Der trügerische Schein einer Insel der Seligen
Über viele Jahre fühlten sich Polens Bischöfe samt ihren Priestern und Gläubigen wie auf einer Insel der Seligen. Während in den USA und im streng katholischen Irland die Kirche durch die klerikalen Missbrauchsfälle in eine tiefe Krise geriet, die Gläubigen ihr den Rücken kehrten und der Episkopat seine Autorität einbüßte, schien Polen von derartigen Skandalen verschont zu sein. Doch der Schein trog. Es gab solche Fälle durchaus, aber sie wurden nicht öffentlich gemacht. Aus Scham und Angst unterließen es die kindlichen Opfer zumeist, sich anzuvertrauen. Taten sie es, wurde ihnen oftmals nicht geglaubt. Sie wurden der Lüge bezichtigt und mitunter noch dazu von den Eltern bestraft. Und brachte man den Mut auf, das sexuelle Vergehen eines Priesters der Kurie zu melden, verpflichte man die oft unter einem Trauma leidenden Opfer und ihre Angehörigen durch einen Schwur auf die Bibel, wie eine Mutter berichtet, zu schweigen; zum Wohle der Kirche, versteht sich. Sie schwiegen dann auch in der Regel, zumal die Furcht nur zu berechtigt war, im katholischen Milieu als Nestbeschmutzer abgestempelt und sozial ausgegrenzt zu werden. Auf diese Weise fiel es den kirchlich Verantwortlichen leicht, derlei unliebsame Vorgänge zu vertuschen. Grassierten in den Gemeinden entsprechende Gerüchte, war man schnell bei der Hand, die betreffenden Priester zu versetzen, wobei in Kauf genommen wurde, dass sie sich am neuen Ort ebenfalls der Pädophilie schuldig machten. So blieb es lange Zeit bei »bedauerlichen Einzelfällen«, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt wurden und daher keine Beachtung fanden, so dass man seitens der Kirche keinen Grund sah, sich mit der Problematik des sexuellen Vergehens von Priestern an Kindern und Jugendlichen ernsthaft zu befassen.
Eine Bischofskonferenz – wenig Klarheit, viel Kritik
Am 14. März 2019 gab es dann doch eine der Problematik gewidmete Bischofskonferenz. Der Direktor des Statistischen Instituts der katholischen Kirche legte für den Zeitraum 1999 bis 2018 die ermittelten Daten offen: 382 Fälle, davon 198 sexuelle Übergriffe auf Jugendliche unter 15 Jahren. Verübt wurden die Vergehen von 74 Ordens- und 41 Diözesanpriestern. Knapp 95 Prozent der Fälle unterlagen einer kanonischen Untersuchung. 20 Fälle, das sind 5,2 Prozent, wurden überhaupt nicht untersucht. 40 Prozent der beschuldigten Priester erhielten eine Strafe nach dem Kirchenrecht. Ungefähr jeder vierte verlor sein Priesteramt. Bei 13 Prozent der Missbrauchsfälle kam es zu keinem abschließenden Urteil, und 28 der beschuldigen Priester wurden kirchlich freigesprochen. Besonders besorgniserregend sei die seit Ende des letzten Jahrhunderts zu beobachtende Dynamik dieser die Kirche belastenden Entwicklung, denn von Jahr zu Jahr zeige sich ein Anstieg kirchlicher Missbrauchsfälle. Nicht ermittelt wurde die Zahl der Vertuschungen sexueller Vergehen der Priester in Orden und Diözesen. Zudem wurden nicht sämtliche Fälle erfasst, so dass von einer beträchtlichen Dunkelziffer auszugehen ist.
Warum der Zeitraum zwischen 1999 und 2018 gewählt wurde, erläuterte der für Missbrauchsfälle von der Bischofskonferenz beauftragte Koordinator, der Jesuit Adam Żak. Er verwies darauf, dass sein Orden nach dem Ende des kommunistischen Systems den Auftrag erhalten habe, die kirchlichen Archive auf belastendes Material hin zu untersuchen. Es sei aber nichts zu finden gewesen. In der Zeit kirchlicher Unterdrückung habe man offenbar darauf verzichtet, Vorgänge zu dokumentieren und zu archivieren, die von der kirchenfeindlichen Propaganda hätten ausgenutzt werden können. Somit lasse sich nicht belegen, wie häufig die Kirche in den Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft von priesterlichen Missbrauchsfällen betroffen war und wie sie darauf reagiert hat. Dies wollten die kirchlichen Entscheidungsträger offenbar auch gar nicht wissen, denn in den Verhandlungen am Runden Tisch im Frühjahr 1989 wurde vereinbart, die Kirche belastendes Material zu vernichten.
