll vor allem der Machtsicherung der Partei in der Gesellschaft dienen, und dazu bedarf es eben auch einer umfassenden Kontrolle des in ihren Augen allzu »liberalen« und pluralistischen Bildungssystems. Akzentuiert werden sollten in der Schule daher diejenigen Bereiche, die dem Gesellschaftsbild der PiS entsprechen: Disziplin, patriotische Einstellung, nationale Symbolik, Geschichtspolitik, Nationalliteratur, Volksmusik usw.

Die Schulreform von 1998

Die demokratische Opposition der »Solidarność«-Zeit, das heißt in den 1980er Jahren in der Volksrepublik Polen, träumte nicht nur von einer gerechteren Gesellschaft und einem demokratisch-freiheitlichen Staat. Sie wusste auch, dass der Weg dahin über einen gerechteren Zugang zu Bildung und über die Anhebung des Lernniveaus bei gleichzeitiger Aufgabe der kommunistischen Ideologie führte. Nach 1989 bekannte sich der erste nichtkommunistische Bildungsminister, der Historiker Henryk Samsonowicz, zu einem dezentralen Schulsystem, das relativ autonom vom Staat agieren und die Unterschiede zwischen arm und reich sowie zwischen Stadt und Land reduzieren helfen sollte. Die Verantwortung für den materiellen Unterhalt der Schulen übertrug die Regierung nach und nach den Selbstverwaltungskörperschaften (Kommunen und Gemeinden, später auch Kreisen und Woiwodschaften, nur wenige Schultypen blieben unter der direkten Obhut des Ministeriums), die eine Zuwendung je Schüler erhielten, mit der sie den Schulbetrieb und die Lehrer bezahlten. Die Gesellschaft wurde ermutigt, Schulen in gesellschaftlicher oder privater Trägerschaft zu gründen oder zu übernehmen, und so entstanden viele Konfessions- bzw. Privatschulen. Das Bildungsministerium in Warschau zog sich spürbar aus der Organisation zurück und konzentrierte sich mehr auf die Anpassung der Rahmenrichtlinien an die neue demokratische Ordnung und die Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft. Dabei ließ die Zentralregierung experimentierfreudigen Lehrern und Direktoren weitreichende Freiheiten, was die pädagogische Praxis und die allgemeinen Lehrpläne betraf. Der Reformansatz beinhaltete auch die Betonung der Autonomie und der Subjektivität des Lehr- und Lernprozesses sowie der Subjektivität der Lehrerschaft. Deren Gehälter wurden zunächst auf 103 Prozent des Durchschnittseinkommens indexiert.

Dieses Prinzip änderte dann die postkommunistische Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), als sie 1993 an die Macht kam und die Institution der Schulämter (kuratorium oświatowe) wieder einführte. Diese wurden mit der fachlichen Aufsicht über die Lehrprogramme und mit der faktischen Kontrolle über die Lehrerschaft beauftragt. Da die Schulämter nicht den Kommunen, sondern dem Woiwoden, d. h. der jeweiligen Warschauer Regierungspartei, unterstellt wurden, spürten die Schulen und ihre Leiter immer stärker den Druck, sich an die Richtlinien des »zentralen« Schulsystems anzupassen. In der Folge wurden die von ambitionierten Pädagogen selbst konzipierten Unterrichtsprogramme immer weniger und der demokratische Reformgedanken wurde allmählich im Verwaltungsdschungel der folgenden Novellierungen der Rechtsakte erstickt. Auch den zunächst kritisierten Zugriff auf die Schulämter in der Regierungszeit der SLD ließen alle späteren Regierungen unberührt.

