Vier Jahre PiS – eine gemischte Bilanz
Die Regierungen von Beata Szydło und ihrem Nachfolger Mateusz Morawiecki (ab Dezember 2017) konnten sich für die Umsetzung ihres Regierungsprogramms auf ein nach wie vor robustes Wirtschaftswachstum stützen, das im Jahr 2018 gut 5 % betrug. Auch unter der PiS-Regierung hatte somit der positive Trend und der Aufholprozess gegenüber den wohlhabendsten EU-Mitgliedsländern Bestand. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2018 nach Angaben von Eurostat 12.430 Euro gegenüber 30.930 Euro, über das im Schnitt die 19 Mitgliedsstaaten der Euro-Zone verfügen, was 40,18 % des Durchschnitts der Eurozone entspricht. Zehn Jahre zuvor, im Jahr 2008, belief sich das reale Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt lediglich auf 30,33 % des Eurozonen-Durchschnitts. Möglich wurde diese Entwicklung sicherlich auch durch anhaltend niedrige Löhne (im Juni 2019 nach Daten des polnischen Statistischen Hauptamtes im Schnitt ca. 5.100 Zloty – ca. 1.191 Euro), ein freundliches Investitionsklima und ca. 140 Milliarden Euro aus EU-Mitteln in der laufenden Haushaltsperiode (2014–2020). Hinzu kommen eine niedrige Arbeitslosigkeit von 3,8 % im Juni 2019 und eine geringe Staatsverschuldung von knapp 48 %. Zu dieser Entwicklung dürfte der im Frühjahr 2017 von Ministerpräsident Morawiecki vorgestellte »Plan für verantwortungsvolle Entwicklung« (der sogenannte Morawiecki-Plan) noch wenig beigetragen haben, zumal er auf eine längere Perspektive setzt. Der Plan möchte durch Reindustrialisierung und Innovationen einerseits den Anschluss an die westlichen Industrienationen herstellen und andererseits die Einkommen anheben und für eine nachhaltige und ausgewogene Entwicklung im Lande sorgen. Die gute ökonomische Gesamtsituation schlägt sich auch in den Einschätzungen der Bürger nieder. Nie waren die Polen nach 1989 mit ihrer ökonomischen Situation zufriedener als gegenwärtig (35 % Ende 2018 gegenüber 28 % Ende 2015) und im September 2019 schätzten nach Angaben des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS 48 % die Lage der Wirtschaft als gut ein – auch das ein Spitzenwert. Insbesondere die Sozialpolitik dürfte zu dieser positiven Bewertung der eigenen materiellen Lage und der Situation des Landes mit beigetragen haben. Das von der PiS im April 2016 unter dem Namen »500+« (gegenwärtig entsprechen 500 Zloty knapp 117,- Euro) eingeführte Kindergeld ab dem zweiten Kind, das die Partei im Frühjahr 2019 einkommensunabhängig auch auf das erste Kind ausdehnte, führte zwar noch nicht zu einem Anstieg der Geburtenrate, verbesserte aber bei kinderreichen Familien die Einkommenssituation nachhaltig. Ein Gegensteuern zu Gunsten der niedrigeren Einkommen war sicherlich auch bitter notwendig, da sowohl nach den Daten von Eurostat wie auch nach dem vom französischen Star-Ökonomen Thomas Piketty mit initierten World Inequality Report (Bericht zur weltweiten Ungleichheit) die Armut und die Einkommensungleichheit nach 1989 deutlich zugenommen haben. Demnach betrug Ende 2015 das Durchschnittseinkommen der oberen 10 % gut 76.039 Euro p. a., der unteren 50 % aber nur 10.662 Euro.
