Europa als "Wir" und "Nicht-Wir". Zum Europabild der polnischen Nationalkonservativen

Von Magdalena Telus (Universität des Saarlandes, Saarbrücken)

Zusammenfassung
Die in Polen seit November 2015 regierenden Nationalkonservativen haben ein gespaltenes Verhältnis zu Europa. Sie bejahen Europa als christliche Zivilisation, tun sich jedoch schwer mit der Europäischen Union, der sie Entwurzelung vorwerfen. Sie bekennen sich zu einer diffus verstandenen europäischen Kultur und Tradition einerseits und zeigen sich skeptisch gegenüber den politischen Strukturen, Eliten und liberalen Werten der Europäischen Union andererseits. Es liege nun an Polen, Europa an seine christlichen Traditionen zu erinnern. Polen sei ein Staat, der seinen Patriotismus und seinen Glauben hochhalte, und sei gleichsam aufgerufen, in Europa, insbesondere in seiner regionalen Nachbarschaft, eine entsprechende Rolle zu spielen. Das ambivalente Verhältnis der Nationalkonservativen zur europäischen Integration orientiert sich angesichts der im heutigen Europa unscharfen Identitäten an der vom Kommunismus konservierten Sehnsucht nach Grenzen, Vorgaben und der einen unumstößlichen Wahrheit.

»Europa, erhebe dich von den Knien!«

Beata Szydło, die frühere polnische Ministerpräsidentin der nationalkonservativen Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), beschwor die Gefahr des islamistischen Terrors in Europa herauf, als sie am 24. Mai 2017 den damaligen Verteidigungsminister Antoni Macierewicz vor der Vertrauensabstimmung im polnischen Parlament verteidigte. Attentate wie jenes vom 22. Mai 2017 in Manchester seien ein »Anschlag« auf »unsere Kultur« und »unsere Tradition«. Angesichts der »Migrationskrise« positionierte sich Szydło entschlossen gegen eine »Utopie der unkontrollierten Grenzöffnung« und eine »Erpressung« von Seiten der Europäischen Union. Die »Brüsseler Eliten« würden einen Wahnsinn« veranstalten, an dem Polen nicht teilnehmen werde. »Und ich habe den Mut…«, so Szydło in ihrer Rede, »ich habe den Mut, den politischen Eliten in Europa die Frage zu stellen: Wo geht ihr hin? Wo gehst du hin, Europa? Erhebe dich von den Knien und wache aus der Lethargie auf, denn sonst wirst du jeden Tag deine Kinder beweinen« (https://www.youtube.com/watch?v=TZywbql24Hg, Min. 12:45 f.).

Szydłos Rede veranschaulicht das ambivalente Verhältnis der regierenden polnischen Nationalkonservativen zu Europa – ihr Bekenntnis zu einer diffus verstandenen europäischen Kultur und Tradition einerseits und ihre Skepsis gegenüber politischen Strukturen, Eliten und den liberalen Werten der Europäischen Union andererseits. In diesem Spannungsfeld soll Polen eine mahnende, mitunter eine bekehrende Funktion zukommen. »Polen ist eben das Beispiel eines Staates, der die Erfordernisse des neuen Modells eines integrierten Europas erfüllt, und somit können wir zum Zentrum der europäischen Rekonstruktion werden. Denn wir sind ein seltenes Beispiel einer Gesellschaft und eines Staates, der, während er auf außerordentliche Weise mit den Fundamenten seiner Souveränität und Identität verbunden ist, sie gleichzeitig mit einer starken Unterstützung für die europäische Integration und die Mitgliedschaft Polens in der Union verbinden kann.« Mit diesen Worten erklärt Krzysztof Szczerski, Professor für Politologie und Kabinettschef des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda, die besondere Position und die wünschenswerte zukünftige Rolle Polens in Europa in seinem Buch »Utopia Europejska« (dt. Europäische Utopie) aus dem Jahr 2017 (S. 239). Wie es der Untertitel verkündet, geht es in dem Buch um »Die Integrationskrise und die polnische Initiative der Erneuerung«.

