Die Parteien nach den Parlamentswahlen. Die politische Szene sortiert sich neu

Von Jarosław Flis (Jagiellonen-Universität, Krakau)

Zusammenfassung
Die Wahlen im Jahr 2019 zum Parlament der Republik Polen (Sejm und Senat) und zum Europäischen Parlament scheinen die politische Lage in Polen eindeutig entschieden zu haben. Allerdings kann es infolge der Präsidentenwahlen im Mai 2020 zu einer politischen Wende kommen. Zwar wurden sie bisher eher als Epilog des innenpolitischen Ringens behandelt, dessen Höhepunkt die Sejmwahlen im Herbst 2019 waren. Aber aus der Nähe betrachtet scheint der Ausgang der Präsidentenwahlen keineswegs vorherbestimmt zu sein.

Prolog und Entscheidung

Den Parlamentswahlen in Polen im Oktober 2019 ging ein europäischer Prolog voraus. Bei der Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 2019 erlangte die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) mit 45,38 % einen – sie selbst überraschenden – Sieg. Ergebnisse deutlich unter den Erwartungen (38,47 %) zeitigte dagegen der Versuch der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO), der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) und der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), ihre Kräfte mit weiteren Parteien im Wahlbündnis Europäische Koalition (Koalicja Europejska) zu bündeln. Ebenfalls schlechter als erwartet fiel die neue linke Initiative Frühling (Wiosna) in diesem Ringen aus (6,06 %) sowie auch mit 4,55 % die Konföderation (Konfederacja). Letztere ist ebenfalls ein Vereinigungsversuch, und zwar der radikalsten und am stärksten gegen das Establishment ausgerichteten Gruppierungen der konservativen Liberalen und der rechtsnationalen Bewegung. Außerdem bestätigte sich die schwindende Bedeutung der eher gemäßigten Anti-Establishment Gruppierung Kukiz ‘15 (3,69 %).

Das Ergebnis der Europawahl war das Resultat einer schwierigen Lektion in Demut, die für die regierende PiS aus den Selbstverwaltungswahlen 2018 resultierte. Während die Wahl des Europäischen Parlaments eine deutliche Erschütterung für die Opposition bedeutete, hob sie bei der PiS die frustrierenden Erfahrungen der Selbstverwaltungswahlen auf, stärkte ihr Vertrauen in die eigenen Kräfte und weckte ihre Erwartungen.

Die Opposition vollzog vor den Parlamentswahlen in Polen in der Sommerpause eine Umgruppierung, die nicht von jedem mit dem gleichen Enthusiasmus begrüßt und als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde. Das Ergebnis war die Rückkehr auf die alten Gleise, die von den gut verwurzelten Parteien geprägt worden waren; die jüngeren Gruppierungen zogen mit. So kam es, dass die drei ältesten Oppositionsparteien, die PO, die SLD und die PSL, unter ihre Standarten fünf verschiedene Initiativen zogen, die in den vergangenen fünf Jahren auf der politischen Bühne durchgehalten hatten. Trotz dieser Umgruppierung gelang es der Opposition nicht, die PiS-Regierung in den Sejmwahlen im Oktober 2019 zu Fall zu bringen. Auch wenn die drei mitein­ander kooperierenden Oppositionsparteien insgesamt mehr Stimmen erhielten als die regierende PiS, garantierte ihnen dies nicht die parlamentarische Mehrheit im Sejm, was auf die Wahlordnung und die Mandatsverteilung nach der d’Hondtschen Methode in 41 Wahlkreisen zurückzuführen ist.