Die Wahrnehmung der PiS-Regierung in Deutschland war jedoch im Wesentlichen durch andere Faktoren geprägt, und zwar vor allem durch die Reformen im Justizwesen. Durch etliche Gesetzesnovellen wurde das Verfassungsgericht faktisch von der Regierung übernommen und verlor seine Unabhängigkeit. Weitere Reformen betrafen die ordentliche Gerichtsbarkeit, das Oberste Gericht und den Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS). Die von Staatspräsident Andrzej Duda im Mai 2018 unterzeichneten Gesetzesnovellen ermöglichten dem Justizminister die Abberufung Dutzender von Gerichtspräsidenten und eine komplette Neubesetzung des KRS, der unter anderem die Prüfung von Gesetzen durch das Verfassungsgericht initiieren kann und bei der Wahl der Richter eingebunden ist. Von seinen 25 Mitgliedern werden nun nach der Reform 15 vom polnischen Parlament berufen, was eine weitere politische Instrumentalisierung der Justiz bedeutet.
Das zur Verteidigung des Verfassungsgerichts und der Verfassung in Polen Ende 2015 entstandene Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji) vermochte zwar im Verlauf des Jahres 2016 Zehntausende Menschen auf die Straße zu bringen, aber nach und nach schwächten sich die Proteste deutlich ab. Ebenso war das von der Europäischen Kommission Ende 2017 gegen Polen eröffnete Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages bisher nicht in der Lage, die polnische Regierung zur Rücknahme der monierten Aspekte der Justizreform zu bewegen. Die EU-Kommission kritisiert insbesondere den Einfluss der Exekutive auf die Judikative und sieht darin einen Angriff auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das in Artikel 7 des EU-Vertrages verankert ist.
Weitere Elemente des »guten Wandels« (dobra zmiana), wie das politische Programm von der PiS selbst bezeichnet wurde, umfassten in der abgelaufenen Regierungsperiode unter anderem eine dezidiert patriotische Geschichtspolitik, die im Jahr 2017 u. a. zur Abberufung des Direktors des Museums des Zweiten Weltkrieges Paweł Machcewicz durch den zuständigen Minister Piotr Gliński führte, und eine Medienpolitik, die die staatlichen Medienanstalten komplett umkrempelte und zu Sprachrohren der Regierung machte. Unter der Leitung des Fernsehintendanten Jacek Kurski hat sich die Qualität und der Nachrichtenwert der Hauptnachrichtensendung Wiadomości (Nachrichten) rapide verschlechtert. Die Verkündung von Regierungserfolgen und die Anschwärzung der Opposition sind Hauptmerkmale der regierungstreuen Einseitigkeit. Es verwundert daher nicht, dass die Glaubwürdigkeit des staatlichen Fernsehens – insbesondere aus Sicht der Opposition – gelitten hat. Nach Umfragen von CBOS vom Mai dieses Jahres schauen nur noch 2 % der Anhänger der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), der größten Oppositionspartei, die Wiadomości, aber 43 % der PiS-Anhänger. Beim Privatsender TVN24, der sich stark gegen die PiS positioniert hat, ist es nahezu umgekehrt: 35 % der PO-Anhänger stehen 2 % der PiS-Unterstützer gegenüber. Die Spaltung des Landes ist auch hierin deutlich sichtbar. Die einen Befragten lobten im Februar 2019 die Sozial- und Wirtschaftspolitik von PiS (69 %) und hier insbesondere das Familienförderprogramm 500+, die anderen Befragten monierten den Amtsmissbrauch der Regierung (37 %) und hier vor allem die Verletzung der Verfassung.
Zur Bilanz der PiS gehört auch eine zum Teil groteske Personalpolitik, die vor allem eigene, loyale Personen bis in höchste Staatsämter gebracht hat, ohne dass dies mit entsprechenden Kompetenzen oder einem angemessenen Verhalten einhergeht. Nennen könnte man den Präsidenten des polnischen Obersten Rechnungshofes (Najwyższa Izba Kontroli – NIK), Marian Banaś, der kurz vor den Parlamentswahlen in den unbezahlten Urlaub ging, da seine Vermögenserklärung Unregelmäßigkeiten aufwies und er zudem Kontakte zur Krakauer Halbwelt unterhält, oder Bartłomiej Misiewicz, der von 2015 bis 2017 das politische Kabinett von Verteidigungsminister Antoni Macierewicz leitete und hochgestellte Offiziere entließ, obgleich er selbst zum damaligen Zeitpunkt noch Student war ohne jegliche militärische oder politische Qualifikation.