Europas Demokratiedefizit

Szczerskis Narrativ über die Krise Europas und die rettende Rolle Polens ist von zwei Darstellungen der Arche Noah eingefasst. Das Bild von Simon de Myle von 1570 stellt die Arche Noah auf dem Berg Ararat dar (S. 25), das Bild von Domenico Morelli von 1901 präsentiert Noah, der Gott für seine Rettung dankt (S. 252). Wie der biblische Urvater soll Polen, angesichts der über Europa aufziehenden Sintflut, eine Arche bauen – einen starken polnischen Staat, gestützt auf traditionelle christliche Werte, der zu einem Hort der Hoffnung auch für den Rest Europas wird: »Man hat den Eindruck, dass viele Länder auf uns warten, sie warten auf die Heimat des Heiligen Johannes Paul II, damit sie einen neuen Weg weist« ( S. 24). Wovor nun soll Polen Europa retten?

Szczerskis Diagnose benennt eine Reihe schwerwiegender Probleme: Europas Krise habe mehrere Dimensionen und bewirke, dass die Menschen das Vertrauen in die europäische Integration verlieren würden (S. 84). Die aus Brüssel kommenden Regulierungen griffen immer stärker in das Leben der Menschen ein, seien aber immer weniger verständlich. Immer mehr Menschen würden die Union nicht mit der Freiheit, sondern mit Verboten verbinden (S. 86). (Charakteristisch war in diesem Zusammenhang die abfällige Äußerung Andrzej Dudas beim Deutsch-Polnischen Forum in Berlin im Oktober 2018 über das europäische Glühbirnen-Verbot.) Das Problem des Demokratiedefizits sei auch für den Einzelnen offenkundig geworden. Unverständlich müsse das Verhalten der politischen Parteien erscheinen, die bei den nationalen und bei den Europa-Wahlen unterschiedliche Bündnisse eingingen. Als Beispiel nennt Szczerski Christdemokraten und Sozialdemokraten, die sich auf Landesebene bekämpften, im europäischen Parlament jedoch zusammenarbeiten würden (S. 115). Insgesamt würden die Wahlen zum Europäischen Parlament auf wenig Interesse bei den Bürgern stoßen, die EU-Abgeordneten blieben ihren potentiellen Wählern größtenteils unbekannt. Ein weiteres Beispiel stellten die Eingriffe der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission in die Staatshaushalte dar: Während über die Haushalte demokratisch legitimierte Parlamente der jeweiligen Mitgliedsstaaten abstimmten, werde auf der Ebene der EU disziplinierende Macht durch Institutionen ohne ein demokratisches Mandat ausgeübt (S. 122). Szczerski schildert die Legitimierungsprozesse innerhalb der EU, die auf Delegierung an Instanzen mit unterschiedlichen Legitimitätsarten beruhten und mit jedem Schritt, nach dem »Schneeball-Prinzip«, eine weitere Legitimierungsquelle auf sich vereinen würden (S. 148). Insgesamt kommt er zu dem Schluss, dass eine übernationale Demokratie nicht möglich sei und begründet dies mit fünf »Beweisen« (S. 150 ff.): (1) Es gebe keinen europäischen Demos. Szczerski tut die theoretischen Ansätze zur Begründung eines übernationalen politischen europäischen Demos, z. B. den von Jürgen Habermas vorgeschlagenen »Verfassungspatriotismus«, als »nicht überzeugend« ab. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die gescheiterten Referenden über den Vertrag über eine Verfassung für Europa in Frankreich und den Niederlanden. (2) Es gebe kein übernationales gesellschaftliches Bindemittel. Es gebe nur scheinbar ein übereinstimmendes Verständnis europäischer Werte, dies gelte auch für das Erleben und Verstehen historischer Ereignisse und die Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung. Hinzu komme das Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung sowie sich als europäisch begreifender Medien, die eine demokratische Kontrolle über die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union gewährleisten würden. (3) Selbst wenn die Entscheidungsebene der Europäischen Union nach der Art der Regierung eines demokratischen Staates gestaltet werden würde, hätte die Macht einer solchen »Regierung«, von demokratischen Prozessen entkoppelt, einen »verwaisten« Charakter (władza sieroca). Entsprechende Symptome seien bereits heute zu beobachten, wenn EU-Institutionen zu Handlangern starker Mitgliedsstaaten bzw. Einflussgruppen würden. (4) Es würden Beispiele fehlen, dass das Instrument der Demokratie auf der Ebene eines zwischennationalen Systems funktionieren könnte, im Gegenteil, Integration und Globalisierung stellten für das Prinzip der Demokratie eine Herausforderung dar. (5) Eine überstaatliche Demokratie würde zudem, mangels geeigneter Instrumente, die Probleme, denen nationale Demokratien ausgesetzt würden, nicht lösen. Zu solchen Problemen zählten »das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Schichten, die Qualität der gesellschaftlichen Debatte, die Fähigkeit zur rationalen gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung und der Umfang der demokratischen Entscheidungen selbst« (S. 154). Angesichts der unklaren Legitimierung der Macht und intransparenten Machtverteilung auf europäischer Ebene würden die Forderungen nach Rückübertragung der Kompetenzen auf die Nationalstaaten immer lauter. Dies könne zu einer langfristigen Desintegration Europas führen bzw. zur Aufteilung Europas in unzusammenhängende Gruppen von Staaten und einem Zusammenbruch des gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Raumes (S. 238).