Am Machterhalt der regierenden Partei hatte jedoch auch die personelle Schwäche der größten Oppositionspartei, der Bürgerplattform, ihren Anteil, die trotz der verlorenen Europawahlen Grzegorz Schetyna auf der Führungsposition beließ. Als Behelfsmittel erwies sich die Nominierung von Małgorzata Kidawa-Błońska als Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin bei den Parlamentswahlen. Ihre Kandidatur rief keine Begeisterung hervor, vielmehr führte sie zu weiteren Konfusionen. Aus nicht näher vermittelten Gründen nahm sie nicht an Wahlkampfdebatten teil und wurde von PO-Politikern der hinteren Reihen vertreten. Es entstand der Eindruck, dass sich die PO davor fürchtet, sie auf die Probe zu stellen, zumal unter den erschwerten Bedingungen des Wahlkampfs.

So erreichte die PiS einerseits einen zuvor noch nicht gekannten Erfolg, indem sie die absolute Mehrheit im Sejm und ein sehr gutes Wahlergebnis bei enormer Mobilisierung der Wähler erlangte. Die Wahlbeteiligung überstieg 60 % und lag damit um ein Fünftel höher als die durchschnittliche Wahlbeteiligung der drei letzten Sejmwahlen. Andererseits war schon am Wahlabend die Enttäuschung bei PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński und in der Partei selbst sichtbar. Hier kamen verschiedene Ursachen zusammen.

Die Belastung der PiS mit zahlreichen Affären und ihre augenscheinliche Übertreibung beim Auflegen sozialer Programme führten dazu, dass noch eine fünfte Gruppierung in den Sejm einzog, die Konföderation. Diese greift die PiS aus einer radikaleren Position in Identitätsfragen an und zeigt gleichzeitig eine stark marktorientierte Haltung, wenn sie die Sozialprogramme der PiS sehr viel deutlicher kritisiert als der Rest der Opposition.

Als Spielverderber erwies sich auch die PSL, der in der Hälfte der Wahlperiode viele den politischen Tod prognostiziert hatten. Über ihre Wiedergeburt hat auch mitentschieden, dass sich diese alte Partei (mit ihrer über einhundertjährigen Verwurzelung in der Bauernbewegung und ihrer Identifizierung mit dem lokalen Establishment, aber auch mit personellen Verflechtungen mit dem zusammengebrochenen kommunistischen Regime) im Rahmen der Umgruppierung in der Sommerpause mit der Anti-Establishment-Bewegung von Paweł Kukiz zusammentat. Das Potential der Kukiz-Bewegung selbst scheint bereits zu gering gewesen zu sein, als dass sie in der Politik selbständig etwas hätte erreichen können. Sie hätte aber der PSL als einer Partei schaden können, die sich auf dieselben Wähler stützt, insbesondere auf die, die sich von den ausgeprägt kampflustigen Strömungen in der Opposition distanzieren, aber auch kritisch gegenüber dem Regierungslager eingestellt sind. Trotz schwacher Ergebnisse in den Meinungsumfragen erzielte das Bündnis ganze 9 %. Besonders deutlich waren der Gewinn in der städtischen Wählerschaft sowie die Aufrechterhaltung der stabilen Position auf dem Land. Die regierende PiS, die gehofft hatte, die Wähler von Kukiz ‘15 zu übernehmen und die Bauernpartei politisch zunichte zu machen, hatte hier einen weiteren Grund zur Frustration.

Außerdem erzielten die beiden kleineren Bündnispartner der PiS, die Verständigung von Jarosław Gowin (Porozumienie Jarosława Gowina) und Solidarisches Polen (Solidarna Polska) des Justizministers Zbigniew Ziobro, einen deutlichen Erfolg, womit die Hoffnung der Hauptströmung in der PiS erlosch, dass sie nicht länger mit diesen beiden rechnen müsse.