Zweifellos gibt es mehr Belege für einen sich verstärkenden Klientelismus bei der PiS, aber auch Vorgängerregierungen waren davon bekanntlich nicht frei. Schwerer dürfte wohl neben der Verletzung der Verfassung – so zumindest die Auffassung der Europäischen Kommission – die Geringschätzung demokratischer Gepflogenheiten im Parlament wiegen. Das Ausschalten von Mikrophonen für die Opposition, absurd kurze Beratungszeiten von kontrovers diskutierten Gesetzen, scharfe sprachliche Angriffe auf die Opposition und insgesamt eine enorme Polarisierung sind Elemente der polnischen Variante der illiberalen Demokratie, die vor allem auf rechnerische Mehrheit setzt.
Die von der PiS dezidiert verfolgte Familienpolitik, die im Land viel Rückhalt findet, ist zugleich Bestandteil eines ideologischen Abwehrkampfes gegen als liberal postulierte und abgelehnte Werte des Westens. Darunter werden eine »Sexualisierung« von Kindern durch schulische Frühaufklärung, die Auflösung eines traditionellen Familienmodells und die Propagierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sowie ein zu liberaler Umgang mit Abtreibung und künstlicher Befruchtung (in vitro) verstanden. Im Einklang mit der katholischen Kirche lehnt die PiS In-vitro-Befruchtungen ab und hat die Bezahlung entsprechender Behandlungen durch das staatliche Gesundheitssystem zum 30. Juni 2019 eingestellt. An ihre Stelle setzt man auf Naprotechnologie, ein Behandlungs- und Diagnosesystem, das die natürliche Fruchtbarkeit wieder herstellen möchte. Während aber dieses Thema kaum Schlagzeilen machte, führte ein von der privaten Stiftung Ordo Iuris im Herbst 2016 initiiertes Bürgerbegehren zu einem Gesetzesvorschlag im Parlament, der ein fast völliges Verbot von Abtreibung vorsah. In erster Lesung fand der Gesetzesentwurf auch eine Mehrheit im Parlament, was massive Proteste von Frauen im ganzen Land, die »schwarzen Proteste« (so genannt nach der schwarzen Kleidung), hervorrief und die PiS letztendlich nötigte, den Entwurf wieder von der Tagesordnung zu nehmen. Auch hier ist die Frage, ob ein erneuter Versuch der Verschärfung des Abtreibungsrechts in der neuen Parlamentsperiode unternommen werden wird. Der Streit um Werte geht in jedem Fall weiter.
Der Wahlkampf: ein laues Lüftchen
Ungeachtet der unterschiedlichen Proteste gegen die PiS im Verlauf der abgelaufenen Parlamentsperiode und der Auseinandersetzungen im Land und zwischen der EU und der polnischen Regierung auf dem Feld des Rechtsstaates, verlief der Wahlkampf eher schleppend. Die unterschiedlichen Oppositionsparteien hatten offensichtlich genug damit zu tun, sich zu Wahlkoalitionen zusammenzufinden. Die PiS trat erneut als Vereinigte Rechte (Zjednoczona Prawica) an. Zu diesem Bündnis gehören neben der PiS noch zwei kleinere Parteien. Zum einen die national-konservative Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska) von Justizminister Zbigniew Ziobro, der diese Gruppierung 2012 gründete, nachdem er 2011 aus der PiS aufgrund von Auseinandersetzungen über den Kurs der Partei ausgeschlossen worden war. Zum anderen die konservativ-liberale Verständigung (Porozumienie) des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Wissenschaftsminister Jarosław Gowin, der 2013 die Bürgerplattform nach einem verlorenen Machtkampf gegen Donald Tusk verließ und eine eigene Gruppierung gründete, die 2017 in der Partei Verständigung aufging. Die PiS warb als Vereinigte Rechte für eine Fortführung des bisherigen Kurses. Hervorgehoben wurden Sozialleistungen wie ein höherer Mindestlohn und eine 13. Rente, Investitionen in den Gesundheitssektor, Steuererleichterungen für kleinere Unternehmen, Investitionen in die Infrastruktur der Eisenbahn und ein traditionelles Familienmodell. Besonderen Stellenwert hatte im PiS-Wahlkampf vor allem die Ablehnung des LGBT-Milieus (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) und gleichgeschlechtlicher Beziehungen sowie die Warnung vor einer vermeintlichen Sexualisierung von Kindern durch liberale Milieus.