Europas axiologische Leere

Das Demokratiedefizit der Europäischen Union habe mit der tiefgreifenden Identitätskrise Europas zu tun, deren Ursache eine »axiologische Leere« sei. Dies ist nicht nur die Meinung Krzysztof Szczerskis, sondern ein wiederkehrendes Motiv des Europadiskurses polnischer Nationalkonservativer. Die axiologische Leere Europas wurzelt demnach in der französischen Aufklärung, als an die Stelle der Person mit ihrer gottgegebenen Würde das von der eigenen Allmacht überzeugte »Subjekt« getreten sei. Der Erzbischof von Krakau, Marek Jędraszewski, sprach darüber in einem Panel während des Wirtschaftsforums in Krynica Zdrój am 6. September 2018. Das Panel mit dem Titel »Europa auf der Suche nach Werten« stand unter dem bezeichnenden Motto »Europa gemeinsamer Werte oder Europa gemeinsamer Interessen?«. Die Kultur Westeuropas ist nach Meinung des Erzbischofs von der Krankheit des Subjektivismus befallen. Mit der Infragestellung von Gott und der Zurückweisung der christlichen Auffassung vom Menschen habe sich der Mensch in der Position gesehen, selbst darüber zu entscheiden, wen er als »Mensch« begreife und wem er sein Menschsein abspreche. Dies sei die Quelle der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, aber auch des heutigen »weichen Totalitarismus« in Westeuropa: »Man befindet die einen des Überlebens würdig und spricht dieses Recht den Anderen ab, und es gibt im Grunde genommen keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem, was heute im Westen Europas passiert, was unterstützt wird, und den totalitären Systemen in der Mitte des 20. Jahrhunderts« (https://www.youtube.com/watch?v=SpGQiGSOyVo, Min. 12:29 f.).