1998 hatte die konservative Regierung unter Ministerpräsident Jerzy Buzek die erste große Bildungsreform nach 1989 durchgesetzt, die mit dem Namen des damaligen Bildungsministers Mirosław Handke verbunden war. Sie verlängerte u. a. die Zeit der Schulpflicht von acht auf neun Jahre und unterteilte diese in zwei Abschnitte: die 6-jährige Grundschule und das 3-jährige Gymnasium für alle Schülerinnen und Schüler, mit externen Lernkontrollen am Ende der 6. und der 9. Klasse. Danach folgten entweder die 3-jährigen allgemeinbildenden Lyzeen (liceum ogólnokształcące) oder 2-jährige Berufsschulen mit der Möglichkeit, im Anschluss noch ein 2-jähriges ergänzendes Lyzeum (mit Abschluss Abitur) zu besuchen. Das Abitur wurde aufgewertet und als verbindliches Dokument anerkannt, mit dem sich die Schüler um einen Studienplatz bewarben. Die neue Schulstruktur wurde an die zu jener Zeit auch durchgeführte Reform der Selbstverwaltungsorgane gekoppelt: So wurden die Grundschulen und Gymnasien von Gemeinden und Kommunen finanziert, die weiterführenden Schulen von den Kreisen und nur spezielle Schulen wie Kunst-, Ballettschulen u. ä. unterstanden direkt dem Bildungsminister.

Das vordergründige Ziel der Reform war die bessere Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf die Herausforderungen der Zukunft (Polen strebte damals eine Mitgliedschaft in der NATO und der EU an), mehr Chancengleichheit für Kinder vom Land und eine längere Zeitspanne, in der alle Kinder eines Jahrgangs zusammen lernen. Vor allem für die Dorfkinder sollte das neu eingerichtete 3-jährige Gymnasium von Vorteil sein, da dieses nur in größeren Städten angesiedelt und besser als die bisherigen Dorfschulen ausgestattet war und die Lehrer dort allgemein als »jung«, »kompetent« und »weltoffen« galten. Während die Entwicklungschancen der bisher benachteiligten Gruppen (Dorfkinder, bildungsferne Familien, sozial Schwache) eindeutig im Vordergrund der Reform standen, blieb diese in der Öffentlichkeit ungeliebt. Bildungsminister Handke und sein Team schafften es gerade noch, die »materiellen« Voraussetzungen für die Reform zu sichern: Zunächst mussten die teilweise überforderten Kommunen geeignete Schulgebäude finden. Nicht selten blieben dabei Grundschule und Gymnasien weiterhin ungetrennt zusammen, der Bau neuer Gebäude zog sich in die Länge, und der Staat ließ sich diese Investitionen viel Geld kosten – in den Jahren 1999 bis 2016 mehr als 130 Mrd. Zloty (ca. 30 Mrd. Euro), wobei der Löwenanteil an die Gymnasien ging. Den Kommunen wiederum blieb oft kein Geld mehr, um kleine Schulen auf dem Land zu erhalten, so dass ein massives Schulsterben einsetzte und der Schulweg zu einer ständigen Herausforderung für alle Beteiligten wurde. Für eine breite gesellschaftliche Debatte, die die Notwendigkeit und die Vorzüge der Handke-Reform erklären würde, blieb der Regierung, dem Ministerium und den Schulämtern häufig weder Kraft noch Zeit. Der Reformansatz erreichte nicht einmal die Mehrheit der Lehrerschaft: 1999 fühlten sich 60 Prozent nicht genügend vorbereitet und votierten für den Stopp der Reform.