Pater Żak machte zudem deutlich, dass die Untersuchung von Missbrauchsfällen im Episkopat auf Widerstand stieß: »Unter den Hierarchen fehlte es an gemeinsamem Interesse, das Problem anzugehen. Auch die Recherchen von Journalisten, kirchliche Missbrauchsfälle aufzuklären, blieben ergebnislos, weil sich die jeweilige Kurie weigerte, die entsprechenden Informationen zu liefern.« Und er ließ keinen Zweifel daran, dass es sich bei den ermittelten Fällen um »die Spitze eines Eisberges« handelt.
Die Polnische Bischofskonferenz stand unter einem gewissen Erwartungsdruck. Schließlich war sie kurz nach dem römischen »Missbrauchsgipfel« (21. bis 24. Februar 2019) einberufen worden, so dass anzunehmen war, Erzbischof Marek Jędraszewski, der in Vertretung des erkrankten Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, daran teilgenommen hatte, werde Bericht erstatten. Doch davon konnte keine Rede sein. Auch hatte die Hoffnung bestanden, Polens Bischöfe würden als Konsequenz des vatikanischen Treffens entsprechende, über die bisherigen Richtlinien hinausgehende Aktivitäten beraten, einschließlich einer gründlichen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle und der Erforschung ihrer Ursachen. Doch wer dies erwartet hatte, wurde enttäuscht. War das also alles? Glaubte man, damit dem Verlangen nach Transparenz Genüge getan zu haben? Hoffte man, unter diese für die Kirche höchst unangenehme Thematik nun einen Schlussstrich ziehen, die belastete Vergangenheit abhaken zu können? Und dies, obwohl die Präsentation der Daten und ihre Kommentierung deutliche Defizite in der Erfassung und Behandlung von Missbrauchsfällen aufweisen? Die Opfer blieben unerwähnt, kein Täter wurde namentlich genannt, keine anschaulichen Beispiele kamen zur Sprache und die so notwendige Frage nach den Umständen und Ursachen der Pädophilie in der Kirche hat man sich erspart.
Als sei die Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft, sich im Geiste von Papst Franziskus mit dem sexuellen Missbrauch und dem durch ihn bedingten Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche zu befassen, noch nicht genug, sorgten Äußerungen des Vorsitzenden der Bischofskonferenz und seines Stellvertreters geradezu für empörende Reaktionen. So verwahrte sich Erzbischof Gądecki gegen die Tendenz, die Pädophilie als ein ausschließlich kirchliches Problem auszugeben. Er sieht in der in der Öffentlichkeit immer wieder anzutreffenden Formel »Pädophilie in der Kirche« ein ideologisches Schlagwort, verbunden mit der Absicht, »die Autorität der Kirche zu untergraben, das Vertrauen zu ihr zunichte zu machen.« Und der als besonders nationalkonservativ bekannte Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski versuchte, das Problem innerkirchlicher Pädophilie herunterzuspielen, indem er die von Papst Franziskus gebrauchte Formel »Null Toleranz« mit der für Empörung sorgenden Begründung ablehnte, sie sei »totalitär« und stehe in Analogie zur Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus und zu den millionenfachen Morden des Bolschewismus.
Zwei Filme erschüttern Polens Kirche
Inzwischen wurde Polens Kirche von der Wirklichkeit eingeholt. Der im vergangenen Jahr ausgestrahlte Spielfilm »Kler« (dt.: Klerus; Regie Wojciech Smarzowski) bewirkte eine erste Erschütterung. Millionen Polen haben ihn gesehen. Ihnen wurde eindrucksvoll der in Polens Kirche besonders ausgeprägte Klerikalismus als Quelle allen Übels vor Augen geführt– auch als eine der Ursachen für die kirchlichen Missbrauchsfälle. Der Film wurde außerhalb wie innerhalb der Kirche heiß diskutiert. Inzwischen gibt es einen neuen Film, der den sexuellen Missbrauch von Priestern zum Thema hat. Im Unterschied zu »Kler« handelt es sich nicht um einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Spielfilm, sondern um eine filmische Dokumentation. Sie läuft nicht in den Kinosälen, sondern ist auf YouTube zu sehen. Weil die Brüder Marek und Tomasz Sekielski, der eine der Produzent, der andere der Regisseur des Films, keine öffentlichen Gelder erhielten, hatten sie über eine Internetplattform um Spenden gebeten und diese reichlich erhalten, so dass sie ihr Vorhaben realisieren konnten. In nur wenigen Tagen wurde dieser Dokumentarfilm 20 Millionen Mal angeklickt und übertrifft damit sogar bei weitem die Zahl derer, die »Kler« gesehen haben.