Auch Krzysztof Szczerski nennt die französische Aufklärung und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts im gleichen Atemzug: »Dieser irreführende Anthropozentrismus mit dem aus ihm folgenden philosophischen Nihilismus und moralischen Relativismus machte die Urquelle allen Unglücks aus, das die europäischen Völker in den letzten Jahrhunderten erfuhren. Insbesondere ist hier von der französischen Aufklärung und den späteren Totalitarismen die Rede. Diese unheilvollen Strömungen kämpfen aufs Schärfste mit der Religion und der Kirche und brachten im Namen politischer Hirngespinste hauptsächlich Massenmorde hervor. Heute wiederum hat diese irrende Anthropologie die sich unter den Europäern verbreitende Desorientierung und den Verlust des Lebenssinns zu verantworten. Denn das Fehlen einer Bezugnahme auf Gott und Christus verfälscht das wahre Bild vom Menschen und das Ziel, zu dem er berufen wurde, und darüber hinaus bewirkt die kulturelle Entfremdung der Bewohner Europas, ohne Christus, wie der Heilige Johannes Paul II es sagte, dass wir als Europäer ›Fremde in der eigenen Kultur‹ werden und den ›Schlüssel zum Verstehen von uns selbst‹ verlieren« (Szczerski, s. o., S. 224). Während die Anfänge des integrierten Europa auf dem christlichem Fundament der Versöhnung fußten, entfernte sich das Integrationsprojekt infolge eines »linken Überfalls« (abordaż) der Generation ‘68 auf die staatlichen Institutionen und den intellektuellen Mainstream Westeuropas immer mehr von seinen christlichen Wurzeln. An die Stelle der christlichen Werte traten »politische Werte« wie »Multikulturalität, Mobilität, Modernisierung, politische Toleranz, Bejahung der Vielfalt und sexueller Andersartigkeiten, Rationalismus (atheistische Weltanschauung), Fortschritt, Ökologie usw.« (S. 214). Diese »politischen Werte« sollten eine politische Identität der Europäischen Union begründen, die sich nicht auf Gott und das natürliche Recht berufen würde. Die Forderung nach »mehr Europa« bedeute nicht »mehr Geist« oder »bürgerliche Tugend«, sondern den Ausbau eines immer stärker rechtlich regulierten Systems und die Abnahme von Solidarität und Loyalität. »Es ist ein Europa der Utopie und Gewalt. Ein Europa, das sich in eine gefährliche Richtung bewegt. Ein Europa am Rande des Abgrunds« (S. 215).

Der einflussreiche konservative Journalist Bronisław Wildstein stimmt ein, indem er auf die Schnittstellen der westeuropäischen »liberalen Linken« mit dem Marxismus hinweist, was im heutigen polnischen Diskurs eine Verunglimpfung ist. Gemeinsam sei der »liberalen Linken« und dem Marxismus die Absage an die vorgefundene Welt (was Wildstein mit dem Nihilismus gleichgesetzt) und die Überzeugung, der Mensch könne eine bessere Welt schaffen (Bronisław Wildstein: O kulturze i rewolucji, 2018, S. 169; dt. Über die Kultur und die Revolution). Beide gründeten auf der marxistischen Annahme, der Mensch hätte keine »Natur«, sondern lediglich ein Potential, dessen Verwirklichung er anstreben sollte, ggf. gegen die Fesseln der Zivilisation, Kultur und Identität. Die Absage an die Lehre des Christentums hat nach Ansicht Wildsteins zur »radikalen« Aufklärung, später zur »radikalen Romantik« und schließlich zum Marxismus geführt (S. 165 f.). Europa sei zwar veraltet und verbürgerlicht, habe sich jedoch den Traum von einem Paradies auf Erden erhalten. An die Stelle der blutigen Revolutionsromantik sei das Recht getreten, das versucht, dem aus allen Verbindlichkeiten losgelösten Menschen durch detaillierte Regelungen Sicherheit zu bieten. Diese Entwicklung habe gleichermaßen die Religion, die Kirche, die klassische Kultur, aus der die westliche Zivilisation hervorgegangen sei, sowie alle Formen der traditionellen Gemeinschaft zum Feind (S. 170).