Im Rückblick ergibt sich der Eindruck, dass die Reform damals nicht richtig durchdacht, nicht konsequent genug, vor allem aber nicht bis zu Ende durchgeführt wurde. Und so wuchs die Unzufriedenheit der Lehrer, Eltern und Schüler gleichermaßen. Sie alle haben die damalige Reform (wie viele andere schmerzhafte Marktreformen in den 1990er Jahren) über sich ergehen lassen. Für eine ordentliche Vor- und Nachbereitung der Reform mit allen Beteiligten und für tiefgreifende Überlegungen, was Schule in der demokratischen Gesellschaft leisten soll, blieb in Wirklichkeit keine Zeit. Ungeliebt waren vor allem die Gymnasien, die als »Hort allen Übels« betrachtet wurden, in dem pubertierende 13- bis 15-Jährige, mit bisher unterschiedlichen schulischen Erfahrungen, auf engstem Raum zusammen waren. Berühmt-berüchtigt wurden die Missstände im Bereich der Disziplin an (einigen) Gymnasien, die die Medien in den 2000er Jahren anprangerten, manchmal aber auch gezielt aufblähten. Auch haben sie gerade den Gymnasiasten unterschiedslos Anzeichen allgemeiner Verrohung, übermäßigen Drogen- und Alkoholkonsum sowie brutale sexuelle Übergriffe zugeschrieben. Einige Selbstmordfälle unter Minderjährigen, die auf Mobbing in der Schule zurückzuführen waren, erregten landesweit Aufsehen. Auch wenn Studien mehr Fälle von Gewalt in den Grundschulen als an Gymnasien feststellen, wurden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten vielfach zu negativen Helden. Verarbeitet wurde dies u. a. in mehreren beachteten und kontrovers diskutierten Filmen, zum Beispiel Galerianki (über Prostitution unter Minderjährigen, 2009), Sala samobójców (über Vereinsamung und emotionale Vernachlässigung, 2011), Baby Blues (über eine Teenager-Schwangerschaft, 2012), Obietnica (über Mobbing und kaltblütigen Mord unter Jugendlichen, 2014).

Die fachliche Kritik ging noch tiefer: Die Niveauunterschiede zwischen arm und reich und Stadt und Land wurden auch nach der Reform nicht weniger spürbar, da es an den Gymnasien die Möglichkeit gab, »bessere« Klassen (z. B. mit Fremdsprachenprofil oder mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil) einzurichten. Der Minister versäumte es auch, den Besuch des Gymnasiums auf den jeweiligen Schulbezirk zu beschränken. Somit kam es zur Bildung von »besseren« Klassen oder gar ganzen Gymnasien für die Kinder der aufstrebenden Mittelschicht mit entsprechenden Wanderbewegungen. Und wem dies noch nicht genügte, der schickte seine Kinder gleich auf eine teure Privatschule. Das Ziel des gemeinsamen Lernens bis zur 9. Klasse für alle wurde auf diese Weise unterlaufen. Die Unterschicht blieb dabei wieder einmal unter sich und hatte kaum Vorteile von der Reform. So hatten vor allem die »schlechten« Gymnasialklassen den Ruf der Reform nachhaltig beschädigt. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich gegen diese Entwicklung zwar medialer Unmut, aber kaum Widerstand der Politiker, der Eltern oder der Lehrer regte. Niemand war trotz Warnsignalen an einer Verbesserung der Lage interessiert.

Warum die späteren Regierungen die Handke-Reform nicht korrigierten, müsste man heute die Verantwortlichen von damals fragen – am nachdrücklichsten wohl die Bürgerplattform, denn sie hatte am längsten die Gelegenheit und Verantwortung, es zu tun. Es fehlte aber am politischen Willen dieser Partei, die sich in den 2000er Jahren voll auf die wirtschaftliche Integration mit der Europäischen Union konzentrierte und die Bildungspolitik nach liberalen Gesichtspunkten unter »ferner liefen« beurteilte. Die PO unterstützte weder die Schulen, um sie finanziell besser zu stellen und das starre Modell der staatlichen (zu niedrigen) Subvention nach Anzahl der Schüler zu reformieren, noch die Jugendlichen, die im neuralgischen Gymnasialalter mehr psychologische Beratung brauchen (entsprechend geschultes Personal ist an polnischen Schulen generell eine Rarität), schließlich ließ sie die Lehrer mit ihren Sorgen und den Herausforderungen im Bereich der Disziplin allein. Auch wagte die Partei nicht, die Ausbildung der Lehrer und ihren Status zu verbessern; ihr materieller Niedergang wurde allgemein akzeptiert. Niemand in der PO opponierte gegen die zunehmende Segmentierung und Kommerzialisierung des Schulsystems, in dem am Ende doch die Kinder der Mittelschicht die begehrtesten Studienplätze im ebenfalls nach Rankings segmentierten und kommerzialisierten Hochschulsystem ergatterten. Die »Leistungsorientierung« der Gymnasien und Lyzeen hatte oft nur die Zensuren, nicht aber das gefestigte Wissen im Blick: Direktoren und Schulämter drangen auf bessere Noten, was geradezu in einer »Testomanie«, einer Häufung von Lernkontrollen im Multiple-Choice-Verfahren, mündete, die mehr den Wettbewerb als die Zusammenarbeit unter den Schülern prämierte und kaum kritisches Denken, sondern vor allem das »Pauken« von Wissen produzierte. Nicht legal, aber allgegenwärtig war die Situation, dass sich Schüler gegen Bezahlung Lernkontrollen und Tests im Internet besorgen konnten. Der bessere Schüler war dann oft nur der gewieftere.