Der Dokumentarfilm läuft unter dem gut gewählten Titel »Tylko nie mów nikomu« (Dt.: Sag es nur keinem). Er zeigt, wie es den Priestern im Bewusstsein ihrer Macht gelingt, ihre Opfer zum Schweigen zu bringen. Und wer sich von ihnen im Erwachsenenalter dazu durchgerungen hatte, den schuldig gewordenen Priester bei der Kurie anzuzeigen, erlebte in der Regel eine demütigende Abweisung.
Die Wirkkraft dieses Dokumentarfilms beruht darauf, dass von den Opfern die an ihnen verübten sexuellen Handlungen und ihre leidvollen Traumatisierungen im Detail geschildert werden. Mit verdeckter Kamera wurden die Aussagen der mit ihren Opfern konfrontierten Täter aufgenommen, mitunter auch die erschütternden Zeugnisse sexueller Not und Eingeständnisse persönlicher Schuld. Auf diese Weise wird das ganze Ausmaß an Missbrauchsfällen in der polnischen Kirche deutlich, die von Bischöfen praktizierte Verharmlosung und Vertuschung, die Versetzung straffällig gewordener Priester von Diözese zu Diözese, von Pfarrei zu Pfarrei.
Es gibt dabei besonders spektakuläre Fälle. So den des Marianerpaters Eugeniusz Makulski, Erbauer und langjähriger Kustos der der Gottesmutter geweihten Wallfahrtskirche in Licheń – ein Bauwerk der Superlative: die größte Kirche in Polen mit dem höchsten Kirchturm und der schwersten Glocke. Erstellt aus den Spenden der Gläubigen, von denen auch Makulski und seine Familie auf korrupte Weise profitierten, wurde sie nach zehnjähriger Bauzeit fertiggestellt. Eingeweiht hat sie der »polnische« Papst Johannes Paul II. persönlich und in den Rang einer Basilika erhoben. Ein Denkmal des Papstes mit dem zu seinen Füßen knienden Makulski erinnert daran. Es wurde nach Ausstrahlung des Films auf kirchliche Anordnung vorerst verhüllt und so den Blicken entzogen. Die Ortsbevölkerung verlangt bereits seine Beseitigung. Doch was wird mit dem Kirchenfenster der Basilika, in dem sich Eugeniusz Makulski zusammen mit Johannes Paul II. und einer Kinderschar verewigt hat?
Makulski hat Ministranten missbraucht und sich seinen Chauffeur und Gärtner als Liebhaber gehalten. Als er deswegen ins Gerede kam, entließ er ihn. Und als jener dieses Verhältnis offenlegte und auch auf die ihm reichlich gemachten Geschenke verwies, wurde dies als persönliche Rache abgetan.
Ein weiterer spektakulärer Fall ist der des Danziger Priesters Franciszek Cybula (Danzig/Gdańsk). Er war während der Präsidentschaft von Lech Wałęsa dessen Kaplan und Beichtvater. Am Amtssitz des Präsidenten galt er als Graue Eminenz. Später wurde er als Informeller Mitarbeiter des Sicherheitsapparats enttarnt. Wie man heute aus der Vernichtung entgangenen Dokumenten weiß, nutzte der Geheimdienst in aller Regel seine Kenntnis von der Pädophilie eines Priesters als Druckmittel, um ihn als Informanten zu gewinnen.
»Sag es nur keinem« hat die Mauer des Schweigens eingerissen. Immer mehr Opfer melden sich zu Wort. Und wieder gibt es besonders spektakuläre Fälle. So den des emeritierten 95jährigen Kardinals Henryk Gulbinowicz (Breslau/Wrocław), eine angesehene, hoch geehrte Persönlichkeit, eine Legende der demokratischen Oppositionsbewegung Solidarność in der Volksrepublik Polen. Beschuldigt wird er von einem damals 15jährigen Franziskanerschüler. Die Umstände der Tat legen zudem den Verdacht nahe, dass der örtliche Franziskanerobere in Absprache mit dem Kardinal gehandelt und sich damit der Mittäterschaft schuldig gemacht hat. Bereits vor 22 Jahren hatte das Opfer den an ihm verübten Missbrauch in der homosexuellen Zeitschrift »Inaczej« (dt.: Anders) im Detail beschrieben. Doch weder die Kirche noch die Gesellschaft hatten damals davon Notiz genommen. Angesichts der Welle neuerlicher Enthüllungen haben die Brüder Sekielski einen zweiten Dokumentarfilm angekündigt sowie ein Buch, das die im Film nicht gezeigten Dokumente enthalten wird.