Der Erhalt der nationalen Gemeinschaft und die Wiederherstellung der zerstörten europäischen »Gemeinschaft der Nationen« ist ein wichtiges Anliegen der polnischen Nationalkonservativen. Wird die EU als konträr zu diesem Anliegen ausgelegt, geht dies mit einer starken Abwertung und emotionalen Ablehnung ihr gegenüber einher, wie im Falle der PiS-Abgeordneten Krystyna Pawłowicz. In einem Fernsehinterview mit Sławomir Jastrzębowski im Jahr 2016 in dem »Sensationskanal« Super Express TV bezeichnete sie die EU-Fahne als »Lumpen« (szmata) und begründete dies damit, die EU-Fahne würde ein Gebilde symbolisieren, »das Kompetenzen übernimmt, von den Kompetenzen der Nationalstaaten lebt. Sein Ziel ist die Abschaffung der Nationalstaaten und unter anderem der Unabhängigkeit Polens, eines Mitgliedsstaates. […] niemand bekämpft die Kirche so stark, rücksichtslos, die Religion und die Kirche, wie die Unions-Ultralinken (lewacy). […] es ist etwas diabolisch zu sagen, ich sollte die Unionsflagge ehren. Für mich ist sie ein Lumpen, denn ich verbinde sie mit etwas sehr Schlechtem, Ungutem, Schmutzigen« (https://www.youtube.com/watch?v=cvFc1ybRjW0, Min. 1:42 f.).

Der konservative Historiker und Publizist Andrzej Nowak bestimmte in einem Vortrag in Lodz (Łódź) am 23. Februar 2016 den »Konsumismus« und die Beschleunigung der Kommunikation als zwei wichtige Faktoren, welche die Abkehr der westlichen Zivilisation von dem Bedürfnis nach Identität und historischem Bewusstsein bedingen würden. In dieser Zivilisation ginge es nunmehr um die Herausbildung eines Menschen ohne Eigenschaften, eines Menschen, der die Verankerung in der Geschichte nicht mehr brauche. Das Festhalten an der schmerzhaften Auseinandersetzung mit Europas Verfehlungen wie dem Holocaust, den Gulags, den beiden Weltkriegen, dem Kolonialismus u. a., die an die Stelle der Geschichtserzählung getreten sei, befördere nicht, sondern zerschlage die europäische Identität ebenso wie die Dekonstruktion des Nationalen. Nowak bezeichnet das Projekt der Europäischen Union als »dem gesunden Menschenverstand radikal widerstrebend«. Dieses Europa sei für Polen kein Vorbild, es komme selbst nicht zurecht. Deutschland würde Fehler machen, Frankreich sei ein »gefallenes Land«, Paris – eine Stadt, in der Kriegsrecht herrsche. Die europäischen Eliten hätten den Kontakt zur ihren Gesellschaften verloren, die von ihnen verordnete politische Korrektheit höre auf zu wirken. Dies sei eine neue Situation, die Situation einer Kapitulation vor der anrückenden starken Zivilisation des Islam, die das europäische Terrain, von Ideen verlassen und zur Verteidigung unfähig, in Besitz nehmen wolle. In dieser Situation könne Polen getrost »nach der Wahrheit streben«, ohne Dankbarkeitskomplex. Das Polentum sei ein Weg in Europa, der nicht erst im Jahr 1945, sondern in der Antike und dem Christentum seinen Anfang gefunden habe (»Spór o historię Polski i Europy w XXI wieku«, Spotkanie Częstochowskiej Frondy z prof. Andrzejem Nowakiem, 23.02.2016. In: https://www.youtube.com/watch?v=-5y1AqIzH3g).

