»Wir können nichts dafür und sind doch verantwortlich«, hat einst Hermann Hesse geschrieben. Heute messen wir uns mit der größten Krise der öffentlichen Gesundheit, der größten sozialen und wirtschaftlichen Krise der letzten Jahrzehnte. Und auch wenn niemand den Ausbruch der Pandemie voraussagen und verhindern konnte, so hängt es doch in großem Maße von uns ab, wie ihre Folgen sich langfristig auswirken.
Wirtschaftsfachleute verweisen darauf, dass China vor der größten wirtschaftlichen Verlangsamung seit mehreren Jahrzehnten steht, in den Vereinigten Staaten kann die Arbeitslosenquote sogar 20 Prozent erreichen. Die größten Volkswirtschaften der Welt wollen im Rahmen ihrer Fiskalpakete 4,8 Billion Dollar für den Kampf mit den Folgen von Covid-19 ausgeben. Die Beträge sind fast dreimal so hoch wie diejenigen, die während der Finanzkrise von 2007 bis 2009 bewegt worden sind.
Daher brauchen wir heute mehr als je zuvor ein Europa der Solidarität – mit einem ehrgeizigen Budget und einem neuen, wiederhergestellten Gleichgewicht. Das Funktionieren der EU muss von dem Ehrgeiz angetrieben werden, zum Schutz des integrierten europäischen Marktes solidarisch wirtschaftlich zusammenzuarbeiten.
Wir müssen uns bewusst sein, dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, einen existentiellen Charakter haben. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um die europäischen Träume, Pläne und Ambitionen zu retten. Das ist eine unglaublich schwierige Aufgabe, denn sie erfordert ein gleichzeitiges Handeln auf vielen Ebenen. Die Wirtschaft und das Gesundheitswesen brauchen jetzt dringend einen Rettungsplan. Bereits heute sollten wir die wichtigsten Grundsätze des neuen europäischen Gleichgewichts zeichnen.
Die Coronavirus-Pandemie hat uns die Zerbrechlichkeit unserer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung brutal verdeutlicht. Sie zeigte uns etwa, wie sehr Europa von den Lieferketten aus anderen Kontinenten abhängig ist. Auf der Suche nach Einsparungen und zur Senkung der Herstellungskosten haben viele europäische Unternehmen ihre Fertigungsprozesse in asiatische Billigregionen verlegt und dadurch die einheimischen Versorgungsquellen vernachlässigt.
Heute scheint uns die finanzielle Disziplin, die von der Europäischen Kommission verfolgt wurde, als tückisch. Sie hat die Mitgliedstaaten zu schwierigen Entscheidungen gezwungen, die oft zur Senkung öffentlicher Ausgaben für das Gesundheitswesen führten. Aber das ist kein Grund zu Selbstmitleid, sondern Anlass, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Der erste Grundsatz des neuen europäischen Gleichgewichts sollte die Wiederherstellung der Fähigkeit sein, den Folgen solcher kollektiver Krisen entgegenzuwirken. Europa braucht ein umfassendes Maßnahmenpaket zur wirtschaftlichen Wiederbelebung und Stimulierung der europäischen Ökonomie. Notwendig ist unsere gemeinsame Zustimmung zu einem ehrgeizigen Mehrjährigen Finanzrahmen sowie die Vergrößerung der Eigenmittel, der Einnahmen der EU. Nur so können wir das Gleichgewicht wiederfinden, das durch innere Spaltungen und gegenseitigen Animositäten verlorengegangen ist.
Wir wissen zu schätzen, dass die EU ihren Mitgliedern die Voraussetzungen für die Krisenbekämpfung erleichtert hat – sie hat Instrumente zur Gewährleistung von Darlehen und flexiblere Nutzungsmodalitäten für Europäische Fonds geschaffen. Auch das Vergaberecht für öffentliche Beihilfen in Mitgliedstaaten wurde vereinfacht, und die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts sind zeitweise ausgesetzt worden. Die Mitgliedstaaten – der eine früher, der andere später – haben damit begonnen, Arbeitsplätze und Wirtschaft im Rahmen ihrer nationalen Haushalte zu retten. Aber damit Europa wieder zu Wachstum und Glanz zurückfindet, müssen wir gemeinsam mehr tun.
Wir müssen die Angst vor einem ehrgeizigen Budget ablegen. In der jetzigen Krise sind die für die Kohäsions- und Landwirtschaftspolitik bestimmten Mittel die effektivste Form der Hilfe durch die EU. Doch die Verschiebung von Mitteln im Rahmen bereits existierender Beträge ist nur ein Ersatz, eine kurzfristige Überlebenstaktik. Europa braucht eine Strategie für die Wiederherstellung seiner Position.
Die Union sollte ganz neue Finanzmittel (vielleicht im Rahmen des Fonds »Recovery«) für die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bereitstellen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass sich die Strategie der Austerität – der Sparkurs während der Krise von 2007 bis 2013 – nicht bewährt hat.
Wir sind immer noch in der komfortablen Lage, neue Finanzierungsquellen zu benennen. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer (FTT), der Digitalsteuer, einer Steuer auf den Import des CO2-Fußabdrucks aus Drittländern oder einer Single Market Fee (Binnenmarktgebühr) würde eine wertvolle Quelle eigener Erträge für die EU darstellen.
Eine weitere ungelöste Aufgabe ist die Bekämpfung der Steuerhinterziehungen. Die EU-Länder verlieren jährlich mindestens 200 Milliarden Euro durch grenzüberschreitenden Missbrauch der Steuersysteme (Mehrwertsteuer, Körperschaftsteuer, grauer Markt). Das ist mehr als der EU-Haushalt für dieses Jahr. Die Abschaffung von Steuerparadiesen ist europäische Staatsräson. Das sind enorme Reserven, die das finanzielle Potential Europas zeigen. Hier und jetzt müssen wir das Geld finden, um stark in Innovation, Infrastruktur und den Wiederaufbau vieler Glieder der Produktionskette in Europa zu investieren.
Die Vorsitzende der Europäischen Kommission hat kürzlich festgestellt: »Europa hat in den letzten vier Wochen mehr unternommen als in den ersten vier Jahren der letzten Krise«. Das ist wahr. Die Gemeinschaft bietet heute präzedenzlosen Herausforderungen die Stirn. Aber dies ist immer noch der erste Kilometer des Marathons, der uns bevorsteht. Die Art und Weise, wie wir mit den Folgen der Pandemie zurechtkommen, wird die EU neu definieren. »Die Zukunft beginnt heute, nicht morgen«, pflegte Papst Johannes Paul II. zu sagen. Die Zeit für uns, zu handeln, ist jetzt.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2020. S. 8.
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