Newsweek, Marcin Chłopaś: Wissen Sie bereits – ähnlich wie die Parteivorsitzenden [Jarosław] Kaczyński und [Jarosław] Gowin – welche Entscheidung das Oberste Gericht in der Angelegenheit der Präsidentenwahlen am 10. Mai [2020, d. Übers.] treffen wird?
Prof. Adam Strzembosz: Ich habe mir nicht angewöhnt, mich über zukünftige Gerichtsurteile zu äußern. Ich sehe allerdings, dass die Leitung des »guten Wandels« [so das Schlagwort der Regierung für ihren ideologisch motivieren Umbau politischer und gesellschaftlicher Bereiche, d. Übers.] ein Problem zu lösen versucht, indem sie davon ausgeht, dass die Staatliche Wahlkommission gehorsam einen entsprechenden Antrag an das Oberste Gericht stellen wird und als nächstes das Oberste Gericht gehorsam […] innerhalb von wenigen Tagen das Urteil fällen wird, dass die Wahlen ungültig sind. Das Problem besteht darin, dass das Oberste Gericht jedoch über die Gültigkeit der Wahl eines konkreten Kandidaten zu urteilen hat.
Worin besteht der Unterschied?
Wenn die Wahlen mit der Methode durchgeführt werden würden, die forciert wurde [das ist die obligatorische Briefwahl, d. Übers.], und beispielsweise Andrzej Duda für die nächste Amtszeit gewählt würde, könnte das Oberste Gericht sagen: Die Wahlen waren nicht allgemein, nicht gleich, nicht geheim. Und dementsprechend ist diese Wahl falsch und kann man sie nicht akzeptieren. Allerdings wird es hier nicht dazu kommen, dass irgendjemand gewählt wird. Meiner Meinung nach hat das Oberste Gericht nichts dazu zu sagen, denn es äußert sich nicht zu der Frage der korrekten Durchführung des Wahlprozedere, sondern dazu, ob eine konkrete Person korrekt gewählt wurde. Die Rolle des Gerichtes kann nicht von einem Tag auf den anderen geändert werden. Es gibt eine andere Lösung, doch ich werde sie hier nicht nennen, denn das ist nicht meine Aufgabe. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass das Gericht über seine Befugnisse hinausgeht, aber es wird natürlich so urteilen, wie es meint. Ich denke, wenn es anders entscheiden will, als das Verfahren einzustellen, wird es sich das lange überlegen.
Und glauben Sie zurzeit an die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtes?
Drei Kammern haben gezeigt, dass sie unabhängig sind. Wir werden uns erst noch von der Kammer überzeugen, die jetzt über die Gültigkeit des Wahlprozedere urteilen soll. Wie sie sich verhalten wird, weiß ich nicht. Das wird für sie eine sehr große Prüfung werden. Der Status dieser Richter wird von der Haltung der drei Kammern des Obersten Gerichtes und den Anweisungen des Urteils des EuGH infrage gestellt.
Viele Menschen berufen sich auf den gesunden Menschenverstand und sagen: Wenn die Wahlen nicht stattgefunden haben, dann sind sie auch nicht gültig.
Wir sprechen jetzt zu einem Zeitpunkt, an dem das Gesetz über die [obligatorische, d. Übers.] Briefwahl durch das Parlament gegangen ist, es der Präsident aber nicht unterzeichnet hat. In diesem Fall haben wir jetzt gar keine Vorschriften, die die Abstimmung regeln, denn das vorige Gesetz – der »Antikrisenschild 2.0« [Gesetzespaket zur Bewältigung der Folgen der Corona-Epidemie, d. Übers.] – hat ein anderes Wahlprozedere [die Möglichkeit sowohl des Urnengangs als auch der Briefwahl, d. Übers.] verabschiedet. In diesem Falle frage ich: Was ist überhaupt passiert? Es gab da irgendetwas, aber der letzte, der wichtigste Wahlakt, das ist die Abstimmung selbst, hatte keine rechtliche Regulierung. Wenn der Präsident das Gesetz über die [obligatorische, d. Übers.] Briefwahl nicht unterzeichnet, womit soll sich das Oberste Gericht dann befassen? Mit dem Wahlprozedere, dass eingeleitet wurde, aber teilweise keinen rechtlichen Rahmen hatte und überhaupt nicht zu Ende geführt wurde?
Und was wäre in dem Falle, dass der Präsident das Gesetz über die Briefwahl unterzeichnet und es veröffentlicht wird?
Wenn das Gesetz in Kraft träte, könnte man anerkennen, dass es rechtliche Grundlagen für die Abstimmung gibt, sie aber nicht stattgefunden hat. Zumindest wäre dann festgelegt, wie sie hätte verlaufen sollen.
Das wäre eine bessere rechtliche Lage?
Eher eine schlechtere, denn in der Praxis würde sich zeigen, dass zwei Herren außerhalb des rechtlichen Rahmens beschlossen haben, dass die Wahlen nicht stattfinden werden. Sie haben Vorschriften verabschiedet, sind aber von vornherein davon ausgegangen, dass sie sie nicht umsetzen werden. So etwas kann nur in einem Land geschehen, in dem nicht das Recht gilt, sondern nur die Anweisungen bestimmter Personen. Hier ist eine Reihe von Personen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen sowie auch verfassungsrechtlich vor dem Staatsgerichtshof. Diesbezüglich habe ich keine Zweifel.