Komplizierter gestaltete sich der Wahlkampf bei der Bürgerplattform. Nachdem man noch zur Europawahl im Mai 2019 gemeinsam mit der Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), den Grünen (Zieloni) und der Partei Die Moderne (Nowoczesna), einer Abspaltung der Bürgerplattform, als Europäische Koalition (Koalicja Europejska) angetreten war, verließen die SLD und die PSL diese Liste für die Parlamentswahl. Hinzu kam nun die Initiative Polen (Inicjatywa Polska) der bekannten Feministin Barbara Nowacka. Aber der Parteichef der PO, Grzegorz Schetyna, benötigte letztlich zu viel Zeit, um die als Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO) antretende Gruppierung mit einer schlagkräftigen Führungsfigur auszustatten. Wohl unter dem Eindruck eigener schlechter Umfragewerte wurde schließlich Małgorzata Kidawa-Błońska zur Spitzenkandidatin und damit zur Anwärterin auf das Amt der Ministerpräsidentin gekürt – allerdings erst Anfang September, knapp sechs Wochen vor den Parlamentswahlen. Es verwundert daher kaum, dass das Parteiprogramm der KO erst wenige Tage vor den Wahlen präsentiert wurde. Herausgestellt wurden unter anderem der Schutz der Demokratie, ein europäisches Gesundheitssystem, höhere Löhne und der Klimaschutz.
Die SLD um Włodzimierz Czarzasty fand sich wiederum mit der Partei Frühling (Wiosna) um den bekennenden homosexuellen Europaabgeordneten Robert Biedroń und Adrian Zandberg von der sozialdemokratischen Partei Gemeinsam (Razem) in einem linken Wahlbündnis wieder. Zentrale Punkte waren die klare Trennung von Staat und Kirche, die Fortsetzung des Programms »500+«, eine bessere Gesundheitsversorgung, Sexualkundeunterricht in den Schulen, die Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Beziehungen, die Achtung der Verfassung und mehr Klimaschutz.
Die Bauernpartei PSL gründete mit einigen Vertretern kleinerer Gruppierungen und der Partei des Musikers und Rechtspopulisten Paweł Kukiz (Kukiz ‘15), die bereits seit 2015 im Parlament vertreten war, die Polnische Koalition (Koalicja Polska), die mit einem konservativ-zentristischen Programm, vertreten vor allem vom jungen PSL-Chef Władysław Kosiniak-Kamysz, versuchte, eine Alternative zur PiS aufzubauen. Hervorgehoben wurden unter anderem die Einführung von Elementen direkter Demokratie (Referenden), ein modifiziertes Wahlrecht mit einem stärkeren Akzent auf Mehrheiten, eine Dezentralisierung der Verwaltung und höhere Ausgaben für das Gesundheitswesen.
Die Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość) um den bizarren Publizisten Janusz Korwin-Mikke, den Vertreter der Nationalbewegung (Ruch Narodowy) Robert Winnicki und den extrem konservativen Regisseur Grzegorz Braun vertritt schließlich einen entschieden europaskeptischen und betont nationalen Kurs, der sich gegen jegliche Abtreibung, gegen das LGBT-Milieu, für die Wiedereinführung der Todesstrafe, eine starke Armee und Steuererleichterungen ausspricht. Nationalistische und zum Teil antisemitische Töne sind Vertretern dieser Gruppierungen ebenfalls nicht fremd.