Eine breite Palette kirchlicher Reaktionen
Die zahlreichen Reaktionen auf »Sag es nur keinem« zeigen, unter welchem Druck sich die Kirche in Polen befindet. Es fehlt nicht an negativen Stimmen aus dem nationalklerikalen Lager. Den Ton gab hier Pater Tadeusz Rydzyk mit seinem einflussreichen Medienimperium vor. An die Brüder Sekielski adressiert sagte er: »Sie wollen aus ihrer Anklage der Pädophilie Profit machen und die Kirche vernichten. Das sind organisierte Aktionen, wie man sie aus dem Ausland kennt.« Die Mehrzahl der Bischöfe hüllt sich, zumindest vorerst, in Schweigen. Der Danziger Erzbischof Sławoj Leszek Głódź, der sich bereits geweigert hatte, den Fall des schwer belasteten Prälaten Henryk Jankowski, ein inzwischen verstorbener ehemals hoch geschätzter Held der Solidarność, untersuchen zu lassen, gibt zu verstehen, dass ihn dieser Dokumentarfilm nichts angehe. Er sieht keinen Grund, sich zu seinem die Missbrauchsfälle in seiner Diözese betreffenden Verhalten zu erklären, sich schuldig zu bekennen und um Vergebung zu bitten.
Doch es gibt auch Beispiele für positive Reaktionen kirchlicher Amtsträger. Der polnische Primas, Erzbischof Wojciech Polak, äußerte sich mit den Worten: »Der Film von Tomasz Sekielski hat mich tief bewegt. Das gewaltige Leiden der Opfer weckt Schmerz und Abscheu. Vor Augen habe ich das Drama der Geschädigten, mit denen ich persönlich zu tun hatte. Ich danke allen, die den Mut haben, von ihren Leiden zu sprechen. Ich bitte um jede von Menschen der Kirche verübte Verletzung um Vergebung.« Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, der noch auf der Bischofskonferenz das Problem der Pädophilie in der Kirche relativiert hatte, unter Hinweis darauf, dass dies überall in der Welt vorkomme, erklärte: »Sehr bewegt und mit Trauer habe ich mir heute den Film von Herrn Sekielski angeschaut, wofür ich dem Regisseur danken möchte.« Der Bischof der Diözese Płock, Piotr Libera, geht – ein in Polen einmaliger Fall – für ein halbes Jahr zum Zeichen der Buße in ein Kloster. Dabei gehört er zu den Oberhirten, die sich nicht der Vertuschung von Missbrauchsfällen schuldig gemacht haben. Schließlich kam am 26. Mai in allen Sonntagsgottesdiensten der gemeinsame Hirtenbrief »Empathie und Verantwortung« zur Verlesung. In ihm heißt es: »Es fehlen die Worte, um unseren Abscheu wegen der sexuellen Skandale unter Beteiligung von Geistlichen zum Ausdruck zu bringen. Sie sind der Grund für ein gewaltiges Ärgernis und erfordern eine uneingeschränkte Verurteilung, müssen aber auch ernste Konsequenzen für die Täter nach sich ziehen sowie für jene Personen, die durch diese Handlungen Schaden erlitten […] Wir betonen auch, als Bischöfe nicht immer auf diese Vorfälle entsprechend reagiert zu haben.«
Handeln dringend erforderlich
Ob dieser Hirtenbrief die Lage zu beruhigen vermag, ist eher fraglich. Den Worten müssen Taten folgen. Und die müssen noch über die im Hirtenbrief angesprochenen Konsequenzen hinausgehen. Man wird sich der Frage stellen müssen, inwieweit die massenhafte Pädophilie von Priestern durch das herrschende kirchliche System bedingt ist. Sie wurde in dem Hirtenbrief nicht angesprochen.