Der stärkste Grund für die Frustration der PiS war allerdings das Ergebnis der Senatswahl, der zweiten Parlamentskammer. Hier hat die Opposition die meisten Mandate erhalten. Trotz Befürchtungen, dass die Mehrheit gekapert wird, indem einzelne Senatoren auf die andere Seite gezogen werden, fand nichts dergleichen statt. Die oppositionelle Mehrheit im Senat wählte Tomasz Grodzki (PO) zum Senatsmarschall, der formal die drittwichtigste Person im Staat ist. Zwar hat er keine Kompetenzen, die die Umsetzung der Pläne der Mehrheit im Sejm unmöglich machen könnten, aber dennoch ist diese Situation weit von dem Komfort entfernt, den die PiS in der letzten Wahlperiode genoss. Der Senat ist zwar nicht in der Lage, die Vorhaben der parlamentarischen Mehrheit wirksam zu blockieren, aber er kann sie verzögern. Außerdem kann er verhindern, dass Debatten über Gesetzentwürfe beschränkt werden, was in der letzten Legislaturperiode der Fall war.

Das aktuelle Kräfteverhältnis ist jedoch nicht für die gesamte Wahlperiode festgelegt, da im Mai 2020 noch die beiden Wahlgänge der Präsidentenwahlen anstehen. Diese finden in einem anderen Zyklus statt als die Parlamentswahlen, die über die Zusammensetzung der Regierung entscheiden. Der Präsident besitzt ein Vetorecht und kann strategische Schachzüge der Regierung wirksam lähmen. In der aktuellen politischen Situation in Polen gewinnen diese Kompetenzen besondere Bedeutung im Bereich der Justiz, der kurz nach den Wahlen zu dem wichtigsten politischen Schlachtfeld wurde.

Auf den Gleisen ins Ungewisse

Die Konfrontation auf dem Feld des Justizwesens ist nicht nur außerordentlich schädlich für das politische System in Polen, sondern auch in ihrem Ergebnis vollkommen unvorhersehbar. Einerseits erfordert die polnische Justiz nach landläufiger Meinung Korrekturen, und dieses Thema anzugehen, wird von der öffentlichen Meinung unterstützt, die dem polnischen Gerichtswesen skeptisch gegenübersteht. Andererseits ruft es bei niemandem Begeisterung hervor, wie die parlamentarische Mehrheit hier konkret vorgeht. Auf Seiten der Opposition gibt es praktisch niemanden, der die eingeleiteten Maßnahmen unterstützen würde (auch wenn er die Justiz in ihrer aktuellen Ausprägung kritisch sieht). Auch im Regierungslager fehlt es nicht an mehr oder weniger deutlichen Stimmen, dass die angewandte Strategie zu keinen Lösungen führen werde. Der kampflustigste Teil der Regierungsunterstützer, mit engagierten Tageszeitungen an der Spitze, erfreut sich an dem Konflikt mit dem Justiz-Establishment, aber das ist ein sehr schwaches Argument für die vorgeschlagenen und bereits eingeführten Reformen.

In den letzten vier Jahren war es nicht gelungen, in den Gerichten etwas anderes zu erreichen als Konflikte und Chaos. Die regierende Mehrheit hat nun einen deutlich größeren Einfluss auf die Besetzung der Richterposten, insbesondere in den leitenden Funktionen. Der Preis dafür ist allerdings die permanente Auseinandersetzung mit den europäischen Institutionen und dass die Mehrheit der Richter miteinander im Konflikt steht (was sogar Personen betrifft, die vorher für PiS-Sympathisanten gehalten bzw. zumindest nicht generell zu ihren Gegnern gezählt wurden). Außerdem führen juristische Interessengruppen in dem Bewusstsein der Unterstützung von Seiten der europäischen Institutionen mit allen Mitteln einen entschlossenen Kampf gegen die von der regierenden Partei forcierten Lösungen. Aufgrund dieser Gemengelage denkt die PiS nicht daran, irgendein Zugeständnis zu machen, und verfolgt die allerhärteste Linie, wobei sie von Präsident Andrzej Duda unterstützt wird. Angesichts der bevorstehenden Präsidentenwahlen scheint dies eine recht seltsame Strategie zu sein.