Dem gegenüber konzentrierte sich die Medienlandschaft vor allem auf die Auseinandersetzungen zwischen der PiS und der Opposition der Mitte und des linken Spektrums. Der Opposition nahe stehende Zeitungen wie die Gazeta Wyborcza oder die Wochenzeitungen Polityka und Newsweek warnten vor einem Wahlerfolg der PiS, während umgekehrt die Gazeta Polska oder die Wochenzeitung Do Rzeczy von den Erfolgen der Regierung zu berichten wussten. Die Wiadomości schossen sich in den letzten Tagen des Wahlkampfes auf den Politiker Sławomir Neumann von der PO ein, der in heimlich aufgezeichneten Gesprächen mit Lokalpolitikern aus dem Jahr 2017 eine sehr vulgäre Sprache und Verachtung der Wähler an den Tag gelegt hatte. Der Nachrichtensender TVN24 konzentrierte sich seinerseits auf die Affäre um den Präsidenten des Obersten Rechnungshofes Banaś, in dessen Mietshaus in Krakau ein Stundenhotel untergebracht war.
Entgegen manchen Befürchtungen in Deutschland spielten die deutsch-polnischen Beziehungen und auch mögliche Reparationsforderungen an Deutschland für den Zweiten Weltkrieg im Wahlkampf keine Rolle.
Wahlsieg mit komplexer Arithmetik
Angesichts der anhaltend hohen Umfragewerte für die PiS und des viel zu spät und nicht sehr energisch gestarteten Wahlkampfes vor allem der Bürgerkoalition war der Wahlsieg der PiS keine Überraschung. Spekuliert wurde lediglich über die Höhe des Ergebnisses. Mit 43,6 % konnte die PiS ihr Ergebnis der letzten Parlamentswahl von 2015 um 6 % verbessern und erhielt mit acht Millionen Stimmen auch deutlich mehr als bei der letzten Wahl. Lediglich in zwei von 16 Woiwodschaften war die PiS nicht die stärkste Partei. Auf der anderen Seite holten die drei größten Oppositionsbündnisse um die PO, die SLD und die PSL zusammen knapp neun Millionen Stimmen, wären bei einer gemeinsamen Oppositionsliste angesichts des polnischen Wahlrechts, das große, geschlossene Parteien bevorzugt, wohl an der PiS vorbeigezogen und hätten auch die Wahlen zum Sejm gewonnen. Im Einzelnen erhielt die Bürgerkoalition 27,4 % der Stimmen, mithin 4,29 % weniger als die Bürgerplattform alleine im Jahr 2015. Die Linken um die SLD, Wiosna und Razem zogen anders als 2015 mit 12,6 % in den Sejm ein, die Polnische Koalition mit der PSL erhielt 8,6 % und die Konföderation konnte mit 6,8 % gleichfalls einen Platz im polnischen Parlament ergattern. Allerdings waren alle diese Koalitionen in der Summe schwächer, als die kumulierten Einzelergebnisse der beteiligten Parteien bei den Wahlen 2015. Von einem guten Ergebnis der Opposition kann also keine Rede sein. Die Wahlbeteiligung war mit 61,7 % so hoch wie seit 1989 nicht mehr (damals 62,7 % im ersten Wahlgang). Trotz des deutlich besseren Wahlergebnisses der PiS im Vergleich zu 2015 bleibt ihre Mandatszahl mit 235 von 460 gleich. Der Einzug der Konföderation mit elf Abgeordneten verhindert ein besseres Ergebnis in den Mandaten. Die Bürgerkoalition mit 134, die Linke mit 49 und die PSL (Koalicja Polska) mit 30 Abgeordneten und ein Abgeordneter der deutschen Minderheit komplettieren das Ergebnis.