Trotz aller Bedenken und Unzulänglichkeiten funktionierte das Handke-System viele Jahre und garantierte allen Beteiligten endlich einigermaßen Stabilität und Gleichgewicht. Eine wirkliche Reform sollte dann eher die hier beschriebenen negativen Auswüchse des schulischen (vor allem: gymnasialen) Alltags unterbinden und die Bildung im sozialen wie fachlichen Sinne »modernisieren«, d. h. sie mit Lehrprogrammen der anderen EU-Länder kompatibel machen, indem die vielfältigen Komponenten der Zusammenarbeit gegenüber dem Auswendiglernen für Tests aufgewertet würden.

Der damaligen Oppositionspartei PiS reichte an der Schwelle zu ihrer Wahlkampagne 2015 ein nur vager gesellschaftlicher Unmut gegenüber den Gymnasien aus, um das gesamte bisherige Schulsystem für bankrott zu erklären, mit dem Ziel, es nach 18 Jahren wieder einmal vollständig zu verändern. Dieses negative Gefühl wurde von wissenschaftlicher Seite allerdings nicht bestätigt, denn es wurden lange Zeit keine seriösen Studien über den Lernerfolg an Gymnasien gemacht. Solche Untersuchungen werden jetzt veröffentlicht, denn der Erfolg von Bildungsreformen wird in längeren Zeiträumen gemessen als die politischen Wahlperioden dauern. Die Studien zeigen eindeutig, dass die Gymnasien gerade erst in eine Phase der Stabilität eingetreten waren, in der sich der Umgang zwischen allen Beteiligten normalisierte und auch einige Erfolge sichtbar wurden – was Polen bereits alle PISA-Studien seit 2001 bescheinigten.

Die Bildung nach den Vorstellungen der PiS: Rolle rückwärts

Die PiS, die seit Jahren eine Art Konterrevolution gegen die liberale Gesellschaft in Polen führt, möchte auch in der Bildungspolitik auf ihr vertraute, eher traditionelle Muster setzen. Die Schule soll, ganz im Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts, die Schüler im Geiste des Patriotismus (mit Betonung der nationalen Symbole) erziehen und der mangelnden Disziplin mit pädagogischen und administrativen Vorgaben entgegentreten. Nicht moderne Lernmethoden, der kritische Umgang mit Quellen und Medien, die Akzeptanz der gesellschaftlichen und politischen Pluralität und die Heranführung an neue Technologien standen Pate bei der aktuellen Bildungsreform der PiS von 2017, sondern der Wunsch, die Schule, wie in kommunistischen Zeiten, als eine »staatliche Besserungsanstalt« aufzufassen, die möglichst viele angepasste Individuen hervorbringen soll, die dazu aber keine eigene Meinung haben (sollen).

Offiziell begründete Bildungsministerin Anna Zalewska die Notwendigkeit der Reform kurz vor den Sommerferien 2017 mit dem demografischen Tief, das durch die schmerzliche Erfahrung der starken Emigration junger Polen noch verschärft wurde. Tatsache ist, dass in den letzten zehn Jahren die Anzahl der Schüler in Polen dramatisch um ca. 1,2 Mio. sank. Daten für den Zeitraum zwischen 2004 und 2015 belegen den Rückgang: In den Grundschulen von 2,8 auf 2,3 Mio., in den Gymnasien von 1,5 auf 1 Mio. und in den weiterführenden Schulen von 700.000 auf 500.000, bei einer gleichbleibenden Anzahl der Lehrkräfte von ca. 500.000. Niemand weiß jedoch, wie die von der PiS vorgeschlagenen und bereits durchgeführten Reformen dem demografischen Wandel entgegenwirken sollen.