Im Regierungslager herrscht die Überzeugung vom unvermeidlichen Sieg Andrzej Dudas. Für dieses Szenario spricht eine ganze Reihe von Faktoren, insbesondere aber, dass Präsident Duda einen deutlichen Vorsprung in den aktuellen Meinungsumfragen hat. Die Opposition ist zerfasert und ihren Präsidentschaftskandidaten fehlt entweder die Entschlossenheit oder die Erfahrung, oder aber ihre Unterstützerbasis ist deutlich begrenzt. Zusätzlich gibt die ganze politische Maschinerie – die Aktivisten, die sozialen Medien und die Kontrolle der öffentlichen Medien – der regierenden Partei außerordentlichen Rückhalt. Auch der Präsident ist sehr aktiv, fährt Polen längs und quer ab und wird überall herzlich empfangen. Es ist zu vermuten, dass die Teilnehmer dieser Auftritte vor allem PiS-Anhänger sind, trotz vorangegangener zwar nicht zahlreicher, aber sichtbarer Konflikte zwischen Duda und der Partei.

Dies sind wesentliche Argumente und würde man hier einen Punkt setzen, ließen sich die Ergebnisse für die Präsidentenwahlen als schon vorhergesagt abhaken. Es mangelt aber auch nicht an Argumenten, die ein anderes Ergebnis nahelegen und das für die PiS optimistische Szenario in Frage stellen. Vor allem die Abstimmung in zwei Wahlgängen bewirkt, dass der Größenunterschied der Unterstützung für den ersten und den zweiten Kandidaten im ersten Wahlgang das endgültige Ergebnis des Wahlausgangs keineswegs vorwegnimmt. Die Wahl in zwei Schritten erfordert den Zusammenschluss der Opposition und ihre Sammlung um einen Kandidaten. Der Wahltermin im politischen Kalender (die Selbstverwaltungswahlen als die nächsten regulären Wahlen finden erst 2022 statt) könnte die Wähler der Opposition stärker mobilisieren als die Anhänger der regierenden PiS. In dieser Hinsicht erinnert die Situation in Polen an die amerikanischen midterms, in denen es der regierenden Partei gewöhnlich schlechter ergeht als der Opposition.

Eine weitere Warnung sind die Ergebnisse der Senatswahlen im Oktober 2019. Ein Grund für den Erfolg der Opposition war, dass man sich in einem großen Teil der Wahlkreise auf gemeinsame Kandidaten geeignet hatte; insofern besteht hier eine Ähnlichkeit zu dem zweiten Wahlgang der Präsidentenwahlen, in dem jeder Wähler nur zwischen dem Kandidaten des Regierungslagers und dem der Opposition wählen muss. Wenn man das Ergebnis der Wahlkreise mit zwei Kandidaten auf das ganze Land überträgt, zeigt sich, dass die regierende Partei mit 47,5 % der Wähler rechnen kann, die Opposition dagegen mit 52,5 %. Dies würde auf den erwartbaren Erfolg der Opposition im zweiten Wahlgang der Präsidentenwahlen hindeuten.

Schließlich noch ein letztes Argument, das vielleicht am wenigsten sachbezogen ist, aber dafür die Vorstellungskraft anspricht. Genau so einen Vorsprung, wie ihn heute Andrzej Duda hat, hatte vor fünf Jahren der damalige Präsident Bronisław Komorowski aus den Reihen der PO. Er war ebenfalls davon überzeugt, dass sein Sieg selbstverständlich sei und die Konkurrenz viele Schwächen habe, und ähnlich wie jetzt herrschte im damaligen PO-PSL-Regierungslager die Überzeugung, dass auch eine geringe Mobilisierung der Unterstützer ausreichen würde, um den Sieg im ersten Wahlgang zu holen. Der Unterschied zu heute ist nur, dass jetzt bereits bekannt ist, wie die ganze Geschichte damals ausging.