Allerdings hat es der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński nun mit selbstbewussteren Partnern in der Vereinigten Rechten zu tun. Obgleich ihre Kandidaten von hinteren Plätzen auf der PiS-Liste starteten, gelang es sowohl der Partei Solidarisches Polen von Justizminister Ziobro als auch der Partei Verständigung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Gowin, die Zahl ihrer Abgeordneten zu erhöhen. Ziobro kann nun über 17 Mandate, Gowin gar über 18 Mandate verfügen, so dass die PiS ohne sie nicht regieren kann. Der Appetit beider Gruppierungen dürfte damit wachsen, was die Sorgen von Kaczyński vergrößern dürfte, da Ziobro für einen klar konservativen Kurs wirbt, während Gowin in die politische Mitte strebt.
Überhaupt zeigt sich bei näherer Analyse des Wahlergebnisses, dass trotz der sozialen Segnungen und der Propaganda im Staatsfernsehen das Ergebnis doch hinter den Erwartungen des PiS-Chefs zurückgeblieben sein dürfte. Gerade in den großen Städten schnitt die PiS deutlich schlechter als die Bürgerkoalition ab. Die PiS punktete dafür besonders bei älteren Menschen über 50 Jahren und auf dem Land (56 %). Die jungen Wähler sind hingegen stark differenziert. Bei den unter 30-Jährigen erhielt die PiS nur 26 %, die Bürgerkoalition ebenfalls niedrige 24 %, während die Konföderation mit 20 % und die Linke mit 18 % in dieser Altersgruppe überdurchschnittlich abschnitten.
Verkompliziert wird die politische Lage für die PiS auch dadurch, dass anders als im Jahr 2015 der Senat, die zweite Parlamentskammer mit 100 Senatoren, nun von der Opposition gewonnen wurde. Die Absprache unter den Oppositionsgruppierungen KO, PSL und SLD (letztere bei den Wahlen zum Senat wiederum als Parteien antretend), nicht gegeneinander zu konkurrieren und nur einen aussichtsreichen Kandidaten gegen die PiS aufzustellen, führte letztlich zum Erfolg. Die KO kann im neuen Senat über 43 Senatoren, die PSL über drei und die SLD über zwei Senatoren verfügen, während die PiS 48 Senatoren stellt. Eine unabhängige Senatorin wird die PiS unterstützen, drei weitere unabhängige Senatoren aber die Opposition. Zwar kann der Senat Gesetzesbeschlüsse des Sejm letztlich nur verzögern, jedoch nicht aufhalten, aber er hat das Recht, eigene Gesetzesinitiativen einzubringen, ist an der Besetzung vieler hoher Staatsämter (Ombudsmann für Bürgerrechte, Vorsitzender des Instituts des Nationalen Gedenkens, Präsident des Obersten Rechnungshofes etc.) beteiligt und kann die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch das Verfassungsgericht überprüfen lassen. Bei Ablehnung von Gesetzesvorschlägen des Sejm durch den Senat beziehungsweise bei Änderungsvorschlägen des Senats kann der Sejm mit absoluter Mehrheit bei einer Präsenz von mindestens der Hälfte der Abgeordneten sein Gesetzesvorhaben durchbringen. Entscheidungen des Senats haben hier also nur aufschiebende Wirkung. Allerdings wird das Agieren der Opposition so sichtbarer werden als in der letzten Parlamentsperiode. Zudem wird auch das Amt des Senatsmarschalls, nach dem Staatspräsidenten und dem Sejmmarschall das dritthöchste Staatsamt, an die Opposition fallen.