Vorschläge polnischer Nationalkonservativer für Europa

Was soll nun Polens Beitrag bei der Erneuerung der Europäischen Union sein? Stellung dazu nahm u. a. der Soziologe Andrzej Zybertowicz in einem Vortrag in Berlin am 11. September 2016 (»Polska w obliczu krysysu cywilizacji zachodniej«, Niedzielny Klub Dyskusyjny, Klub Gazety Polskiej Berlin. https://www.youtube.com/watch?v=dZnASqHWtRw). Als die drei wichtigsten Faktoren, die die westeuropäische Zivilisation der Gegenwart prägen würden, identifizierte Zybertowicz die technologischen Veränderungen, die sich der Menschen bemächtigen würden, den Angriff auf das Christentum und den »Hyperindividualismus«. Das in diesem zivilisatorischen Rahmen betriebene Projekt eines »übernationalen« und »post-religiösen« Europa sei gefährlich, zumal die normalen gesellschaftlichen Kommunikationskanäle wegen einer übertriebenen politischen Korrektheit, trotz ihrer anfänglichen »guten Intentionen«, nicht funktionieren würden. Ebenso gefährlich sei die Entwicklung der Linken, von einer »sozialen Linken« (lewica socjalna), die in ihrem Geiste christlich gewesen sei, hin zur »Sitten-Linken« (lewica obyczajowa), die sich in ihrem Bestreben, die biologischen Begrenzungen abzuschütteln, gegen den christlichen Geist richte. In dieser Situation solle der polnische Staat auf die eigene Konsolidierung setzen, die Ohnmacht des Staates beenden, die kosmopolitischen Eliten gegen patriotische austauschen, late-comers-Vorteile ausschöpfen und einen zeitgemäßen Konservatismus pflegen, der geschichtspolitische Aspekte mit gutem Wirtschaften verbinden würde. Die EU sei insbesondere angesichts der Politik Russlands gut für Polen, jedoch sollte sich Polen für ein Überdenken der politischen Korrektheit und die Überwindung der Aufklärung, deren Fortschrittsvision auf einer unrealistischen Konzeption der menschlichen Natur aufbaue, einsetzen. Die Vision einer Welt ohne Grenzen sei unrealistisch und unverantwortlich, Grenzen würden gebraucht, sie sollten jedoch im vernünftigen Maße durchlässig sein.

Einen besonderen Stellenwert nimmt in Zybertowiczs Darstellung die sog. Drei-Meeres-Initiative ein (siehe Grafik 1 auf S. 7). Sie sei keine »Alternative«, sondern ein »Korrektiv« innerhalb der EU, wobei es zunächst um die Schaffung einer Nord-Süd-Infrastruktur ginge. Auf diese Initiative geht auch Krzysztof Szczerski ein. Die Drei-Meeres-Initiative solle die Region konsolidieren und der historischen Aufteilung in ein altes und ein neues Europa ein Ende setzen. Auch wenn es sich dabei eigentlich nicht um ein geopolitisches Projekt handele, könne es als »eine Antwort auf die geopolitischen Gefährdungen für Mittel- und Osteuropa angesehen werden« (Szczerski, s. o., S. 250).