Auf welcher Seite liegt jetzt die Verantwortung für die nicht durchgeführten Wahlen?
Das ist eine sehr umfassende Frage. Das Gesetz über die Briefwahl wurde nicht vom Präsidenten unterzeichnet, also existiert es nicht. Das heißt, die Wahl soll eigentlich am 10. Mai stattfinden und durchführen soll sie eigentlich die Staatliche Wahlkommission. Das kann sie aber nicht, denn mit dem voherigen Gesetz, dem »Antikrisenschild 2.0«, das der Präsident unterzeichnet hat und das in Kraft getreten ist, wurden der Staatlichen Wahlkommission die entsprechenden Befugnisse entzogen. Das Gesetz hat der Staatlichen Wahlkommission Kompetenzen abgesprochen, also wurde sie nicht tätig. Es hat jemand anders gehandelt: ein Minister der PiS-Regierung [Jacek Sasin, d. Übers.]. Wenn man der Staatlichen Wahlkommission Befugnisse entzieht und sie selbst übernimmt, dann ist man für das Wahlprozedere verantwortlich. Das haben keine Wichtel gemacht, sondern konkrete Menschen.
Sollen sie nur dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass sie die Wahlen nicht durchführen?
Nicht nur. Wir haben auch das Problem der Umsetzung des Gesetzes vor seinem Beschluss, also den Verstoß, dass viele Millionen Zloty umsonst ausgegeben wurden, denn schließlich darf jede Institution und insbesondere eine Behörde nur dann tätig werden, wenn es dafür eine rechtliche Grundlage gibt. Sie kann nicht in der Erwartung handeln, dass sich irgendwann die Grundlage für ihr Handeln finden wird. Dafür ist man verantwortlich: für das vergeudete Geld, für den Machtmissbrauch, für die Nichterfüllung der Pflichten.
Sie mussten so handeln, weil die Bedingungen schwierig waren, weil sie für den »Festtag der Demokratie« kämpften, für die Wahlen und weil es nicht leicht war.
All das, was geschehen ist – von der Änderung des Wahlgesetzes zu einem Zeitpunkt, der nicht früher als ein halbes Jahr vor den Wahlen liegt [laut Verfassung darf die Wahlordnung sechs Monate vor den Wahlen nicht mehr geändert werden, d. Übers.], bis zum Entzug von Befugnissen der Staatlichen Wahlkommission –, lässt sich noch mit einem Notstand erklären. Aber nur dann, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Aber den gab es, ganz einfach: den Katastrophenzustand verhängen. Das wurde nicht gemacht, und dafür sollte sich auch jemand verantworten. Den Bürgern wurde ohne rechtliche Grundlage eine Reihe von Bürgerrechte entzogen – das Verbot, das Haus zu verlassen, Versammlungsrecht, Demonstrationsrecht. Bürgerrechte kann man im Katastrophenzustand aussetzen, aber nicht aufgrund einer Verordnung oder eines Gesetzes.
[…]
Wie beurteilen Sie die Anfrage von Sejmmarschallin Elżbieta Witek an das Verfassungstribunal bezüglich der Möglichkeit, den Wahltermin zu verschieben?
Es gab keinerlei Grundlage für diese Anfrage und das Verfassungstribunal hat keine rechtliche Grundlage, die Verfassung zu ändern, die deutlich festlegt, dass der Sejmmarschall den Wahltermin bestimmt und daraufhin das Wahlprozedere beginnt. Man kann das nicht einfach verschieben, weil es technische Probleme gibt. Und man kann nicht einmal das Verfassungstribunal danach fragen, denn es hat keine solchen Befugnisse.
[…]
Meinen Sie wirklich, dass die ganze Angelegenheit mit den Wahlen Polen so sehr schadet?
Ja. Hinzu kommt, dass dieses Theater uns in ganz Europa und vielleicht auch in der ganzen Welt kompromittiert. Es kann zu einem Verlust des Vertrauens nicht nur in die Regierung, sondern auch in das ganze Rechtssystem führen. Mich haben Menschen angerufen, die in die PiS [die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość, d. Übers.] verliebt sind. Sie fragen: Was ist passiert, warum gibt es keine Wahlen? Und ich sage: Weil zwei Herren bestimmt haben, dass sie nicht stattfinden werden. Ohne den Sejm, ohne den Senat, ohne die Regierung, ohne alles. Zwei Herren haben das ganz einfach so verabredet.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Das Interview wurde für Newsweek.pl geführt.
Quelle: Adam Strzembosz: Układ Kaczyńskiego z Gowinem otwiera poważną furtkę do podważania wyników następnych wyborów. Interview auf Newsweek.pl, 08.05.2020. https://www.newsweek.pl/polska/wybory-prezydenckie-2020-adam-strzembosz-o-nastepnych-wyborach-prezydenckich/x9kvjz4 (abgerufen am 27.05.2020).
Erlaubnis für Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Newsweek.pl