Die Position der PiS vor den Präsidentenwahlen

Eine ganz wesentliche Rolle für Andrzej Dudas Chancen spielt die Situation innerhalb der PiS. Wenn er auch formal das Staatsoberhaupt ist, ist er bei der Bewerbung um die Wiederwahl doch vollkommen von seiner Partei abhängig, sei es finanziell oder organisatorisch. Nichts jedoch weist darauf hin, dass die führenden Köpfe des Regierungslagers seine Interessen so sehr berücksichtigen werden, wie er ihre Interessen berücksichtigt. Seine Position wird durch eine gewisse stabile Schwäche charakterisiert. Theoretisch könnte sie nach seinem Wahlsieg im Jahr 2015 deutlich stärker sein, als sie tatsächlich ist. Einerseits waren das seine Entscheidung sowie seine Loyalität gegenüber seinem politischen Lager. Weder hatte er eigene Ideen für konkrete Aktivitäten noch war er imstande, Menschen um sich zu versammeln, die solche Ideen gehabt hätten.

Hinter seiner zweitrangigen Position stehen andererseits aber auch die persönliche Einstellung und das Handeln Jarosław Kaczyńskis, der große Anstrengungen unternahm, die Position Dudas zu beschneiden. Dies ging nicht so weit wie einst im Falle der damaligen Ministerpräsidentin aus den Reihen der PiS, Beata Szydło, die in der Landespolitik vollständig isoliert war. Präsident Duda ist kraft seines Amtes davor geschützt, jedoch ist seine persönliche Position im Regierungslager schwächer als die von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, Justizminister Zbigniew Ziobro oder Wissenschaftsminister Jarosław Gowin. Hinzu kommt die ins Wanken geratene Haltung des Präsidenten selbst. Vor zwei Jahren stellte er sich als Repräsentant des gemäßigten Flügels der PiS dar. Heute äußert er sich bei seinen zahlreichen Auftritten vor Parteiaktivisten im ganzen Land in einer Weise, die genau zur Hauptströmung der PiS und ihren radikalen Positionen passt. Dem Präsidenten würde es mehr dienen, wenn das Regierungslager seine Politik an die Erklärungen von Ministerpräsident Morawiecki in seinem Exposé vom Herbst 2019 anpassen würde, in dem sich dieser in allen möglichen Formen auf die »Normalität« berief. Dessen Äußerungen werden durch die Logik, wie die PiS funktioniert, zunichte gemacht, nämlich durch die Unterordnung unter Jarosław Kaczyńskis Vision der Wirklichkeit, durch dessen Bedürfnis nach persönlicher Kontrolle und sein haltloses Streben nach Konflikten sowie durch die Genugtuung aufgrund des Widerstands der als feindlich erachteten Kräfte. Es scheint, dass im Falle der PiS ein Bestandteil der vom Ministerpräsidenten so unterstrichenen Normalität das Bedürfnis ist, Konflikte aufrechtzuerhalten und sich deutlich von der anderen Seite zu unterscheiden. Vielleicht wäre das sinnvoll, wenn das Regierungslager eine so vernichtende Mehrheit über die Opposition hätte, wie es in Ungarn der Fall ist. In Polen sieht es indessen anders aus und dies wird immer offensichtlicher. In dieser Konstellation kann das Anheizen von Konflikten eine Niederlage in den Wahlen heraufbeschwören, bei denen es der Opposition nicht um eine so große Ausdifferenzierung geht wie üblicherweise bei Parlamentswahlen.

Das Kaleidoskop der Kandidaturen

Die Präsidentschaftskandidaten der Opposition sind bereits alle bekannt. Der schwächste von ihnen ist Krzysztof Bosak, Kandidat der Konföderation. Diese Kandidatur hat ganz klar überhaupt keine Chancen, in den zweiten Wahlgang zu kommen, vom Sieg ganz zu schweigen. Sie dient allein dazu, die Präsenz dieser Partei zu unterstreichen. Gleichzeitig zeigen anonyme Kommentare aus den Reihen der Regierungspartei, dass Andrzej Duda vor dem zweiten Wahlgang um diese rechtsgerichteten Wähler kämpfen will.