Immerhin scheint Polens Kirche den mit dieser Krise verbundenen Erwartungsdruck zu spüren. Primas Wojciech Polak hat seine geplante Reise nach Südkorea abgesagt und mitgeteilt, dass der im Vatikan mit den Missbrauchsfällen befasste 2. Sekretär der Glaubenskongregation, Erzbischof Charles Scicluna, auf seine Einladung hin nach Polen kommen und am 13./14. Juni an der Plenarversammlung des Episkopats teilnehmen wird (vgl. den Eintrag in der Chronik auf S. 14). Bei diesem Besuch dürfte es vor allem um die durch die Missbrauchsfälle ausgelöste Krise, ihre Konsequenzen und ihre Bewältigung gehen.
In diesem Zusammenhang ist eine Initiative erwähnenswert, die von einer Priester und Laien umfassenden Gruppe ausgeht. Eine Delegation wird sich nach Rom begeben, um den Papst persönlich zu treffen. Man möchte ihm den Dokumentarfilm aushändigen und eine Übersicht der auf ihn Bezug nehmenden Presseberichte überreichen. Vor allem aber wird er eine Liste jener Bischöfe erhalten, die in der Behandlung der Missbrauchsfälle besonders versagt haben. Man hofft, dass der Papst nach dem Vorbild Chiles reagieren wird. Nach einer jüngsten Untersuchung fordern 54 Prozent der Befragten den Rücktritt des gesamten Episkopats.
Doch eine solche Maßnahme ist noch keine kirchliche Erneuerung, sondern bestenfalls ihre Voraussetzung. Zu einem fundamentalen Neuanfang bedarf es eines einschneidenden Mentalitäts- und Strukturwandels. Statt in »Sag es nur keinem« eine Kampfansage an die Kirche zu sehen und dazu aufzurufen, die Reihen noch fester zu schließen, sollte man sich endlich von dem in nationalkonservativen Kreisen verbreiteten Kirchenverständnis einer »belagerten Festung« verabschieden und es aufgeben, kulturkämpferisch gegen vermeintliche Feinde der Kirche zu polemisieren, gegen Gender, Neomarxismus, Europäische Union, Freimaurer, Juden …
Die sich für eine grundlegende Erneuerung der Kirche aussprechenden Katholiken sehen, übrigens ganz im Sinne von Papst Franziskus, im Klerikalismus die Quelle allen Übels; er müsse überwunden werden. Vor allen strukturellen Änderungen sei ihm die pseudotheologische Grundlage zu entziehen. Darauf verweist der Jesuit und Psychotherapeut Jacek Prusak: »Der Klerikalismus beruht grade darauf, dass der Priester über sich denkt, er sei wie Jesus, wohingegen Jesus für ihn Ansporn und Vorbild sein sollte. Daher ist es so nah zu dem Denken, dass die Nähe zu einem Priester die Nähe zu Gott bedeutet« (siehe das vollständige Interview auf Seite 7–12). Diese theologisch unhaltbare Auffassung verleihe dem Priester eine verführerische Macht, die ihm erst die Vergewaltigung seines Opfers ermögliche. Übrigens eine Vergewaltigung, die nicht nur sexueller Art ist, sondern auch geistiger Natur sein kann. Die strukturelle Konsequenz dieser theologischen Korrektur wäre es, die geistliche Macht von Priestern und Bischöfen durch eine Gewaltenteilung einzuschränken. Konkret würde dies bedeuten, fachlich qualifizierte Laien, Männer wie Frauen, in kirchliche Leitungspositionen zu berufen sowie auf allen kirchlichen Ebenen synodale Strukturen zu errichten, wodurch eine gewisse innerkirchliche Machtkontrolle gewährleistet wäre. Für Polens Kirche, in der Laien bislang so gut wie keine Rolle spielen, wäre das ein fundamentaler Wandlungsprozess.
Schließlich muss das mit der Pädophilie in Zusammenhang gebrachte Problem homosexueller Priester gelöst werden. Lange glaubte man, sich damit nicht befassen zu müssen. Ohne über Daten zu verfügen, wurde die Zahl homosexueller Priester auf weniger als ein Prozent geschätzt. In Analogie zu amerikanischen Untersuchungen hält es Prusak dagegen für möglich, dass es in Polens Kirche tausende homosexueller Priester gibt, die selbstverständlich nicht notwendigerweise pädophil sein müssen. Er meint, »die Kirche steht dem Problem hilflos gegenüber, das sie mit ihrer Lehre von der Homosexualität selbst geschaffen hat.« Und das löse man weder dadurch, dass man homosexuellen Priestern ein Schweigegelübde auferlegt, noch durch ein Dekret, das Homosexuellen die Priesterweihe verweigert. Mit einem solchen Dekret könne man sich zudem nicht auf Jesus berufen. Von ihm gäbe es keinerlei Aussage zur Homosexualität und damit sei sie auch kein von seiner Nachfolge ausschließendes Kriterium.