Gemäß ihrer ambivalenten Haltungen zu Europa gehen in den Vorschlägen der Nationalkonservativen nüchterne Verbesserungsentwürfe mit einer Ablehnung der aufklärerischen Vision Europas einher, sachliche Darstellungen wechseln sich mit emotionalen Deklarationen ab. So auch bei Szczerski, wenn er einerseits eingehende politische Analysen präsentiert, andererseits z. B. die polnischen Migranten in den Plan der geistigen Erneuerung Europas einspannt: »Die Ausreisen einer großen Anzahl polnischer Bürger eröffnen neue Möglichkeiten evangelisierender Aktionen im Westen, unter der Bedingung, dass die Polen, die ihr Land verlassen, tatsächlich das Feuer des Glaubens mit sich tragen werden, dass sie es mitnehmen auf den Weg der Emigration. Daraus folgt die Pflicht, dafür zu sorgen, dass unsere Landsleute, die Arbeit in Europa suchen, den Glauben nicht verlieren, sondern im Gegenteil: Dass sie, indem sie ein Zeugnis über ihre Freundschaft mit Christus ablegen, Evangelisten Europas werden […]. Deshalb möchte ich vorschlagen, dass Arbeiten an der Vorbereitung einer Art »Katholischen Passes« aufgenommen werden, also eines Dokuments für die polnischen Katholiken, die sich dafür entscheiden, das Vaterland zu verlassen […]. Es geht darum, dass jeder, der sich für einen solchen dramatischen Schritt entscheidet, Polen mit der klaren Botschaft verlässt, dass er das Licht des Glaubens für sich, für seine zukünftige Familie und für die Menschen um ihn herum zu tragen habe. Damit die Polen, die aus dem Vaterland in die atheisierten westeuropäischen Länder emigrieren, nicht den dortigen linksorientierten Moden nachgeben, sondern dass sie Gott und Polen treu bleiben, dass sie das Bewusstsein haben, dass auf ihnen die Pflicht lastet, diesen Glauben in ihrem Umfeld zu verbreiten« (S. 226 f.).

Die Nationalkonservativen in Europa: Die Sehnsucht nach Orientierung

Mit dem EU-Beitritt 2004 ging für die allermeisten Polen ein Traum in Erfüllung. An dem entsprechenden Referendum beteiligten sich 58,85 Prozent der Wahlberechtigten; 77,45 Prozent sprachen sich für den Beitritt aus. Bis heute ist die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft Polens quer durch die Parteien ungebrochen hoch, wie die neuesten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CBOS zum Thema zeigen (s. die Grafiken auf S. 8–10). Jahrelang war Polen der »Musterschüler« unter den neuen EU-Mitgliedsstaaten. Noch vor kurzem hieß es in einem Sammelband zur Transformation osteuropäischer Beitrittsländer: “Poland has become a bastion of stability in Eastern Europe and serves as an attractive model of successful transformation […]” (Klaus Ziemer: From Eastern Bloc to European Union, 2017, S. 151). Jetzt will Polen kein »Schüler« und kein »Modell« mehr sein, es beharrt hingegen auf seinem Subjekt-Sein (podmiotowość) als Nationalstaat, um eine der Lieblingsvokabeln von Jarosław Kaczyński, dem Parteivorsitzenden der PiS, zu bemühen.

Die soziale Wirklichkeit der Nation, wie wir es aus inzwischen als klassisch anzusehenden Schriften solcher Autoren wie Benedict Anderson, Eric Hobsbawm, Ernest Gellner oder Ruth Wodak wissen, baut auf der Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach außen, auf der Entfachung negativer und positiver Emotionen, auf Mythenbildung, Stereotypisierung usw. auf. All dies machen die Politiker der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) und die von der Partei übernommenen öffentlichen Medien jeden Tag. Das Weltbild der PiS entfaltet sich entlang der Identifizierung innerer und äußerer Feinde, das Individuum wird darin mit der expliziten Vorgabe der Vaterlandsliebe, mit normativen sozialen Zuschreibungen und staatlich abgesegneten Mustern der Frömmigkeit konfrontiert. Aus kulturhistorischer Sicht sieht es aus, als ob die PiS bzw. ein Teil der polnischen Gesellschaft eine Bremse ziehen wollte in der Welt der späten Moderne, die sich durch Unschärfe, Dynamik und die Tendenz zur Fragmentierung auszeichnet.