Mögliche Szenarien
Nach den Wahlen werden nun intensiv die unterschiedlichen Strategien für die beginnende Parlamentsperiode diskutiert. Erklärtes Ziel der PiS im Wahlkampf und auch in den ersten Äußerungen nach dem Wahlsieg ist es, die Reformen nach eigenen Vorstellungen fortzusetzen und den »guten Wandel« hin zu einem anderen, einem illiberalen Staat umzusetzen. Dazu gehören die Vollendung der Justizreform einschließlich der Disziplinierung unbotmäßiger Richter, die Dekonzentration und eventuell Repolonisierung des privaten Medienmarktes, was insbesondere auf die mit der Opposition verbundenen Medien abzielt, die Einschränkung der Kompetenzen der regionalen Selbstverwaltung insbesondere in den großen Städten, da hier die Opposition stark ist, und eine noch stärkere Position des Staates im Bereich der Kultur. Die weitere Forcierung einer patriotischen Geschichtspolitik und die Auseinandersetzungen um normative Fragen wie Abtreibung, LGBT oder die Rolle der katholischen Kirche in Erziehung und Gesellschaft könnten ein so skizziertes Szenario vervollständigen. Die Spaltung der Gesellschaft, die sich auch im aktuellen Wahlergebnis zeigt, würde sich weiter verfestigen.
Allerdings ist auch ein anderes Szenario denkbar. Der Wahlsieg der PiS war zwar deutlich, aber die Partei hat trotz der Vereinnahmung des gesamten Machtapparates und der linientreuen staatlichen Medien keineswegs die Mehrheit der Gesellschaft hinter sich. Angesichts der zu erwartenden hohen Kosten der sozialpolitischen Versprechungen und des oppositionellen Gegengewichtes im Senat könnte auch eine Abschwächung des illiberalen Kurses eintreten. Bereits jetzt warnen konservative Journalisten und Politiker davor, den Bogen zu überspannen, und vor einer Einschränkung der Unabhängigkeit der Kultur, da dies Kreativität behindern und eine Gegenreaktion hervorrufen könnte. Die Toleranz für gleichgeschlechtliche Beziehungen hat sich im Übrigen in den letzten 20 Jahren deutlich vergrößert und nur 24 % lehnen gleichgeschlechtliche Beziehungen vollständig ab. Ebenso wäre ein erneuter Versuch der Verschärfung des Abtreibungsrechts wohl zum Scheitern verurteilt, da auch hier die klare Mehrheit der Gesellschaft anderer Ansicht ist. Da die Demokratie ebenso wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in der Gesellschaft fest verankert ist, sind die Möglichkeiten für die Errichtung eines illiberalen Staates mit entsprechendem normativem Fundament begrenzt. Die größte Zustimmung dürften noch der patriotische Ansatz und eine entsprechende Geschichtspolitik erhalten, da Patriotismus aus historischen Gründen in der polnischen Gesellschaft stark verwurzelt ist. Was bleibt ist der weitere institutionelle Umbau mit Widerstand im Senat und gegebenenfalls von Seiten der EU, falls Grundprinzipien der EU verletzt werden. Zwar gibt es Szenarien, die Verfassung auch ohne entsprechende Mehrheit im Parlament zu umgehen, allerdings scheint die Einführung von Verfassungsgesetzen (ustawa organiczna), über die Bartłomiej Nowotarski in der Gazeta Wyborcza spekuliert hatte, juristisch und politisch schwer durchzusetzen zu sein. Derartige Gesetze wären unterhalb einer Verfassungsänderung angesiedelt, hätten aber eine größere Kraft als einfache Gesetze und es wäre schwieriger, sie wieder zu ändern. Eine Mehrheit dafür ist im neuen Sejm jedoch nicht absehbar.