Die PiS verordnete dem Schulsystem zunächst eine Politik der Rolle rückwärts, d. h. die Rückkehr zu dem System aus der Zeit vor der Handke-Reform von 1998. Faktisch ist das der Stand aus der Zeit des Kommunismus mit einer 8-jährigen Grundschule für alle und einer weiterführenden Schule – entweder einer 4-jährigen allgemeinbildenden Oberschule oder einer 5-jährigen technischen Oberschule oder einer Art 2–3-jährigen Berufsschule (szkoła branżowa). Der Akzent auf der Wiederbelebung der Berufsausbildung ist insofern beachtenswert, als die Vernachlässigung dieses Bereichs tatsächlich am größten war, was die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zeigt.

Bedenklich dagegen ist die Verkürzung der allgemeinen Schulpflicht von neun auf wieder acht Jahre und die Festlegung, dass erst 7-Jährige eingeschult werden dürfen. Für die Kommunen und Kreise, die innerhalb weniger Monate des Jahres 2017 für die Umstellung des Systems sorgen mussten, bedeutet die Reform eine ständige Herausforderung. Die teuer erbauten Gymnasien werden in der Regel noch bis 2020 betrieben, später geräumt oder sie machen Platz für vergrößerte Grundschulen oder Lyzeen. Viele Dorfschulen werden nun wieder »reaktiviert«, so dass die Kinder auf dem Land länger getrennt von den Städtern unterrichtet werden. Verschwinden werden die Gymnasien und mit ihnen die zahlreichen dort angesiedelten Arbeitsplätze, die einen bestimmten Kaufkraftfaktor in vielen kleinen und mittelgroßen Städten darstellen. Auch wenn die Ministerin zunächst reformbedingte Stellenkürzungen ausgeschlossen hat, ist klar, dass nicht alle Gymnasiallehrer in den anderen Schultypen eine Anstellung finden werden, darüber hinaus handelt es sich nicht nur um die Lehrkräfte, sondern auch um administratives und technisches Personal wie Sekretärinnen und Hausmeister.

Wem wird die Reform nützen? Bevorteilt werden die Grundschulen und deren Schulleiter, viele Standorte auf dem Land werden wieder geöffnet, die »Bildung kehrt zu den Familien zurück«, so eine PiS-Wahllosung. Sie verspricht, die Forderungen der (sozial und bildungsbedingt benachteiligten) Landbevölkerung einzulösen, allerdings nicht im Sinne der tatsächlichen »Interessen« der Landbevölkerung, sondern im Sinne ihrer kurzsichtigen »Wünsche«. Der Wunsch, dass die Kinder wieder in die Schule vor Ort gehen, ist insofern kontraproduktiv, als die Landschulen ein niedrigeres Niveau haben, so dass die Schüler beispielsweise für eine weiterführende Schule schlechter vorbereitet sind. Gewonnen hat auch die Lobby der humanistischen Lyzeen, in denen klassische Fächer, vor allem polnische Geschichte und Literatur, unterrichtet werden (unter den PiS-Mitgliedern und -Anhängern finden sich viele »patriotisch« denkende Lehrer, die an Lyzeen unterrichten). Dienen soll die Reform aber auch der kurzfristigen Politik der PiS: Bereits 2016 wurden die Schulämter vielerorts durch ihre Parteileute »zurückerobert«, mit denen die Partei wiederum Einfluss auf die Schulrektoren und die Lehrerschaft ausüben kann. Einfluss auf die Rahmenpläne hat sie durch das Bildungsministerium ja ohnehin.