Prusak sieht die Lösung des Problems in der sexuellen Reife, die für heterosexuelle wie für homosexuelle Priester in gleicher Weise erforderlich sei, um der Zölibatsverpflichtung, die von ihm nicht zur Debatte gestellt wird, gerecht zu werden. Diese Reife werde aber letzteren aufgrund der Devise, nicht aufzufallen, sich nicht zu outen, erschwert. Prusak kommt zu dem Schluss, dass es ohne ein gründliches Überdenken der Lehre von der Homosexualität für die Kirche keinen Weg aus der doppelten Bindung gibt, in der sie diese Priester hält: durch die Orientierung auf den Zölibat im Sinne eines Ersatzes und Abwehrmechanismus ihrer Homosexualität sowie, damit verbunden, durch die Abspaltung der sexuellen Orientierung von der inneren Gefühlswelt. Aus all dem ergibt sich, dass die Kirche selbst entscheidend dazu beiträgt, dass manche homosexuelle Priester pädophil werden.
Politische Nebenwirkungen
Die Brüder Sekielski verfolgen mit ihrem Dokumentarfilm keinerlei politische Absichten, und doch zeigt sich die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) samt ihrer Regierung über das Echo, das »Sag es nur keinem« in Kirche und Gesellschaft gefunden hat, äußerst beunruhigt. Der Dokumentarfilm trifft ihr Selbstverständnis nationaler Identität gleichsam ins Mark: Ganz im Geist der Nationaldemokratie (Endecja) der Zwischenkriegszeit hat PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński noch vor wenigen Wochen öffentlich betont, dass jeder Pole, ob gläubig oder nicht, die Kirche zu schätzen habe, denn sie sei ein wesentliches Element nationaler Identität. Und wer die Kirche angreife, der attackiere damit das Polentum. Erscheint damit die durch die Missbrauchsfälle offenbar gewordene kirchliche Krise zugleich als Krise des Polentums? Und was ist angesichts der Vielzahl an Fällen, die den sexuellen Missbrauch von Kindern durch pädophile Priester belegen, von der speziell von Jarosław Kaczyński landauf, landab verkündeten Botschaft zu halten, die polnischen Kinder seien in höchster Gefahr, weil sie durch die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation zu einer frühkindlichen (0 – 6 Jahre) und schulischen Sexualerziehung sexuell verführt würden?
Die PiS bedient sich angesichts der für Partei und Regierung bedrohlichen politischen Nebenwirkung dieses Dokumentarfilms einer doppelten Strategie: Einerseits versucht man, die Wirkung der Dokumentation dadurch einzuschränken, dass sie von den staatlichen Medien ignoriert oder als eine kirchenfeindliche Aktion diffamiert wird, andererseits setzt man sich an die Spitze des Kampfes gegen Pädophilie, doch ohne näher auf den Film der Brüder Sekielski einzugehen.
Dieser Strategie diente ein eilig eingebrachtes Gesetzesvorhaben. Nach dem für die PiS-Regierung üblichen parlamentarischen Schnellverfahren wurde die verschärfte Novellierung der die Pädophilie betreffenden Gesetzgebung am 16. Mai mit ihrer absoluten Mehrheit verabschiedet. Die oppositionelle Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), die eine ausgiebige Diskussion gefordert hatte, blieb der Abstimmung fern. Die am 16. Mai verabschiedeten Gesetzesbestimmungen betreffen pädophile Taten an Kindern und Jugendlichen bis 15 Jahre. Bewährungsstrafen wurden abgeschafft, das Strafmaß auf bis zu 30 Jahre verlängert, bei besonders schweren Fällen die Verjährungsfrist aufgehoben. Ob die verschärfte Gesetzgebung die gewünschte Abschreckung bewirkt und in welcher Weise die strafrechtlichen Bestimmungen angewandt werden, bleibt abzuwarten. Die Beschlüsse haben jedenfalls, wie der Ausgang der Europawahlen zeigt, dazu beigetragen, dass die PiS, zumindest vorerst, von der kirchlichen Krise politisch nicht betroffen wurde.