Ausblick
Die weitere Entwicklung hängt in hohem Maße auch davon ab, wie sich die Opposition nun aufstellen wird – auch im Hinblick auf die Präsidentenwahlen im Frühjahr nächsten Jahres. Alle Wahlbündnisse müssen neu überdacht werden, das Führungspersonal sich neu bewähren. In der Bürgerplattform ist die Position des Vorsitzenden Schetyna nach dem schwachen Wahlergebnis angeschlagen. Wenige Tage nach der Wahl hat der ehemalige Justizminister und stellvertretende Parteivorsitzende Borys Budka bereits durchblicken lassen, eventuell gegen Schetyna um den Parteivorsitz zu konkurrieren. Gestützt auf ein sehr gutes Wahlergebnis und eine gewisse mediale Präsenz dürfte er gute Chancen haben. Auch bei der Linken steht noch ein Klärungsprozess an. Während die Partei Razem bereits angekündigt hat, im Parlament eine eigene Parlamentsvertretung haben zu wollen, ist eine Vereinigung von Wiosna und SLD nicht ausgeschlossen. Fraglich bleibt aber, ob die Mitglieder der SLD ihrem Parteichef Włodzimierz Czarzasty hier folgen werden angesichts der langjährigen Traditionen der Partei und des deutlich größeren Parteivermögens. Ungewissheit besteht auch bei der Bauernpartei PSL und ihrem Zusammenschluss mit Paweł Kukiz. Dieser sprunghafte Politiker lässt sich mit seiner Partei nur schwer in strategisches Kalkül einbinden.
Bei der PiS dürfte sich eher früher als später die Nachfolgefrage für den 70-jährigen Parteichef Kaczyński stellen. Da Ministerpräsident Morawiecki nicht über die nötige Hausmacht verfügt, bahnt sich ein Wettbewerb mit ungewissem Ausgang an. Welche Rolle dabei die Koalitionspartner Solidarna Polska um Justizminister Ziobro und Porozumienie um Wissenschaftsminister Gowin spielen werden, ist völlig offen.
Es bleiben die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr. Amtsinhaber Andrzej Duda ist im Lande populär und verfügt über ein einnehmendes Wesen. Obgleich er im Wesentlichen den Kurs der PiS ohne Wenn und Aber implementiert hat, suggeriert er bei öffentlichen Auftritten und auch durch seine abwägende Position in der Justizreform, in der er durch ein Veto zumindest leichte Modifikationen erreichte, eine gewisse Unabhängigkeit. Viel wird daher von seinem Gegenkandidaten abhängen. Zwar dürften weder Linke noch die PSL auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten verzichten, aber in einer Stichwahl, falls kein Kandidat die absolute Mehrheit bereits im ersten Wahlgang erreichen sollte, würde wohl der Kandidat der Bürgerplattform gegen Duda ins Rennen gehen und hier sind gegenwärtig nur zwei Kandidaten vorstellbar. Auf der einen Seite EU-Ratspräsident Donald Tusk, der im Lande nach wie vor populär ist und eine Kandidatur zumindest nicht ausschließt. Auf der anderen Seite könnte Małgorzata Kidawa-Błońska Präsidentschaftskandidatin werden. Sie ist die Urenkelin des Präsidenten der Zwischenkriegszeit, Stanisław Wojciechowski, und des Ministerpräsidenten Władysław Grabski, gleichfalls aus der Zwischenkriegszeit. Für kurze Zeit war sie 2015 auch Sejmmarschallin und in den Parlamentswahlen 2019 erzielte sie mit gut 416.000 Stimmen landesweit das beste Ergebnis. Anders als Tusk ist sie nicht Teil der scharfen politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre gewesen und könnte damit für viele Polen eher wählbar sein als der Präsident des Europäischen Rates. Nach aktuellen Umfragen würden aber beide gegen Amtsinhaber Duda in einer Stichwahl verlieren – Tusk klar, Kidawa-Błońska knapp.
Die nächsten Wochen und Monate bis zur Präsidentenwahl werden zeigen, welches Szenario realisiert werden wird: die Vollendung des Staatsumbaus oder aber die Konsolidierung des Erreichten und eine Annäherung an die Opposition. Ein Wechsel im Präsidentenamt, also eine Kohabitation, würde eine Fortsetzung des bisherigen Kurses ausschließen. An der Weichsel bleibt es spannend.