Die Situation der Lehrer

Ministerin Zalewska treibt alle Beteiligten an, ähnlich wie damals Handke, die Reform organisatorisch und finanztechnisch in kürzester Zeit durchzuführen. Sie gab weder eine plausible Begründung für die Reform noch regt sie in irgendeiner Form eine Diskussion an, was die Polen im 21. Jahrhundert von der Schule erwarten sollen und dürfen. Dafür musste am 1. September, traditionell der Schulbeginn im ganzen Land, alles fertig sein – 2017 wurden bereits die neuen 7. Klassen in den Grundschulen eingerichtet und keine 1. Klassen in die Gymnasien aufgenommen. Am 1. September 2018 gab es zum ersten Mal wieder 8.-Klässler in der Grundschule, die sich am 1. September 2019 um Plätze in den neuen Lyzeen bewerben werden. Dabei stoßen sie dann mit einem ganzen Jahrgang der letzten 9. Gymnasialklassen zusammen. Das ganze Unternehmen muss nicht nur raum- und personaltechnisch gemeistert werden, sondern es müssen auch angepasste Lehrpläne geschrieben und entsprechende Lehrbücher angeschafft werden. Dabei arbeiten alle im Eiltempo und Dauerstress: die Bauämter, die Schulbehörden, die Direktoren der abzuschaffenden und die der erweiterten Schulen.

Unsicher in die Zukunft schauen die Lehrer. An diesem Berufsstand zeigt sich heute deutlich die jahrzehntelange »negative Berufswahlpraxis«: Den Lehrerberuf wählen viele schwächere Studienabsolventen. Überdies ist das Milieu nicht in der Lage, seine Interessen klar zu definieren, ihm fehlen Anführer, Mut und Selbstbewusstsein, denn die Lehrer (sprich: in der Regel Lehrerinnen) wurden zu lang nach der Devise divide et impera von den Kommunalbehörden (die ihnen die Gehälter zahlen) und den Schulämtern (die für ihre Qualifikation zuständig sind) regiert. Aber sie ließen dies jahrzehntelang auch selbst zu. Aus ihrer Mitte kam keine eigene landesweit prägende Idee, wie man Schule heute neu denken, Lehrer besser ausbilden und bezahlen, Methoden weiterentwickeln und Erfolge für die Entwicklung des Landes verbuchen kann. In den vergangenen Jahren mussten sie sich immer nach anderen richten, dem Ministerium, den Schulämtern, den Kommunalpolitikern. Ihre Autorität verfiel dabei beständig. Beispielsweise konnten sie nur mit einem Aufstieg rechnen, wenn sie Zusatzqualifikationen erwarben, die bestehende Lücken in der Schulpraxis decken sollten. Diese Praxis artete dabei in einen ungesunden Wettbewerb von unnötigen Weiterbildungszertifikaten aus. Vorbei waren Zeiten von »Experimenten«, »Projektwochen« usw. Das im Ministerium zentral beschlossene Schulprogramm war Pflicht, für die Missachtung des Curriculums konnten sogar Kündigungen ausgesprochen werden. Die Branchenprivilegien der sog. Lehrerkarte (Karta Nauczyciela), wie etwa die 18-Stunden-Woche, Unkündbarkeit, bezahltes Sabbatical, Fortbildung auf Kosten des Arbeitgebers, waren für die privilegierten Ränge reserviert (etwa 50 Prozent der »diplomierten« bzw. »ernannten« Lehrer). Lehrer der niedrigen Chargen (»Volontäre« und »Vertragslehrer«) wurden zum flexiblen Lehrkörper, der für wenig Geld (Einstiegsgehälter in Höhe des Mindestlohns von 2.200 Zloty/500 Euro brutto) alle Löcher stopften sollte und anschließend oft schnell gehen musste. Diese Rangunterschiede hatten auch zur Folge, dass die Gewerkschaften an den Schulen nur schwach vertreten sind und sich die Lehrer mit ihren Forderungen bei den Politikern nicht durchsetzen. Heute verspricht die PiS Gehaltserhöhungen, aber die Lehrergehälter sind gegenwärtig ohnehin extrem niedrig und liegen deutlich unter dem Durchschnittsgehalt: Ein »ernannter« Lehrer – die höchste Stufe – verdient ca. 3.000 Zloty (700 Euro) Grundgehalt, mit Funktionszulagen beispielsweise als Schulrektor ca. 4.000 Zloty (950 Euro). Im Vergleich dazu beträgt das Durchschnittsgehalt 2018 ca. 5.000 Zloty (1.200 Euro). Auch die steigende Anzahl von Schulen auf dem Land wird den Lehrern Probleme bereiten: Gerade die Fachlehrer der sog. Nebenfächer müssen befürchten, dass ihre bisherige Stundenanzahl auf mehrere Schulen verteilt oder ihre Stundenzahl insgesamt reduziert wird. Selbstverständlich wird die Reform nicht alle Lehrer gleichermaßen treffen. Die neue Situation bevorteilt wie oft schon opportunistische Individuen unter der Lehrerschaft, die die Nähe der Mächtigen – Schulleiter, Schulämter oder Bürgermeister – suchen.