In der Welt der späten Moderne lässt sich eine europäische Identität nur als eine Vielheit denken, als eine »Bindestrich-Identität« (Anthony Giddens), eine »Melange-Identität« (Ulrich Beck und Edgar Grande), eine »Flickwerk-Identität« (Norbert Parschalk), eine »verschachtelte« (»nested identity«, Peter Schmitt-Egner) bzw. eine »Marmorkuchen-Identität« (»marble cake identity«, Thomas Risse). Jahrzehntelang erschien es ausreichend, von einem »permissiven Konsens« (Thomas Risse) der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten, nach 2004 auch Polens, auszugehen. Langfristig wurde eine »prozedural im politischen Raum hergestellte Sozialintegration« zur demokratischen Legitimierung der entstehenden neuen politischen Ordnung postuliert (Viktoria Kalina). Europa nahm seine BürgerInnen sozusagen vorweg, vorausgesetzt wurde etwas, wovon man ausging, dass es dabei sei zu entstehen (Gerard Delanty).

Dies erschien gerade mit einer axiologischen Begründung rechtens. Im Hinblick auf das Europa nach 1945 wurde eine Reihe von historisch-semantischen Unterschieden zur Nation ausgearbeitet, die das Projekt des vereinten Europa legitimierten. Dieses Europa ist postheroisch, da es aus den Kriegsverheerungen und Traumata heraus entstand und daraus gelernt hat (so z. B. Herfried Münkler und Hartmut Kaelble). Es ist ein Charakteristikum europäischer Narrative im Unterschied zu ihren nationalen Entsprechungen, den Opfern eine Stimme zu geben und der eigenen Täterschaft selbstreflexiv-kritisch nachzugehen. Eine europäische Identität grenze sich nicht nach außen ab ‒ im Gegenteil, der Blick von außen wird als ein willkommener Beitrag ernst genommen. Das identitätsstiftende Andere Europas sind die Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts und die eigene Täterrolle.

Die Ersetzung des Mythos durch das Trauma der eigenen Täterschaft lockert den sozialen Zusammenhalt einerseits, andererseits werden neue, horizontale, netzwerkartige, lebensweltlich verankerte Zusammenschlüsse gefördert. »Identität« kommt einer Verortung in einem vielschichtigen, dynamischen Koordinatensystem gleich. Nationalstaatliche Gesellschaften bleiben bestehen, ihre identitätsstiftende, sprich orientierende Bedeutung jedoch wird neu verhandelt, die Qualitäten des sozialen Zusammenhalts verändern sich grundlegend, auch wenn es schwierig ist, sie zu benennen.

Es ist mitunter diese Schwierigkeit, Dinge zu benennen und eine Orientierung zu entwickeln, die einen Teil der europäischen Gesellschaften in den vermeintlich sicheren, vertrauten Hafen der Nation zurückrudern lässt. Diese Sehnsucht nach Orientierung, Wahrheit und Tradition ist in den ehemals kommunistischen Ländern besonders spürbar. Der Kommunismus konservierte die Nation als verpflichtende kollektive Identität, zementierte das Freund-Feind-Denken und hielt an der essentialistischen Vorstellung vom »Wesen« der Dinge fest. Indem der Kommunismus aus der Vorstellung eines linearen Fortschritts heraus Ja-Nein-Antworten generierte und am Begriff der objektiven Wahrheit als Fluchtpunkt der eigenen gesellschaftlichen Diagnose festhielt, hinterließ er latente Schablonen kulturkonservativen Denkens, die von der PiS wiederbelebt werden. In ihrer ambivalenten Haltung zu Europa erweist sich die PiS als Erbin der Sehnsucht nach einer starren, klar strukturierten Welt, mit staatlichen Orientierungshilfen und eindeutigen Identitätsvorgaben.

P.S. Nach den Kommunalwahlen im Oktober/November 2018, in denen die PiS zwar in absoluten Zahlen gewann, jedoch ein vernichtendes Ergebnis in den Städten erzielte, gibt sich die Partei dezidiert Europa-freundlich. Sie muss annehmen, dass das schwache Ergebnis in den Städten mit dem Vorwurf der Opposition, die PiS strebe einen Polexit an, zusammenhing.

Die Übersetzungen der Zitate ins Deutsche stammen von der Autorin.

Letzter Zugang zu den Internetquellen: 15.12.2018.

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