Andrzej Dudas wichtigste Gegnerin ist Małgorzata Kidawa-Błońska von der PO. Ihre Kandidatur ist zum Teil ein Erbe von Grzegorz Schetyna, dem Parteiführer, der unlängst aus diesem Amt ausschied. Schetyna, der seine von politischen Kommentatoren häufig herausgestellten Schwächen wie fehlendes Charisma und niedrige gesellschaftliche Vertrauenswerte kennt, hatte sie vor den Sejmwahlen plötzlich als Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin vorgestellt. Nicht ohne Bedeutung war, dass ihre Führungsqualitäten nie betont wurden. In den Wahlen für den Parteivorsitz hat niemand je ihre Kandidatur in Betracht gezogen und niemand bemühte sich um ihre Unterstützung. Jetzt ist es allerdings zu spät für einen Kandidatenwechsel.

Die Situation in der PO hat sich unterdessen insofern geklärt, als die Angelegenheit der Parteiführung eindeutig entschieden wurde. Der Sieg von Borys Budka ist unstrittig und das eröffnet die Chance, die nach den Parlamentswahlen sichtbare Krise zu überwinden. Allerdings hat die PO einige strategische Probleme. Ihre inhaltliche Verfasstheit, die verschiedene ideologische Strömungen zusammenführt, sollte sie dazu bringen, deutliche ständige Schlagseiten zu vermeiden. Das Problem ist, dass die verschiedenen Flügel der PO, wenn sie sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, immer wieder auseinanderzudriften drohen. Wie überall auf der Welt sollten Parteien, die sich im Zentrum verorten und kein deutliches ideologisches Profil haben, ihre Stärke in Kompetenzen, allgemein akzeptierten Themen und organisatorischen Fähigkeiten suchen sowie darin, Konflikte zu lösen, anstatt sie anzuheizen. Es scheint jedoch so zu sein, dass das Entfachen von Konflikten durch die PiS bei einem wesentlichen Teil der PO-Wähler und -Anhänger das Bedürfnis weckt, die Gegenposition zu jeglichen Ideen der Regierungspartei einzunehmen. Auch das trägt zu den Schwierigkeiten der PO bei, eine kohärente Botschaft zu vermitteln.

Das größte Problem der PO ist im Grunde ihr fehlendes Selbstvertrauen. Dazu tragen zahlreiche politische Beobachter bei, deren Skepsis gegenüber der PO wiederum die Skepsis der Wähler deutlich übersteigt. Dabei würden einerseits Menschen mit eher linken Einstellungen entweder gern einen Linksruck der PO sehen oder überhaupt ein Bündnis analog zur Europäischen Koalition von 2019. Allerdings erwuchs aus diesem Projekt auch das eindeutige Signal, dass für einen wesentlichen Teil der Wähler ein so breites Bündnis nicht zu schlucken ist, auch wenn viele andere davon träumen. Letztlich bestimmen nicht die Enthusiasten einer vereinigten Opposition über das Wahlergebnis, sondern eben diejenigen, die einem solchen Unterfangen skeptisch gegenüberstehen.