Die Lernbedingungen der Schüler

Die vordergründigen Probleme der Schüler werden durch die Reform der PiS kaum angesprochen. Dabei sollte gerade ihr Wohl das Ziel einer jeglichen Reform sein. Sie wird ihnen aber weder einen neuen pädagogischen Ansatz noch eine Entlastung bringen – ein 7.-Klässler hatte bisher schon durchschnittlich 37 Stunden Unterricht, Hausaufgaben und Vorbereitung nicht eingerechnet, und nach der Reform werden es noch mehr sein. Das Problem der Schüler ist aber auch die fachliche und pädagogische Schwäche der Lehrer, die keinen adäquaten Zugang zur jungen Generation mehr haben, ähnlich wie auch die Eltern. Die polnische Schule pocht auf Disziplin und Autorität gegenüber den Lehrern, wobei diese in den pädagogischen und sozialen Verhaltensmustern früherer Epochen verharren.

Viele qualifizierte Lehrkräfte geben ihren Beruf auf oder ergreifen ihn erst gar nicht, weil sie woanders besser verdienen. Hinzu kommt, dass in der Lehrerausbildung die fachliche Komponente überwiegt, während pädagogische Ansätze eher theoretisch als praktisch behandelt werden. Das hat zur Folge, dass Lehrer in ihrem Studium kaum Unterrichtserfahrungen gesammelt haben. Danach folgt das Dasein als Einzelkämpfer, in dem die Methode des Auswendiglernens und die starke Orientierung am Lehrbuch vorherrschen. Die Folge ist vorprogrammiert: Der Unterricht wird zur langweiligen Abfolge von Lerneinheiten, weil nicht eine mitreißende Methode, sondern das sture Vermitteln von Wissen im Zentrum des Unterrichts steht. Störungen des Unterrichts als Folge dieser starren Wissensvermittlung führen zur Zerrüttung des Verhältnisses zwischen psychologisch kaum geschulten Lehrern und Schülern, mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen und zunehmendem Burnout in der Lehrerschaft. Die mangelnde Hilfestellung der Schule den Jugendlichen gegenüber führt hier ebenfalls zu gesundheitlichen und mentalen Folgen: Kinder und Jugendliche mit Anorexie und Bulimie sind heute keine Seltenheit mehr, viele von ihnen gelten als drogen-, alkohol- und medienkonsumgefährdet. So potenzieren sich die Probleme, die durch eine wirkliche Reform angegangen werden müssten.

Die traditionelle Rolle der Schule, Wissen zu vermitteln, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten ohnehin erschöpft. Die polnische Schule hat darauf jedoch bisher keine Antwort gefunden, und es ist zu befürchten, dass die Reform der PiS die Beteiligten auch nicht dazu ermuntert. Heutzutage stehen Informationen meistens auch im Internet zur Verfügung. Die Lehrer sollten die Ansprüche der Schüler an das neue digitale Zeitalter ernst nehmen, indem sie (ihre Rolle als »ältere Zeitgenossen« nutzend) der jungen Generation zeigen, wie man kritisch mit Quellen arbeiten und gute von schlechten Quellen unterscheiden kann. Die Anschaffung von Tablets für die Klasse oder die Schule allein wird den Unterricht nicht verbessern, wenn sich die alten Methoden nicht ändern. Dazu aber müssten vor allem die Lehrer bereit sein, auf den überwiegend eingesetzten Frontalunterricht zu verzichten und mehr Gruppenarbeit und projektbezogenen Unterricht anzubieten, um die Schüler für den Unterricht zu begeistern. Begeisterung wird sich nämlich dann einstellen, wenn sie selbst denken und zu Ergebnissen kommen dürfen.