Mit Blick auf die aktuellen Umfragen ist eines sicher – für die PO ist nicht die Linke eine Gefahr in den kommenden Wahlen. So weckt auch die Kandidatur von Robert Biedroń, der im vergangenen Jahr bei seinen Wahlkampfauftritten in Polen enthusiastisch gefeiert wurde, heute nicht mehr solche Emotionen. Biedroń war vor zehn Jahren der erste bekennende homosexuelle Abgeordnete und gewann 2014 überraschend die Wahl des Stadtpräsidenten von Stolp (Słupsk), einer mittelgroßen, weit von Warschau entfernten Stadt. Gestützt auf diesen Erfolg, unternahm er Anfang 2019 den Versuch, eine neue linke Partei, Frühling, zu gründen. In den Europawahlen erhielt sie 6 %, was unter den Erwartungen lag, andererseits gilt ein Mandat im Europäischen Parlament natürlich nicht als Niederlage. Frühling erwies sich als nicht geeignet, selbstständig zu existieren, und trat in eine breitere linke Koalition ein. Diese erkämpfte sich Sitze im Sejm, wo in der vorangegangenen Wahlperiode überhaupt keine Partei des linken Spektrums vertreten gewesen war. Das ist ein gewisser Erfolg, aber weit entfernt von den gemachten Versprechen. Der mäßige Erfolg animierte Biedroń nicht, die zuvor befürwortete Herausforderung einer Präsidentschaftskandidatur anzunehmen. Daher bedurfte es längerer Zeit, um ihn vom Antritt zu überzeugen, was seine Glaubwürdigkeit nicht gerade vergrößerte.

Auf dem Kampfplatz stehen noch zwei weitere Kandidaten. Der Parteichef der PSL, Władysław Kosiniak-Kamysz, der nicht die Probleme hat, die Małgorzata Kidawa-Błońska, Robert Biedroń oder Krzysztof Bosak drücken. Er ist der Vorsitzende seiner Partei, der einen überraschenden Erfolg in den Parlamentswahlen erlangt hatte und seine Position festigen konnte. Er musste keine Verhandlungen über seinen Antritt führen, gab er seine Kandidatur doch als erster bekannt. Ein Problem ist allerdings, dass sein letzter Wahlerfolg doch recht bescheidenen Ausmaßes war. Es war ein einstelliges Ergebnis, das vielleicht das Zünglein an der Waage hätte werden können, wenn sich die Situation im Sejm anders gestaltet hätte. Bei den Präsidentenwahlen herrschen jedoch andere Regeln. Zuerst muss man in den zweiten Wahlgang kommen und dafür ist eine mindestens doppelt so hohe Unterstützung notwendig wie die, die Kosiniak-Kamysz zurzeit hat. Tatsächlich müsste sie wohl eher dreimal so hoch sein. Dafür wäre ein radikaler Stimmungswechsel notwendig, doch es weist wenig darauf hin, dass die polnischen Wähler dazu bereit sind.

Eine zusätzliche Erschwernis ist für Kosiniak-Kamysz der letzte Kandidat von Bedeutung, Szymon Hołownia. Er ist ein katholischer Journalist, der seine christliche Orientierung in der Publizistik, in Büchern und bei Lesungen zum Ausdruck bringt und mit seiner Funktion als TV-Moderator in einer Talent-Show (Mam talent) verknüpfte. Er versucht, den Weg zu wiederholen, den bereits einige Kandidaten, die nicht aus der Politik kamen, beschritten haben. In Polen ist es bisher noch nicht zu solchen Erfolgen gekommen wie zum Beispiel in der Slowakei, wo ein unabhängiger Kandidat in den Präsidentenwahlen den amtierenden Ministerpräsidenten hinter sich ließ. Trotzdem ist dieses Projekt schon ausgebrannt und nun ist es nicht so einfach, sich aus ihm zurückzuziehen bzw. es weiterzuentwickeln. Nicht alle waren von einer solchen Kandidatur begeistert. Hołownia fehlt die Erfahrung für harte Debatten und die Nuancen der Politik, was einen Teil der unabhängigen Aktivisten und erfahrenen Wähler entmutigen könnte, die die Basis seines Erfolges sein könnten. Es bleibt abzuwarten, welche Chancen er in Fernsehdebatten hat.