Die Eltern als Stützen des Bildungssystems

Eine nicht unwesentliche Rolle spielen in diesem System die Eltern. Allerdings regen diese nur selten Diskussionen darüber an, welche Schule sie sich für ihre Kinder wünschen. Vielmehr soll nach ihrer Auffassung die Schule nach den lang bewährten Mustern »funktionieren«. Die Rückkehr zum bewährten 8+4-Modell, das die Eltern aus eigener Erfahrung kennen, sowie die Betonung der Disziplin durch die Reform der PiS wird den meisten Eltern entgegenkommen. Sie haben schon viele Reformansätze kennen gelernt und viele stillschweigend erduldet (seit 1991 gab es ca. 70 Gesetzesänderungen). Die meisten Eltern machen sich über die »Schule der Zukunft« keine Gedanken, Ideen aus alternativen Kreisen oder einige wenige »Projektschulen« stimmen sie eher misstrauisch. Eltern aus der Mittelschicht, die sich engagieren, geben nach einer Weile auf und verlassen sich eher auf ihr Geld: Es werden Nachhilfestunden, zusätzliche Kurse und Sprachkurse in den Ferien bezahlt, manchmal wechseln ihre Kinder vollständig in das Privatschulsystem. Die angestrebte Reform wird auch hier keine Änderung in den Einstellungen der Eltern zur Folge haben.

Was wirklich hilft: Mut für die Zukunft

Die eingeleiteten Reformen helfen nicht, die wirklichen Herausforderungen des Landes zu meistern: die »Falle des mittleren Einkommens«, die immer noch deutliche technische Rückständigkeit und das Auseinanderdriften der sozialen Schichten. Helfen würden dagegen Klarheit, was das Bildungssystem für alle Schichten der polnischen Bevölkerung leisten soll, die Stärkung der Lehrer gegenüber der Schulleitung und -verwaltung, die Änderung der Lehrmethoden und eine neue Partnerschaft zwischen Lehrern und Schülern/Eltern.

Die Kritiker der PiS-Reformen mahnen, dass die Abschaffung von Gymnasien keine angemessene Antwort auf die wirklichen Herausforderungen des polnischen Schulsystems darstellt: Es werde sowieso nicht genügend Arbeit für alle Lehrer geben, ebenso wenig wie Verbesserungen in der Aus- und Weiterbildung der Lehrer, und der Namenswechsel der Schularten allein wird schließlich nicht bewirken, dass polnische Schüler mehr Schlüsselkompetenzen erwerben, die in der heutigen Welt besonders wichtig sind – kreatives Denken, mutige Entscheidungen treffen, Risikobereitschaft zeigen, sich Widrigkeiten entgegenstellen, mit Niederlagen angemessen umgehen. In der polnischen »Schule der Zukunft« wird dem neuen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern eine entscheidende Bedeutung zukommen: Der Perspektivwechsel von individuellen zu kollektiven Lernmethoden würde den Lehrern helfen, die Welt weniger in Fragmenten der Fachdisziplinen als stärker interdisziplinär zu sehen und dies den Schülern zu vermitteln. Schließlich sollen diese mit dem Erwerb des Abiturs befähigt werden, selbständig komplexe intellektuelle, moralische, gesellschaftliche und politische Entscheidungen zu treffen. Verfehlt die Schule dieses Ziel, so war die Schulzeit eine vertane Zeit. Hier müssen alle – inklusive Politiker und Gesellschaft – in längeren Zeitphasen als in 4-jährigen Wahlperioden denken, denn Bildungsreformen gelingen nur in der Perspektive von Generationen. Zu dieser wohl wichtigsten Herausforderung für die polnische Schule schweigt die Reform der PiS jedoch beharrlich.

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