Es steht zu vermuten, dass Andrzej Duda an solchen Debatten vor dem ersten Wahlgang nicht teilnehmen wird, was den übrigen Kandidaten mehr Möglichkeiten gibt, ein Profil zu entwickeln. Wenn theoretisch einer der beiden übrigen Kandidaten, die auf die gemäßigte Wählerschaft zielen, also Kosiniak-Kamysz und Hołownia, sich zurückziehen würde, wäre die Unterstützung für Kidawa-Błońska schon größer. Allerdings ist der Unterschied zu Duda immer noch deutlich. Kidawa-Błońska ist die wahrscheinlichste Gegnerin von Andrzej Duda, doch können hier auch Überraschungen eintreten. Aktuell ist es schwer zu beurteilen, denn bei den Wahlen treten zu viele sympathische Menschen an, als dass der Sympathiefaktor von größerem Gewicht sei. Das hat zur Folge, dass das Schicksal der vier wichtigsten Kandidaten – Kidawa-Błońska, Biedroń, Kosiniak-Kamysz und Hołownia – von organisatorischen Fragen abhängen könnte, und dann wäre Kidawa-Błońska unstrittige Favoritin. Doch ebenso wenig wie Duda ist sie Vorsitzende ihrer Partei. Die Situation erinnert vielleicht an Österreich 2016, als die Kandidaten der beiden dominierenden und in der Politik den Ton angebenden Parteien es nicht in den zweiten Wahlgang schafften. In diesen kamen die Vertreter zwei kleinerer Gruppierungen. So oder so ist zu erwarten, dass sich die Wahlergebnisse einander sehr angleichen werden, deutlich mehr, als es die aktuellen Umfragen zeigen.

Wenn sich die Präsidentenwahlen im Sinne der regierenden Partei entscheiden, wird sich grundsätzlich nicht mehr viel ändern. Die Situation ist dann für sie insofern sicher, als die Amtsperiode des Präsidenten noch bis Mitte der kommenden Wahlperiode des Parlaments dauern wird. Sogar wenn die PiS nach der bevorstehenden langen Phase ohne Wahlen in den Parlamentswahlen 2023 verlieren würde, könnte sie viele ihrer Interessen durch das Vetorecht des Präsidenten weiterverfolgen. So gesehen, kann die PiS aktuell und auf kurze Sicht nicht viel gewinnen, aber umso mehr verlieren. Wenn die Präsidentenwahlen anders ausgehen würden und ein Kandidat oder die Kandidatin der Opposition Andrzej Duda hinter sich ließe, würde dadurch zwar nicht auch noch der Ministerpräsident der PiS ausgewechselt (wenn sich auch regierungsinterne Spannungen nicht ausschließen lassen). Es würde aber zu einer massiven Anfechtung der Legitimation und der rechtlichen Möglichkeiten kommen, weitere Reformen zu realisieren. Dies könnte zur Umsetzung dessen führen, was der Ministerpräsident selbst in seinem Exposé ankündigte, in dem er den Begriff »Normalität« in allen Variationen durchdeklinierte. Gegenwärtig ist von dieser Normalität nicht viel geblieben, auch wenn sich die politische Energie vor allem auf die Justizreformen konzentriert.

Die Lage in den bevorstehenden Präsidentenwahlen ist nicht symmetrisch. Die PiS zählt darauf, dass dieser Wahlepilog nur der Abschluss der Erzählung über ihren großen Erfolg im Jahr 2019 sein wird. Für die Opposition wäre ein möglicher Sieg keinesfalls nur ein Trostpreis angesichts der kommenden Jahre auf den Oppositionsbänken im Sejm. Er wäre in dieser Politserie die wesentliche Wendung der Handlung im letzten Teil der zu Ende gehenden Staffel. Die Serie selbst jedoch endet keineswegs, wenn auch die in ihr spielenden Akteure zu überzeugen versuchen, dass jedes neue Gefecht immer ein Kampf um alles ist.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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